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«Wir zeigen unser Gesicht»


Von Heinz Moser, Infosperber,
11. Mai 2017.  Die Diskussion um eine
Leitkultur nimmt in Deutschland wieder Fahrt auf. Schliesslich sind im Herbst
Bundestagswahlen.



In
unserem Nachbarland ist die Aufregung gross, seit Innenminister Thomas de
Maizière kürzlich in «Bild am Sonntag» Thesen zu einer deutschen Leitkultur
veröffentlicht hat. Schliesslich sind im Herbst Wahlen und die C-Parteien CDU
beziehungsweise CSU greifen nicht zum ersten Mal auf das Konzept einer
Leitkultur zurück, die es zu verteidigen gelte. Plakativ und in der Ausrichtung
klar ist es, wenn de Maizière formuliert. «Wir sind eine offene Gesellschaft.
Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.» Mit solchen markigen Worten
zum Islam will man der rechten Konkurrenz von der AfD Stimmen abjagen.

Deutschland,
ein christlich geprägtes Land
Doch
wer will bestreiten, dass «wir» nicht Burka sind? Die Thesen zur Leitkultur
entpuppen sich als selbstgefällige Allgemeinplätze. Das hört sich dann im
Tonfall von de Maizière wie folgt an: «Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert
und nicht allein als Instrument.» Oder: «Wir haben in unserem Land eine
Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten.» «Wir sind aufgeklärte Patrioten.»
Letztlich
geht es de Maizière primär doch um das christliche C seiner Partei. So meint
er: «In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft.
Kirchliche Feiertage prägen den Rhythmus unserer Jahre. Kirchtürme prägen
unsere Landschaft. Unser Land ist christlich geprägt. Wir leben im religiösen
Frieden.» Doch sind unsere säkularisierten westlichen Gesellschaften noch so
christlich fundiert, wie es die Kirchturm-Politik des deutschen Innenministers
suggeriert. Zweifel sind angebracht. Gerade der Osten Deutschlands war bis 1989
mit der DDR nicht so christlich geprägt, wie es de Maizière haben möchte.
Ein
Sammelsurium von Verhaltensweisen und Normen
Ganz
wohl scheint es indessen dem Innenminister mit seinen Thesen nicht zu sein. So
sieht er selbst die Gefahr von «undifferenzierten Bedenken». Denn es gebe immer
wieder Ausnahmen und auch Unterschiede, die zu berücksichtigen sind. Doch
ebenso klar ist es für ihn, dass es «erprobte und weiterzugebende
Lebensgewohnheiten» gibt, die es wert sind, erhalten zu werden. Doch im selben
Atemzug relativiert er schon wieder: «Was in Deutschland gilt, kann genauso in
Frankreich gelten. Umgekehrt ist auch richtig: Andere Länder, andere Sitten.»
Wo ist
dann aber noch die Leitkultur anzusiedeln – offensichtlich bei einem
Sammelsurium von Verhaltensweisen und Normen, die im Grunde beliebig sind und
sich im Verlauf der Jahre verändern. «Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns
zur Begrüssung die Hand.» Ja sicher. Doch das Händeschütteln als
Begrüssungsritual passiert nach meinen Erfahrungen auch unter Bekannten in
Deutschland nicht sehr oft.
Verfassung
oder Leitkultur
In
Deutschland haben die Thesen des Innenministers eine heftige Diskussion
angezettelt, die auch Philosophen wie Jürgen Habermas auf den Plan rief. Für
ihn ist eine deutsche Leitkultur unvereinbar mit dem Grundgesetz. Der Kern der
politischen Kultur bildet nach ihm die Verfassung selbst. Und das bedeute, so
Habermas in der «Rheinischen Post»: «Erforderlichenfalls können Minderheiten
sogar kulturelle Rechte einklagen, die ihnen erlauben, die Integrität ihrer
Lebensform im Rahmen der gemeinsamen politischen Kultur zu wahren. Keine Muslima
darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maizière die Hand zu geben.»
Die
Verfassung vor eine vermeintliche Leitkultur zu stellen, macht Sinn. Auch für
die Schweiz mit ihren vier sprachlichen Wurzeln wäre es schwierig, eine
«Leitkultur» auszumachen, wenn man darin mehr als einen Mix von «Fondue» und
«Rösti» sehen will. Gerade die Bundesverfassung, die sich die Schweiz als
Willensnation gegeben hat, ist der Kitt, der auch das zusammenhält, was nicht
ins Schema einer übergreifenden Leitkultur hineinpasst.