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Ist die israelische Regierung antisemitisch?

Von Yehuda Bauer, Haaretz,
30. August 2017, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. Wenn es
um die Behandlung liberaler Juden in den USA und Israel geht, so könnte dies
wirklich zutreffen. (Bilder von Tlaxcala)



In der westlichen Welt, wenn auch
in den weniger lobenswerten Teilen, gilt der Verstoß gegen die Rechte der
religiösen Juden, gemäß ihren eigenen Sitten zu beten, als ein klares Zeichen
von Antisemitismus. Es ist bekannt,  dass
die israelische Regierung von der Vereinbarung zurückgetreten, die
nicht-orthodoxen Juden die Erlaubnis erteilt hatte, im Bereich des südlichen Endes
der Westlichen Mauer zu beten – diese gehört nicht zum Bereich, der von den
orthodoxen und ultra-orthodoxen Juden kontrolliert wird. Können wir somit
behaupten, dass die israelische Regierung eine antisemitische Politik verfolgt?

Es stimmt, dass die westliche Mauer an sich schon eine komplizierte
Angelegenheit ist. Sie wurde auf Anordnung von Herodes errichtet – für die
Römer ein Lakai und mörderischer Despot – und diente als externe Mauer des Hofs
des Tempelberges. Der späte Jeshajahu Leibowitz bezeichnete das Beten an der
Kotel und die Einführung von Notizen zwischen ihren Steinen als einen
heidnischen Kult und die Verehrung toter Steine. Das Gebet an der westlichen
Mauer ist in der Tat ein an Steine gerichtetes Gebet. Eine religiöse Person
kann somit nicht wirklich glauben, dass ihr Gott ihr Gebet, das sie an die
Steine richtet, mehr erhört als das an jeglichem anderen Ort verrichtete Gebet.
Dennoch sehen die liberalen religiösen Juden die Angelegenheit nicht so und
akzeptieren die problematische Anschauung der Orthodoxen, dass es sich hierbei
um eine heilige Stätte handelte. Man kann sich natürlich fragen, ob die
Tatsache, dass der Tempel vor 1943 Jahren in einer gewissen Entfernung von
dieser Mauer stand, diese Steine wirklich heilig macht und ob eine solche
Anschauung Teil einer jeglichen religiösen jüdischen Auffassung sein kann.
Anscheinend nicht, aber in der Praxis ist es überraschend so.

Auf jeden Fall ist der Beschluss, der den liberalen Juden verbietet, hier zu
beten, wie ein Schlag ins Gesicht – von Seiten einer Regierung, die sich für
jüdisch hält, aber von Haredim und religiösen Zionisten kontrolliert wird – gegen
die Mehrheit der Menschen, die sich weltweit als Juden identifizieren.

