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Nein, Herr Präsident, Antizionismus ist keine „wieder erfundene Form des Antisemitismus“! Offener Brief an Emmanuel Macron


By Shlomo Sand, Übersetzt von A.W., herausgegeben
von Fausto Giudice, Tlaxcala,
18. August 2017. Als ich begann, Ihre Rede anlässlich des Gedenkens an die Razzia
des Wintervelodroms
zu lesen, war ich Ihnen dankbar. Angesichts der
langen Tradition politischer Führer von Links und Rechts in Vergangenheit und
Gegenwart, die Frankreichs Beteiligung und Verantwortlichkeit für die
Deportation jüdischstämmiger Menschen in die Todeslager leugnen, war ich
dankbar, dass Sie stattdessen eine klare Position bezogen, ohne
Doppeldeutigkeit: 


8000 der 13000 Juden, die am 16. und 17. Juli 1942 von der franz. Polizei
und Gendarmerie verhaftet wurden, wurden im Wintervelodrom gesammelt, bevor
sie nach Auschwitz deportiert wurden.
 Ja, Frankreich ist für die Deportation
verantwortlich, ja, es gab Antisemitismus in Frankreich vor und nach dem
Zweiten Weltkrieg. Ja, wir müssen alle Formen des Rassismus‘ bekämpfen. Ich
sah diese Positionen in der Kontinuität Ihrer mutigen Aussage in Algerien,
als Sie sagten, dass Kolonialismus ein Verbrechen gegen die Menschheit
darstelle.
Aber um ganz ehrlich zu sein,
war ich verärgert darüber, dass Sie Benjamin Netanjahu eingeladen hatten. Er
sollte zweifellos in die Kategorie der Unterdrücker gehören, also kann er
sich nicht als Vertreter der Opfer der Vergangenheit inszenieren. Natürlich
weiß ich seit langem von der Unmöglichkeit, das Gedenken von der Politik zu
trennen. Viel – leicht verfolgten Sie eine ausgefeilte Strategie, die Sie
noch enthüllen müssen und die auf einen Beitrag zur Umsetzung eines gerechten
Kompromisses im Nahen Osten abzielt?

Ich konnte Sie nicht mehr verstehen, als Sie im Verlauf  Ihrer Rede
sagten, dass „Antizionismus […] eine wieder erfundene Form des
Antisemitismus“ sei. Wollten Sie mit dieser Aussage Ihren Gast
zufriedenstellen, oder ist sie einfach nur ein Anzeichen  des Mangels
politischer Kultur? Hat der ehemalige Student der Philosophie, der Assistent
Paul Ricœurs, so wenige Geschichtsbücher gelesen, dass er nicht weiß, dass
viele Juden oder Nachkommen jüdischen Erbes immer gegen den Zionismus waren,
ohne dass sie das zu Antisemiten gemacht hat? Hier verweise ich auf all die
alten bedeutenden Rabbiner, aber auch auf die Haltung, die von einem Teil der
gegenwärtigen orthodoxen Juden eingenommen wird. Und ich erinnere an Menschen
wie Marek Edelman, einen der entkommenen Anführer des Aufstands im Warschauer
Ghetto, oder die Kommunisten jüdischer Herkunft, die in der französischen
Resistance in der Manouchian-Gruppe, die ums Le ben kamen. Ich denke auch an
meinen Freund und Lehrer Pierre Vidal-Naquet und andere großartige Historiker
und Soziologen, wie Eric Hobsbawm und Maxine Rodinson, deren Schriften und
Erinnerung mir so lieb sind, oder auch Edgar Morin. Und letztlich frage ich
mich, ob Sie ernsthaft von den Palästinensern erwarten, dass sie keine
Antizionisten sind!



