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«Ich will das soziale Schutzsystem retten» Marine Le Pen spricht zu der französischen Linken. Emanuel Macron nicht.


Von Johann
Aeschlimann, Infosperber,
6. Mai 2017. Dem Schweizer Zuschauer hat die französische
TV-Präsidentschaftsdebatte am Mittwoch vor der Wahl Fremdes und Vertrautes in
gleicher Verteilung geboten. Fremd waren Härte und Häme, in denen Marine Le Pen
(weit rechts) und Emanuel Macron (weniger rechts) aufeinander losgingen, fremd
auch ihre Eloquenz, und fremd natürlich Macrons Einstehen für Europa. Beide,
Eloquenz und Europhilie, sind hier nicht vorhanden, weder für sich noch
gepaart. Vertraut hingegen waren die Polemik gegen die «Öffnung» (Le Pen: «Sie
sind der Kandidat der Öffnung») und das Bedauern mit den Automobilisten (Le
Pen: «Milchkühe »), die gemolken werden, während das Gelichter ungeschoren
davonkommt.

© CC/flickr/Blanchine le Cain
1. Mai in Paris: «Marines
Blau steht Euch nicht». Bringt’s die Farbenlehre noch?

Hatten
wir auch schon.
Die
Autopartei lebt. In Frankreich.
Vieles
war sehr französisch gehalten und stach von teutonischen Fernsehkulturen ab. In
Deutschland zum Beispiel wäre sicher ein Zehntel der Redezeit auf die Wendungen
«wenn ich den Satz noch zu Ende führen darf…» oder «wenn ich jetzt auch mal
ausreden kann…» entfallen. Le Pen und Macron unterliessen das, gottlob. In der
Schweiz hätte der Moderator sicher enorm viel intensiver moderiert. Die
Franzosen liessen den Kontrahenten die lange Leine.
Mittlerweile
treiben Wikileaks und ihre Hinterleute die Sau der gehackten E-Dokumente durchs
Dorf, aber die interessante Frage in Frankreich lautet weiterhin: Wie stimmt
die Wählerschaft links? Die weggedeckelte Bourgeoisie zur Rechten wird keine
grosse Mühe haben, den ehemaligen Bankangestellten und Wirtschaftsminister
Macron zu wählen. Er predigt den Markt, die liberale «Reform» und die
Verschlankung der Wirtschaftsregeln. Aber die Linke dürfte hier eher eine Kröte
sehen, die nur mit einem zünftigen Schluck aus der Pulle «Angst vor dem noch
Schlimmeren» durch die Gurgel zu ziehen ist. Die Resultate des ersten Wahlgangs
zeigen, dass Frau Le Pen in den deindustrialisierten Gegenden des Landes
gewonnen hatte, und in vielen traditionell «roten» Wahlkreisen. Marine Le Pen
ist für linke Wähler attraktiv.
Warum
?
Lassen
wir die Umfragen und die Einlassungen der «Politologen» ausser acht, und
stellen wir uns den Normal-Linken vor, modellhaft verkürzt. Er hat schlechte
Erfahrungen mit der liberalen Wirtschaftsordnung gemacht und noch schlechtere
mit «Liberalisierung» und «Reformen». Er ist kritisch gegenüber dem «Markt» und
glaubt nicht, dass «Wettbewerb» alle Fragen zum Besten entscheidet. Er ist
deshalb auch kritisch gegenüber den von liberaler Marktwirtschaft gesättigten
internationalen oder supranationalen Projekten, ist also
globalisierungskritisch und euroskeptisch. Er ist dagegen, dass alles, selbst
die einzelne Person und ihre Wünsche, als verkäufliche Ware zu Markt getragen
werden muss. Er misstraut der Privatwirtschaft und vertraut der staatlichen
Ordnungsmacht. Er ist antikapitalistisch, tendenziell anti-amerikanisch und –
im Hinblick auf die EU – antideutsch. Ob er für das Nationale empfänglicher ist
als andere Wählergruppen, klammern wir aus. Die Fahnenschwingerei und der
Rückgriff auf nationale Gefühligkeit feiern zurzeit tous azimuts fröhliche
Urstände.