Joseph Rank

Welcher ist nun der politische Hintergrund dieser Situation? Orthodoxe
Zionisten und Haredim machen  ungefähr
10% des Weltjudentums aus. In Israel machen diese beiden religiösen Gruppen,
den Daten und Umfragen zufolge, ungefähr 21% der israelischen Juden aus (40%
sehen sich als säkular und der Rest bezeichnet sich als traditionell, mit
verschiedenen Stufen der Befolgung der religiösen Regeln).
Die Vertreter der beiden ultra-orthodoxen Parteien in der Knesset (Shas und
Vereintes Thora-Judentum) besetzen 13 Sitze, während die religiös-zionistische Habayit
Hayehudi acht hat – insgesamt sind das 21 (17,5%) aller israelischen
Abgeordneten. Verschiedenen Berichten zufolge gibt es weitere sieben
Abgeordnete, die sich für praktizierende Juden halten. Diese letzteren
entsprechen einer Gesamtanzahl von 28 (23,3%) aller Abgeordneten. Diese
Aufteilung spiegelt genau die Ergebnisse der oben angeführten Umfrage wieder.
So haben wir eine Situation, in der eine kleine Minderheit von Haredi und
religiösen, zionistischen Juden anderen Juden die Freiheit nimmt, ihre Religion
frei auszuüben.
Hinzu kommt, dass nicht-orthodoxe Juden in Israel weder heiraten noch
scheiden dürfen, es sei denn dies erfolgt in einem orthodoxen Kontext. Die
Beleidung der Mehrheit der weltweiten Juden und die Verweigerung des Rechtes
(nicht orthodoxer) Juden, ihre grundlegende Freiheit auszuüben und gemäß ihrer
Weltanschauung zu heiraten, sind ein einzigartiges Phänomen. Israel ist das
einzige westliche Land, in dem die Regierung solche antisemitische Standpunkte
vertritt.
Gleichzeitig erleben wir in den USA eine dramatische Zunahme des
Antisemitismus. Und hier leben ungefähr 6 Millionen Juden. Es ist
höchstwahrscheinlich, dass die derzeitige US-Regierung den latenten
Antisemitismus, der schon lange in den USA vorhanden ist, von seinen Fesseln
befreit hat. Und die Tatsache, dass ein Teil der Familie des Präsidenten Donald
Trump jüdisch ist, macht hier keinen Unterschied. Neben seiner Tochter und
seinem Schwager gibt es in der Trumpregierung einen jüdischen Finanzminister
und einen jüdischen Wirtschaftsexperten. Es ist kein neues Phänomen, das
Antisemiten gegen Juden nutzen, weil es für sie aus verschiedenen Gründen
bequem ist. Dies verhindert aber nicht die Verbreitung des Antisemitismus.
Das US-Judentum, das größtenteils, ob nun in seiner religiösen oder
politischen Auffassung, liberal ist, befindet sich in einer sehr schwierigen
Lage: In Charlottesville demonstrierten  die
Rassisten und Neonazis nicht gegen die Schwarzen wie in der Vergangenheit,
sondern gegen die Juden (der Bürgermeister von Charlottesville ist Jude).
Trumps teilweise Identifizierung mit diesen Demonstranten („Es gibt gute Leute
auf beiden Seiten“) hinterließ ein Gefühl der Niederlage.
Dies wurde letzte Woche in der Erklärung der Organisationen der
reformistischen, konservativen und rekonstruktivistischen Rabbiner zum Ausdruck
gebracht. Sie werden sich weigern mit Trump zu sprechen, wenn er sie wie immer
einladen wird, um die baldigen religiösen jüdischen Festtage zu feiern. Der
orthodoxe Rabbinerrat der USA verurteilte zwar die weißen Rassisten und ihre
Befürworter in Charlottesville, kündigte aber auch an, dass er sich nicht
weigern konnte, mit dem US-Präsidenten zu sprechen, wenn er ankündigte, sie vor
den wichtigen heiligen Festlichkeiten treffen zu wollen.
Die liberalen Juden der USA befinden sich in einer Zwickmühle: auf der
einen Seite die besorgniserregende Situation in ihrem eigenen Land – die
antisemitischen Demos mit der teilweisen Befürwortung des Präsidenten – und auf
der anderen Seite die Haltung der israelischen Regierung. Auf die können sie
sich nämlich auch nicht verlassen. Anstatt wie die europäischen Regierungschefs
die Rechtsradikalen in Charlottesville hart zu verurteilen, gab die israelische
Regierung nur eine kurze, oberflächliche Erklärung ab.

Und auch das ist nichts Neues. Die israelische Regierung reagierte auch mit schwachen
Erklärungen gegenüber den vor kurzem umgesetzten politischen Standpunkten der polnischen
und ungarischen Regierungen, die das antisemitische Verhalten bestimmter Bürger
(Polen) oder der Regierung (Ungarn) während des Holocausts rechtfertigten. Es
liegt kein Verschulden des israelischen Außenministeriums vor, in dem die
Mehrheit der Mitarbeiter Experten auf diesem Gebiet sind und ihr Bestes geben –
im Besonderen im Kampf gegen den Antisemitismus – auch wenn sie von oben weder
finanziert noch unterstützt werden. Wir stehen hier vor einer
Regierungspolitik, die wirtschaftliche und Sicherheitsinteressen vertritt.

Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die israelische Regierung antisemitisch
ist. Aber es wäre wahrscheinlich kein Fehler zu behaupten dass diese Regierung
eine Politik umsetzt, die sich gegenüber der großen Mehrheit der Juden klar
antisemitisch positioniert.



Nick D. Kim