Gleichwohl vermute ich, dass Sie weder die Linken noch vielleicht die
Palästinenser sonderlich wertschätzen. Da ich aber weiß, dass Sie in einer
Rothschild-Bank arbeiteten, will ich hier auf ein Zitat von Nathan Rothschild
verweisen. Als Präsident der Vereinigung der Synagogen in Großbritannien, war
er der erste Jude, der im Vereinigten Königreich zum Lord ernannt wurde, wo
er auch der Vorstand der Bank wurde. In einem Brief von 1903 an Theodor Herzl
schrieb der talentierte Bankier, dass er besorgt sei über den Plan, eine
„jüdische Kolonie“ zu errichten; sie „wäre wie ein Ghetto in einem Ghetto mit
all den Vorurteilen eines Ghettos“. Ein Judenstaat „wäre klein und
unbedeutend, fromm und nicht liberal und würde Nicht-Juden und Christen
ausschließen“. Wir könnten
schlussfolgern, dass Rothschilds Prophezeiung falsch war. Aber eines ist
sicher: Er war kein Antisemit!

Natürlich gab es und gibt es Antizionisten, die auch Antisemiten sind, und
ich bin mir auch sicher, dass wir Antisemiten unter den Sympathisanten des
Zionismus‘ finden. Ich kann Ihnen auch versichern, dass eine Reihe Zionisten
Rassisten sind, deren mentale Struktur sich nicht von der absoluter
Judäophoben unterscheidet: Sie suchen gnadenlos nach einer jüdischen DNA
(sogar an der Universität, an der ich unterrichte).

Aber um klarzustellen, was ein antizionistischer Standpunkt ist, ist es
wichtig, sich zuerst auf eine Definition des Konzepts „Zionismus“ zu einigen
oder wenigstens auf eine Reihe seiner Charakteristiken. Ich werde versuchen,
das so kurz wie möglich zu tun.

Zuallererst ist Zionismus nicht Judaismus. Es ist sogar eine radikale Revolte
dagegen. Über die Jahrhunderte hegten gläubige Juden eine große Begeisterung
für ihr heiliges Land, vor allem für Jerusalem. Aber sie hielten sich an die
talmudische Vorschrift, dass sie nicht kollektiv vor der Wiederkehr des
Messias dorthin emigrieren sollten. In der Tat gehört das Land nicht den
Juden, sondern Gott. Gott gab es, und er nahm es wieder; und er würde den
Messias senden, um es wiederzubringen, wenn er es wollte. Als der Zionismus
erschien, entfernte er den „Allmächtigen“ von seinem Platz und ersetzte ihn
durch den aktiven Menschen an seiner Stelle.

Wir können geteilter Meinung darüber sein, ob das Projekt der Gründung eines
exklusiv jüdischen Staats auf einem Stück Land mit einer sehr großen
arabischen Mehrheit eine moralische Idee ist. 1917 belief sich die
Bevölkerung Palästinas auf 700.000 arabische Muslime und Christen und
ungefähr 60.000 Juden, von denen die Hälfte gegen den Zionismus waren. Bis zu
diesem Zeitpunkt bevorzugte die Mehrheit der jiddischsprachigen Menschen, die
vor den Pogromen des Russischen Reichs flohen, die Auswanderung auf den
amerikanischen Kontinent. In der Tat schafften es zwei Millionen dorthin und
entkamen so der Verfolgung durch die Nazis (und der unter dem Vichy-Regime).

1948 gab es in Palästina 650.000 Juden und 1,3 Millionen arabische Muslime
und Chris – ten, von denen 700.000 zu Flüchtlingen wurden. Auf dieser
demographischen Basis wurde der Staat Israel geboren. Dennoch, und vor dem
Hintergrund der Ausrottung der europäischen Juden, kamen einige Antizionisten
zu dem Schluss, dass es zur Vermeidung neuer Tragödien am besten sei, den
Staat Israel als unauslöschliche vollendete Tatsache anzusehen. Auch ein
Kind, das durch eine Vergewaltigung entstanden ist, hat ein Recht auf Le ben.
Aber was ist, wenn das Kind in die Fußstapfen seines Vaters tritt?

