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Finkelsteins Lehren: Völkerrecht und Gleichberechtigung sollten der Fokus für Palästina-Solidarität sein

von Seth Andersen, Mondoweiss, 10. August 2017, deutsche Übersetzung von Ellen Rohlfs und Fausto Giudice, Tlaxcala. „Zionismus ist Rassismus, Israel ist ein kolonialer Siedler-Staat. Ein kolonialistisches Siedler-Projekt muss entkolonialisiert werden. Wenn man eine linke Person ist und sich für Gerechtigkeit in Palästina einsetzt, dann ist man wahrscheinlich  schon auf Erklärungen wie diese gestoßen. So wahr sie sein mögen, müssen wir uns eine grundsätzliche Frage stellen: „Mit wem sprechen wir?“
Wie Norman Finkelstein sagt: „Für die meisten Leute ist Zionismus ein Haarspray, eine Eau de Cologne“. Ich glaube, er hat Recht. Die Allgemeinheit hat keine Ahnung, wovon wir reden. Das wurde mir klar, als ich neulich einem Mann  meiner Universität ein Buch verkaufte.  Er fragte mich nach dem Thema meiner Doktorarbeit.  Ich sagte ihm, ich schreibe über Zionismus. Er hatte keine Ahnung, worüber ich sprach.
Als Solidaritätsbewegung, die von außerhalb für Gerechtigkeit in Palästina kämpft, müssen wir uns zuerst fragen, was unser Ziel ist. Ein offensichtliches Ziel, womit  die meisten Leute einverstanden sind, ist, eine breite öffentliche  Meinung zugunsten der Palästinenser zu schaffen. Wenn dies unser Ziel ist, müssen wir damit anfangen, pragmatisch bei der Auswahl unseres Wortschatzes  sein.
Wir haben einen großen Wortschatz: Zionismus, Apartheid, Südafrika, Shuhada-Straße, Siedler, Kolonialismus usw. Wir sollten nicht alles ablehnen. Das Vokabular ist gut, die Argumente sind  stark, aber wir sollten im Gebrauch pragmatisch sein; denn es gibt noch eine andere Sprache, die bei Leuten mitschwingt, die  über die israelische  Kolonisierung  Palästinas keine Ahnung haben.  Eine Sprache die das breite Publikum erreicht: das Völkerrecht und die Gleichberechtigung. Das ist die wichtigste Lehre, die wir von Finkelstein lernen können.
Für mich persönlich ist das Völkerrecht nicht mein moralischer Kompass, es ist nicht die Sprache, die ich  gewöhnlich benutze. Es ist nicht der Maßstab, nachdem ich etwas als recht oder falsch einschätze. Aber ich muss ehrlich mit mir selbst sein. Arbeite ich um Gerechtigkeit in Palästina, um mich selbst wohl zu fühlen oder  arbeite ich um Gerechtigkeit in Palästina, weil ich wirklich wünsche, dass palästinensische Kinder auf dem Weg zur Schule  in der Lage sind, an einem militärischen Checkpoint nicht mit Tränengas empfangen zu werden? Wenn ich das letztere wähle, muss ich meinen eigenen moralischen Standard für einen Moment beiseitelassen und meine Instrumente realistisch auswählen.
Politik ist nicht das, was man persönlich wünscht oder glaubt, sagt Finkelstein. Es ist das Maximum, das man realistisch innerhalb eines bestehenden Rahmens erreichen kann. Was die öffentliche Meinung betrifft, so ist das Gesetz der Rahmen, das Weiteste wo wir in jeder Argumentation hingehen können. Wenn wir uns für etwas einsetzen, das auf der andern Seite des Gesetzes ist, wie z.B.  Israel als Staat auflösen, dann verlieren wir den größten Teil des Publikums und unsere Glaubwürdigkeit. Dann haben wir nicht mehr das Gesetz  als allgemeinen Horizont, der uns Glaubwürdigkeit unter den Leuten gibt, die uns nicht kennen – dann reden wir nur mit uns selbst.