So
spricht Le Pen links
Prüfen
wir nun anhand der TV-Präsidentschaftsdebatte, ob und wie Kandidatin zu einem
solchen Retortenlinken spricht. Auf der Grundlage ihrer Worte ist
festzustellen, dass er Marine Le Pen durchaus wählen könnte, weil
  • Sie sich gegen die Effekte der Globalisierung und
    des weltweit verschärften Konkurrenzkampfs wendet. Macron verkörpere «das
    Frankreich, das sich der illoyalen internationalen Konkurrenz unterwirft»,
    sagt Le Pen Er sei «die Wahl der wilden Globalisierung, der Uberisierung,
    der Prekarität, des Kriegs aller gegen alle ». Und Frau Le Pen, indem sie
    so redet, signalisiert das Gegenteil.
  • Sie sich als Alternative gegen den Vertreter des
    grossen Kapitals präsentiert. Le Pen zu Macron: «die Bauern haben Sie nie
    gesehen, die Industriellen auch nicht, ausser die grossen Unternehmen, die
    Sie von grossen amerikanischen Gruppen aufkaufen liessen, zum Schaden des
    nationalen Interesses …. in einem Interessenkonflikt namentlich mit der
    Bank, für die Sie gearbeitet haben. Sie vertreten private Interessen».
  • Sie das bestehende, starre, auf grosse Einheiten
    zugeschnittene französische Arbeitsrecht verteidigt, während Macron für
    «Flexibilisierung» eintritt. Le Pen: «Ich will, dass Verhandlungen
    (zwischen den Sozialpartnern, Red.) in der Branche geführt werden, Herr
    Macron will, dass sie in jedem Unternehmen für sich geführt werden. Eine
    solche Verhandlung stellt eine Firma gegen die andere, Sie schaffen die
    Bedingungen einer illoyalen Konkurrenz. Innerhalb der Branchen … fressen
    die Grossen die Kleinen… Die Zerschlagung des Arbeitsrechts ist eine
    Politik der Prekarisierung und wird zusätzliche Arbeitslose schaffen».
    (Kleine historische Parenthese: Die industrie- oder branchenweite
    Vereinbarung der Arbeitsbedingungen ist eine Grundforderung der
    Gewerkschaften – die auf einen Betrieb beschränkte Vereinbarung ist eine
    klassische Forderung der faschistischen Linken).
  • Sie Steuersenkungen unten verspricht : «Ich will
    die untersten drei Stufen der Einkommenssteuer um 10 Prozent senken, die
    von den Sozialisten abgeschaffte Halbierung für Witwen und Witwer wieder
    einführen, die Besteuerung der Überstunden aufheben… Ich senke den Preis
    von Gas und Elektrizität um 5 Prozent, weil mehrere Erhöhungen die Rentner
    belasten.»
  • Sie sich dagegen wendet, dass alles zur Ware
    wird. Macrons «Philosophie» sei «alles ist käuflich und verkäuflich», warf
    Le Pen ihrem Gegner vor: «Sie verteidigen nicht Frankreich, sondern eine
    Markthalle, einen Krieg aller gegen alle, in dem die Lohnempfänger sich um
    ihre Arbeitsplätze schlagen müssen und die Firmen um die längste
    Arbeitszeit, um sich die Märkte zu sichern.» Aber «nicht alles ist
    lediglich eine finanzielle Sache. Frankreich ist etwas anderes».
  • Sie die ungelösten Versprechen der Europäischen
    Union und die Effekte ihrer Politik anprangert: «Seit 25 Jahren
    versprechen Sie ein soziales Europa». «Der Euro ist das Geld der Banken,
    aber nicht das Geld des Volks».
  • Sie nach dem Austritt aus dem Euro die
    Geldpolitik eines französischen Franc als Instrument der
    Wirtschaftspolitik einsetzen will, wie es zahlreiche linke Ökonomen für
    richtig halten: Frankreich «wird die Herrschaft über sein Geld erlangen,
    um es seiner Wirtschaft anzupassen »… «Wir werden an
    Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, weil die Mark stärker wird» (gemeint ist
    wohl die Deutsche Mark – Le Pen scheint davon auszugehen, dass der Euro
    mit Frankreichs Austritt gleich verschwindet – Red.).
  • Sie sich gegen den «Abbau der sozialen
    Sicherungssysteme» wendet, die Macron beabsichtige: «Ich will das soziale
    Schutzsystem retten, weil es in Gefahr ist. Das Ziel ist, es auf die eine
    oder andere Weise aufzulösen. Man spricht über die Finanzierung, Herr
    Macron hat extrem wolkige Vorschläge vorgetragen…. Man kann noch
    Einsparungen vornehmen ohne die bestehenden Leistungen zu kürzen.»
