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Humanität à la carte oder alles hat seine Grenzen

von Jürgmeier, Infosperber, 24. August 2017 –

Wie viel Menschlichkeit wollen wir, wie viel Fleisch können wir uns leisten? Fragen die einen und die andern. 20, 50, 100 Gramm?
Migration Humanität
Die Welt überfordert uns. Andere bringt sie um.
Mitten in der Sommerzeit gleich Reisezeit ist die Obergrenze im Spiegel
angekommen. Was lange als Un-Wort der Rechtskonservativen – von AfD bis
Seehofer, von FPÖ bis Köppel – gegolten hat, ist politisch und medial
so mehrheitsfähig geworden, dass der bayrische CSU-Chef neuerdings
gelassen auf seine ultimative Forderung verzichten kann. Unter dem Titel
«Grenzen der Humanität» kommt René Pfister am 5. August 2017 in seinem
Leitartikel für das Nachrichten-Magazin Der Spiegel
zum bemerkenswerten Schluss: «…am Ende können die Europäer nur
gemeinsam entscheiden, wie viel Menschlichkeit sie sich leisten wollen.»
20, 50, 100 Gramm oder, wie sie in der Dorfmetzg fragen, dörfs es
bizzeli meh si?


Die Formulierung «wie viel Menschlichkeit sie sich leisten wollen»
verrät die gemütliche Lage und die Position der Macht, in der wir in
Europa Lebenden uns befinden. Insbesondere die in den modernen Palästen
und auf den Stühlen der Beschlussfassung. Sie fragen sich nicht – wie
die auch in den reichen Ländern in bescheidenen Verhältnissen Lebenden
–, ob sie sich neben Smartphone, Auto (allenfalls geleast), Badeferien
in Ägypten, Klavierstunden und Boxtraining für die Kleinen auch noch
eine Woche Zermatt im Winter leisten können, sondern ob sie sich den neuen Tesla und die Hochseejacht leisten wollen. Ihrem Entscheid, wie viel Menschlichkeit sich Europa – das seine humanistischen Werte so gerne verteidigt – leisten will, sind auch jene «Verdammten» unterworfen, die keine Wahl haben, wie viel Hunger, Elend und Verfolgung sie sich leisten wollen oder können.