Finkelstein bemerkt noch: Denkt daran, das Gesetz ist in diesem Fall vollkommen auf unserer Seite. Die Palästinenser gewinnen in jedem Aspekt. Der internationale Gerichtshof, das höchste juristische  Institut in der Welt,  stimmte  einstimmig für die palästinensische Sache. Gaza, die Westbank, Ostjerusalem sind nach dem Internationalen Recht palästinensisches Gebiet. Die Besatzung, die Belagerung, die Annektierung sind nach dem Internationalen Recht  illegal. Die Siedlungen, die Mauer sind nach dem Internationalen Recht illegal. Israel hat ein legales Recht als ein Staat innerhalb der Grenzen  von vor dem 67er-Krieg  zu existieren, d.h. Israel müsste sich unmittelbar aus dem Gazastreifen, der Westbank und Ost-Jerusalem zurückziehen.
Was das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge betrifft, so hat sich Finkelsteins Meinung im Laufe der Jahre geändert. In einem Vortrag, den Finkelstein  an der Case-Western-Reserve-Universität  2008 hielt, verteidigte er  deutlich  das Rückkehrrecht. „ Sie haben unanfechtbar das Recht“. Er sprach weiter von einer Untersuchung, die von Human Right Watch gemacht wurde, es sei keine Frage: die palästinensischen  Flüchtlinge haben ein gesetzliches der Rückkehrrecht. Doch nach Jahren kam Finkelstein zu der Überzeugung, dass die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge und die demographische Veränderung, die dann folgen würde, ein Ende des Staates  Israel wäre und zwar nicht in Einklang mit Israels legalem Recht innerhalb   der Juni 1967-Grenzen zu existieren.
Mit Recht ist Finkelstein von vielen kritisiert worden, die dies als einen Verrat an den palästinensischen Flüchtlingen ansahen. Es stimmt, wie  er darauf hinwies, dass die  Rückkehr der Flüchtlinge eine demographische  Veränderung schaffen würde. Aber würde dies das Ende des  Staates Israel bedeuten?  Nein, es würde bedeuten, dass es das Ende  eines jüdischen Staates wäre  und Israel stattdessen  ein demokratischer Staat würde, in dem all seine Bürger, egal welcher Religion und Ethnie, sich der gleichen Rechte erfreuen würden.
Und  trotz allem, wovon Finkelstein in den letzten Jahren überzeugt war, gibt es eine Grundlage für das Rückkehrrecht nach  dem Internationalen Recht: Artikel 11 in der UN-Resolution 194, der festlegt, dass die Flüchtlinge ein gesetzliches Rückkehrrecht haben. Amnesty International sagt, sie haben ein gesetzliches Rückkehrrecht. Human Rights Watch sagt dasselbe. Und dies sind mächtige  Institutionen und Organisationen, die  gegenüber der Öffentlichkeit  unumstritten sind, und deshalb ein kraftvolles Werkzeug für diejenigen von uns, die eine breite  Öffentlichkeit erreichen wollen.
Wenn wir alles in unserer Macht Stehende für das palästinensische Volk tun wollen, alle Mittel und Institutionen nützen, die in unsern Ländern erreichbar sind, um Druck auf die israelische Regierung und das System der Unterdrückung auszuüben, dann ist dies unser stärkster Argument: das Völkerrecht und  die Gleichberechtigung. Wenn wir darüber hinausgehen, versuchen wir nicht, die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Auf jeden Fall nicht auf wirksame Weise.
Diese Lösung, die Finkelstein in seiner pragmatischen Weise darlegt, zielt auf eine  Zwei-Staaten-Lösung. Wir können zustimmen oder nicht zustimmen, ob dies die richtige Lösung ist aber ich würde selbstverständlich jede Lösung  befürworten, die von den Palästinensern unterstützt wird. Wir müssen aber realistisch sein, in welcher Weise wir von außerhalb am besten beitragen können und was wir nicht können: wir können Israel nicht entkolonialisieren. Eine Entkolonialisierung kann nur von  innerhalb Israels geschehen und die bloße Idee, dass die Entkolonialisierung von außen kommen könnte, ist eine koloniale Idee an sich, welcher wir kritisch gegenüberstehen sollten.