  • Sie den Abbau des Service Public (Kein Begriff in
    der Debatte) anprangert. «Wir sind mit der Landflucht konfrontiert, in
    vielen Landstrichen muss man 50-60 Kilometer fahren, um zu einem
    Spezialarzt zu gelangen…. Es gibt Massnahmen, die man ergreifen kann». Le
    Pen zu Macron: «Sie sind der Kandidat der Schliessungen von Betrieben,
    Kindergärten, Polizeiposten, Spitälern. Das einzige, das Sie nicht
    schliessen wollen, sind die Grenzen.»
  • Sie für die Beibehaltung des bestehenden
    Rentensystems und eine Senkung des Rentenalters auf 60 Jahre eintritt.
    «Ich schlage 60 Jahre mit 40 Beitragsjahren vor». «Man muss das uns
    vertraute système de répartition (auf Beitragszahlungen
    beruhendes Umlagesystem – Red.) bewahren».
  • Sie das Ressentiment gegen Deutschland und die
    USA bedient: «Frankreich hat sich Deutschland unterworfen, der
    amerikanischen Politik unterworfen. Es muss seine Unabhängigkeit
    wiedergewinnen.» Le Pen zu Macron: «Sie verlangen die wirtschaftliche
    Unterwerfung Frankreichs unter Deutschland.» Und: «Auf alle Fälle wird
    Frankreich von einer Frau regiert werden – entweder von mir oder von Frau
    Merkel ».
  • Sie – wie die europäische Linke in den siebziger
    und achtziger Jahren – keinen Unterschied zwischen Ost und West macht:
    «Ich denke, dass wir gleichen Abstand (équidistance) zu Russland
    und den Vereinigten Staaten haben sollen. Wir haben keinen Grund, einen
    kalten Krieg mit Russland zu führen… Russland hat keinerlei Feindseligkeit
    gegenüber Frankreich geäussert.»
  • Sie – wie François Mitterrand in den ersten,
    gescheiterten Jahren seiner Präsidentschaft – die nationale
    wirtschaftliche Selbstbestimmung gegenüber dem Rest der Welt propagiert:
    In Le Pens neuem Europa «erhalten die Staaten die Freiheit zurück,
    ökonomischen Patriotismus zu betreiben, um den französischen Unternehmen
    einen Vorteil zu verschaffen, intelligenten Protektionismus zu betreiben,
    das heisst, die notwendigen Ventile gegen Sozial-, Gesundheits- oder
    Umweltdumping einzurichten».
Wenn
wir annehmen, dass diese politischen Worte für bare Münze genommen werden,
spricht Marine Le Pen laut und deutlich zur Wählerschaft links. Aber mit Drall:
Der Artikulation linker Anliegen folgt die Forderung nach rechten Lösungen.
Wenn die Grenzen geschlossen, die Einwanderung gestoppt, die Einfuhren
besteuert, Europa in selbständige «Nationen» aufgelöst, die Europäische Union
durch eine lose Alliance Européenne ersetzt wird, dann kommt
alles ins Lot. Denn dann kann Frankreich Frankreich blieben– «eine Nation mit
einer Kultur, einem Volk, einer Hoffnung, weiter mit den anderen Nationen der
Welt in respektvollen Umständen verkehren zu können». Die realen Fragen, sehr
wohl angesprochen, finden ihre Antwort im Gefühlsbrei der nationalen
Selbstgenügsamkeit. Am Anfang und am Ende des Projekts Le Pen ist Mystizismus
der «Nation».
Was
wird dagegen vorgetragen?
Wenig.
Emanuel Macrons Antworten auf Le Pen lassen sich, wiederum verkürzt, so
zusammenfassen:
  • Marine Le Pen ist dumm. Sie «erzählt Dummheiten»
    – bêtises. Macron sagte es so oft, dass die Kandidatin ihm
    bedeutete, sie schätze es nicht, geschulmeistert zu werden.
  • Marine Le Pen steckt mit Putin unter einer Decke.