Dann kam 1967. Seitdem herrscht Israel über 5,5 Millionen Palästinenser,
denen bürgerliche, politische und soziale Rechte verweigert werden. Israel
unterwirft sie militärischer Kontrolle: für einen Teil von ihnen gibt es ein
„Indianerreservat“ auf der West Bank, während andere in einem
„Stacheldrahtreservat“ in Gaza eingeschlossen sind (70 % der Bevölkerung dort
sind Flüchtlinge oder ihre Nachkommen). Israel, das ständig seinen Wunsch
nach Frieden erklärt, betrachtet die Gebiete, die 1967 erobert wurden, als
integralen Bestandteil des „Landes Israel“, und es benimmt sich dort, wie es
ihm passt. Bis jetzt sind 600.000 jüdisch-israelische Siedler dorthin
gebracht worden … und das hat noch nicht aufgehört!

Ist das der Zionismus von heute? Nein! antworten meine Freunde von der
israelischen Linken – welche permanent schrumpft. Sie sagen mir, dass wir die
Dynamik der zionistischen Kolonisierung beenden müssen, dass ein enger,
kleiner palästinensischer Staat neben dem Staat Israel gegründet werden soll
und dass es das Ziel des Zionismus‘ gewesen sei, einen Staat zu gründen, in
dem Juden über sich selbst herrschen würden, nicht um „das alte Heimatland“
in seiner Gänze zu erobern. Und die gefährlichste Sache in all dem sei, in
ihren Augen, dass die Annexion von Gebiet den Charakter Israels als jüdischer
Staat bedrohe.

Damit sind wir an dem Punkt angekommen, an dem ich Ihnen erklären sollte,
warum ich Ihnen schreibe und warum ich mich als Nicht-Zionist oder
Antizionist definiere, ohne da – mit anti-jüdisch zu werden. Ihre Partei hat
die Worte „La République“ in ihren Namen auf – genommen. Also nehme ich an,
dass Sie ein glühender Republikaner sind. Und mit dem Risiko, Sie zu
überraschen: Ich bin es auch. Also kann ich als Demokrat und Republikaner
nicht – wie das alle Zionisten tun, linke wie rechte, ohne Ausnahme – einen
jüdischen Staat unterstützen. Das israelische Innenministerium zählt 75 % der
Bevölkerung des Landes als jüdisch an, 21 % als  arabische Muslime und
Christen und 4 % als „andere“[sic!]. Und doch gehört Israel nach dem Geist
seiner Gesetze nicht den Israelis insgesamt, wo es doch sogar all den Juden
weltweit gehört, die keine Absicht haben, dort zu leben. Damit gehört Israel
beispielsweise sehr viel mehr Bernard Henri-Lévy oder Alain Finkielkraut als
meinen palästinensisch-israelischen Studenten, hebräisch Sprechenden, die die
Sprache manchmal besser sprechen als ich! Israel hofft auch, dass der Tag
kommen wird, an dem alle Mitglieder des CRIF (Repräsentativer Rat der
Jüdischen Institutionen in Frankreich) und ihre „Anhänger“ nach Israel
auswandern! Ich kenne sogar ein paar französische Antisemiten, die angesichts
einer solchen Aussicht hocherfreut sind. Auf der anderen Seite könnten wir
zwei israelische Minister, Vertraute von Netanjahu, finden, die die Meinung
verbreiten, dass es nötig sei, den „Transfer“ israelischer Araber zu
ermutigen, ohne dass das bedeutet, dass irgend jemand ihren Rücktritt
fordert.

Das, Herr Präsident, ist es, warum ich kein Zionist sein kann. Ich bin ein Bürger,
der wünscht, dass der Staat, in dem er lebt, eine israelische Republik sein
sollte, und kein Staat einer jüdischen Gemeinschaft. Als Nachkomme von Juden,
die so sehr unter Diskriminierung litten, möchte ich nicht in einem Staat
leben, der mich nach seiner eigenen Selbstdefinition zu einer privilegierten
Klasse von Bürgern macht. Herr Präsident, glauben Sie, dass mich das zu einem
Antisemiten macht?