Sandburg oder Festung
Alles hat seine Grenzen. «Wir können nicht ganz Afrika aufnehmen.» Klagt Roger Köppel in der Weltwoche 36/2015. Wer ist das Köppelsche «Wir»? Europa, das grosse oder das kleine? Die Schweiz? Die Weltwoche-Redaktion,
die Europa auch schon mal mit einer «Sandburg» vergleicht (37/2015)?
Oder doch nur seine eigene Familie? Die «wandelnde
Multifunktionsmaschine» (Köppel über Köppel, 2017 im Blick)
unterstellt, «ganz Afrika» würde am liebsten im Hotel Europa
einchecken, die heimischen Zelte auf dem «Kontinent für jedes
Reisebedürfnis» so schnell wie möglich und für immer abbrechen.
«Entdecke dein Paradies», lockt das ReiseBüro Travel worldwide.
Verspricht: «Afrika bietet für jedes Herz unvergessliche
Ferien-Erlebnisse.» Und warnt: «Afrika hat schon seit jeher Abenteurer,
Missionare und Händler angezogen und fasziniert. Lassen auch Sie sich
von diesem Kontinent verzaubern. Aber Vorsicht, Afrika kann süchtig
machen!» Und da hauen diese verwöhnten Abenteuerjunkies einfach übers
Mittelmeer ab. «Ohne schwimmen zu können, barfuss und ohne Gepäck
steigen sie in ein Gummiboot, das wohl nicht einmal auf dem Bielersee
zugelassen würde, dessen Tank nur so weit gefüllt ist, dass das Boot es
aus der Zwölfmeilenzone herausschafft» (Noëmi Landolt: Mission
Mittelmeer, Genossenschaft Infolink, Die Wochenzeitung, Zürich, 2017).
Im Sommer 2017 schreibt Spiegel-Autor
René Pfister: «In vielen Regionen der Welt herrschen Krieg und
Verfolgung. Wenn Europa alle aufnähme, die einen Anspruch auf Schutz
geltend machen können, würde das die Gemeinschaft wirtschaftlich und vor
allem politisch überfordern.» Das heisst, die reale Not, die Zahl der
Opfer ist so gross, dass ihnen die Hilfe verweigert werden muss. Um die
Hilfsbereiten nicht zu überfordern. Wer ist wann und wodurch überfordert?
Als
unser Ferienkind aus dem Osten Deutschlands mich vor vielen Jahren
fragte, ob sie während der Ausbildung – sie hoffte, in der Schweiz eher
eine Lehrstelle zu finden als in ihrer Heimat – bei uns wohnen könne,
waren S. und ich uns schnell einig: Das würde uns überfordern. Am Platz
und am Geld lag es nicht, wir hatten Angst, es würde unser knapp
ausbalanciertes Leben durcheinander bringen, in dem wir so vieles müssen
und wollen. Zum Glück konnten wir in den folgenden Jahren aus der Ferne
mitverfolgen, wie es ihr schliesslich doch gelang, eine Lehre
erfolgreich zu absolvieren, beruflich Fuss zu fassen und eine kleine
Familie zu gründen.
Was für diese kleine, gilt
nicht für die grosse Welt. «I think there is no happy ending at the
moment.» Zitiert Noëmi Landolt einen ihrer Kollegen bei ihrem
zweiwöchigen Rettungseinsatz vor der libyschen Küste mit Sea-Watch
im Sommer 2016. Und da wusste er noch nicht, dass die – auch dank
Finanzspritzen der EU, inklusive Schweiz – aufgerüstete libysche
Küstenwache in diesem Juli damit beginnen würde, die Schiffe der
Hilfsorganisationen zu vertreiben und die Flüchtenden zu zwingen, in
jene Lager zurückzukehren, die der deutsche Reporter und Afrika-Experte
Michael Obert im Blick
vom 20. August 2017 drastisch so beschreibt: «Nie in meinem Leben habe
ich so schlimme Zustände gesehen wie in diesen Lagern. Libyen ist die
Hölle!»

Schein-Flüchtlinge stützen die humanitäre Fiktion
In
Zeiten der Globalisierung verbinden uns InternetFacebookTwitter noch
direkter mit dem grenzenlosen Elend als die traditionellen Massenmedien.
Die Welt wird durch ihre mediale Darstellung zum Problem, der tägliche
Informationskonsum zum permanenten Aufruf, etwas zu tun (oder zu
lassen). Aber wir können Probleme nicht (definitiv) lösen. Nur lernen,
mit ihnen zu leben. Den Problemen der anderen. Alles hat seine Grenzen.
Auch die Humanität. Nur, wer setzt die Grenzen? Die Hilfsbedürftigen
sind es nicht.
«Die Leute, die in Nordafrika an
Bord gehen, sind überwiegend keine Flüchtlinge nach Genfer Konvention.
Sie sind nicht mehr direkt an Leib und Leben bedroht. [Hunger
beispielsweise ist in dieser Optik keine Bedrohung von Leib und Leben.
Jm] Es sind Leute, meistens junge Männer, die Tausende von Kilometern
hinter sich gebracht haben, um den letzten Sprung in den europäischen
Wohlstand zu schaffen.» Die von SVP-Nationalrat Köppel in der Weltwoche
18/2015 [Titelschlagzeile «Abriegeln! Befestigte Grenzen sind ein Gebot
der Menschlichkeit»] praktizierte Diffamierung von Menschen als
Schein-Flüchtlinge und Asyl-Betrüger – die nur ein besseres Leben
wollten – ermöglicht es, die humanitäre Fiktion «Wir helfen allen, die
es nötig haben» aufrechtzuerhalten.
Die Figur
des «unechten Flüchtlings» zwingt real Notleidende und Bedrohte auch zur
Lüge, denn, so lässt Shumona Sinha die Ich-Erzählerin und Dolmetscherin
in einer französischen Asylbehörde in ihrem Roman «Erschlagt die Armen!» notieren: «Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen. Es war im Übrigen untersagt, das Wort Elend
auch nur in den Mund zu nehmen. Es brauchte einen edleren Grund, einen,
der politisches Asyl rechtfertigte. Weder das Elend noch die sich
rächende Natur, die ihr Land zerstörte, konnten ihr Exil, ihre
verzweifelte Hoffnung auf Leben rechtfertigen. Kein Gesetz erlaubte
ihnen die Einreise in dieses Land Europas, wenn sie keine politischen
oder religiösen Gründe vorbrachten, wenn sie keine sichtbaren Spuren
einer Verfolgung an sich nachweisen konnten. Also mussten sie die
Wahrheit verstecken, vergessen, verlernen und eine neue erfinden.»
Im Sommer 2017 provoziert die Affäre um einen Ostschweizer Pferdehalter den Tagesanzeiger-Karikaturisten
Felix Schaad zu einer Zeichnung, auf der zwei Afrikaner mit
Pferdekostüm in eines dieser Gummiboote steigen wollen. «Falls etwas
passiert… Es erhöht die Hilfsbereitschaft im Norden enorm!» Erklärt
einer von ihnen die Maskerade. Und die Bildlegende bringt es auf den
beklemmenden Punkt: «Die Empörung über die gequälten Pferde ist mitunter
grösser als jene über ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer.» Keine und
keiner muss seine Heimat verlassen, aber ein Pferd kann sich seinen
Stall nicht selber aussuchen.