    Macron: «Putin gehört an den Tisch, aber in keinem Fall werde ich mich
    Putins Diktat unterwerfen. Das ist der Unterschied zwischen mir und Marine
    Le Pen, die sich Putin unterworfen hat: Durch finanzielle Unterwerfung
    ihrer Partei (die Nationale Front hat russische Gelder erhalten – Red.)
    und durch Unterwerfung unter seine Werte, die nicht die unsrigen sind».
  • Die EU schützt uns alle: «Ich bin der Kandidat
    eines starken Frankreich in einem Europa, das schützt. Ich will keinen
    Verlust von Arbeitsplätzen und von Produktivität durch den Ausstieg aus
    dem Euro. Das ist, was Sie vorschlagen».
  • Privatbesitz muss Privatbesitz bleiben: Zum Für
    und Wider des Verkaufs der Mobilfunkgesellschaft SFR erklärt Macron:«SFR
    war der Besitz einer privaten Gruppe. Wir sind in einem Staat, der den
    Privatbesitz respektiert».
  • Rechtsextremismus ist das Familiengeschäft der Le
    Pens: «Sie sind die Erbin eines Namens, einer politischen Partei, eines
    Systems, das seit Jahren von der Wut der Franzosen lebt…. Seit vierzig
    Jahren haben wir in diesem Land Le Pens, die für die Präsidentschaft
    kandidieren.»
  • Le Pen hat Angst. Sie agiert aus einem «Geist der
    Niederlage» heraus, genährt von der Wut der Zu-Kurz-Gekommenen (das im
    Angelsächsischen üblich Wort «Verlierer» fiel in der Debatte nicht).
    Macron hat keine Angst: «Ich vertrete den französischen Eroberergeist.»
Genug?
Reicht
das? Gewiss werden andere Faktoren als linke Anliegen die Wahl bestimmen:
Kontrolle und Begrenzung der Einwanderung, der Kampf gegen islamistische
Attacken, die ubiquitäre ras-le-bol-Stimmung gegen die «Eliten».
Aber auf die von Marine Le Pen artikulierten Punkte fehlen Antworten der
Gegenseite. Der anvisierten Wählerschaft links unten wird nichts auf den Teller
gelegt, aber mit dem grossen Zeigefinger gedroht: Wehe, Du lässt sich auf diese
Dame ein, sie ist eine Böse. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern.
Mehr
ist nicht. Für mehr müsste eine Linke, der die Wähler davonlaufen, sich
unangenehmen Fragen stellen. Sie müsste zeigen können, wie sie EU-Europa
sozialer macht (in den neunziger Jahren hatten sozialistische Regierungen die
Mehrheit im Europäischen Rat, und sie scheiterten kläglich). Sie müsste zeigen
können, was nach der Aufkündigung der Gefolgschaft gegenüber Amerika an
europäischer Sicherheitspolitik zu schaffen ist: Eine europäische Armee? Sie
müsste zeigen, wie EU-Europa den Raubtierkapitalismus der Banken (inklusive
auch der Schweizer Banken) zu bändigen weiss. Sie müsste zeigen, wie – und ob –
ein soziales Europa Migration meistert (das sozialistisch regierte Frankreich
hat vor der mittelöstlichen Flüchtlingswelle das Finkenpanier ergriffen, im
Gegensatz zum christlich-sozialen Deutschland).
Nicht
von ungefähr hat der unterlegene Kandidat der äusseren Linken, Mélenchon, es
unterlassen, Emanuel Macron zu unterstützen. Er hat seinen Anhängern lediglich
nahe gelegt, auf keinen Fall für Frau Le Pen zu stimmen.
Die
Begründung ist im wesentlichen eine historische: Nie, zu keiner Zeit und an
keinem Ort, haben Rechtsextremisten, die links redeten, auch links regiert. Die
ersten, die ausgeschaltet oder liquidiert wurden, waren immer die
Organisationen der Arbeiterbewegung, die kommunistischen und sozialistischen
Parteien und die Gewerkschaften. Das schleckt keine Geiss weg.
Das
festzustellen, bleibt leicht, die Regale sind voll von Geschichtsbüchern. Aber
wer liest sie noch? Den historischen Befund festzuhalten, wird – da old
news
 – leicht unterlassen – der Tagesberichterstattung ist anderes
wichtiger. Es in der Epoche der Gedächtnislosigkeit zu vermitteln, scheint
schwierig.
Wer
twittert Geschichte?