Die Welt überfordert uns. Andere bringt sie um.
René Pfister ist da im Spiegel
schon ehrlicher als jene, die ihr Gewissen mit der Diffamierungskeule
rein- und die Obergrenze scheinbar offenzuhalten versuchen. Er fordert,
wir müssten uns von unseren «Lebenslügen verabschieden». Wir könnten
nicht alle, «die einen Anspruch auf Schutz geltend machen können»,
aufnehmen. Der im deutschen Grundgesetz geschützte individuelle Anspruch
auf Asyl sei längst – Stichwort Schengen – Theorie. «Praktisch aber
galt das nur, wenn der Flüchtling vorher keinen sicheren Staat
durchquert hatte. Er musste also quasi vom Himmel fallen.»
Alles
hat seine Grenzen. Das ist eine Banalität. Aber wann, wo und mit
welcher Begründung? Weil wir uns nicht mehr Menschlichkeit leisten wollen?
Kä Luscht meh. Wir essen nicht einfach, was auf den Tisch kommt, wir
essen à la carte. Oder weil wir uns nicht mehr Menschlichkeit leisten können? Wann können wir nicht mehr? Wann können
wir in unseren Wohnungen und Häusern kein zusätzliches Bett mehr
platzieren? Wann unser Essen nicht länger auf ein paar Münder mehr
verteilen? Wann stossen die Verzweifelten und Hungernden an ihre
Grenzen?
Wir müssen uns eingestehen: Wir können nicht allen helfen, die es nötig haben. Wir lassen Menschen auch verhungern. Die Welt überfordert uns. Andere bringt sie um.
Das werden wir gewusst haben. Denn alles hat seine Grenzen. Auch die
Humanität. Nur das (zerstörerische) Geschäft mit allem, das kennt keine
Grenzen. Und treibt Menschen (auch) in die Flucht. Denen wir dann
Grenzen setzen müssen oder wollen. Aber wo sind die
Grenzen des Wachstums, des Reichtums, des Öko- und Sozialdumpings, der
Mobilität, der Ausbeutung von Menschen und der Zerstörung natürlicher
Ressourcen? Die Freiheit der Märkte will sich keiner und keine,
Konsumentin oder Produzent, nehmen lassen. Uns die Freiheiten. Den
anderen die Grenzen. Damit sie sich keine falschen Hoffnungen machen.
Das ist die Menschlichkeit, die wir uns leisten wollen.