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Die Qual der Wahl in Frankreich


Von Johann
Aeschlimann, Infosperber, 9, April 2017.
Die Aussenseiter sind an der Spitze, die
traditionellen Parteien liegen zurück. Steht Frankreich vor einem Trump-Moment?

Gallischer
Gockel vs. Plastikente – beschränkte Auswahl in der Grande Nation.
Noch drei Wochen bis zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl in
Frankreich (23. April), und im Rennverlauf hat sich bisher nichts geändert. Die
Chancen auf den zweiten, entscheidenden Wahlgang (7. Mai) werden nur drei der
elf KandidatInnen zugetraut: Marine le Pen vom extrem-rechten Front National,
Emmanuel Macron von der neugegründeten Partei En Marche und
François Fillon von den bürgerlichen Republikanern. Benoît Hamon vom Parti
Socialiste
 des abgehalfterten Präsidenten Hollande ist abgeschlagen.
Ein paar eloquente Zwerge haben in der zweiten
TV-Debatte
vor kurzem Rampenerfolge erzielt, die sich aber kaum
ausmünzen dürften. Der Genfer Journalist Stéphane Bussard, US-Korrespondent
während des amerikanischen Wahlkampfs, beobachtet die Lage im Nachbarland und
zieht Vergleiche.
Stéphane Bussard, wie gross ist das Interesse an den französischen Wahlen
bei Euch in der Redaktion? Spricht man beim Kaffeeautomaten darüber?
Stéphane Bussard: Ja, die
Diskussionen bei uns sind intensiv. Es gibt ein starkes Interesse und auch eine
Beunruhigung.
Und in der Stadt? Ein Thema im Bistro um die Ecke?
Bussard: Das stelle
ich nicht fest. Aber es gibt organisierte Debatten in der Stadt, zum Beispiel
an der Uni. Genf erlebt mit,
was sich in Frankreich tut. Das liegt auch an der besonderen Beziehung der
Westschweiz zu ihrem Nachbarn, einer Mischung aus Abneigung und Zuneigung –
eine Hassliebe.
Worin besteht die Beunruhigung, die Sie erwähnen?
Bussard: Dass wir ein
Nachbarland haben, das nicht wirklich regiert werden kann. Fillon ist schwach,
er wurde in der Vorwahl auch aus dem eigenen rechten Lager angegriffen, von der
Anhängerschaft seiner geschlagenen Gegner Sarkozy und Juppé. Und bei Macron ist
die grosse Frage, ob er zu regieren vermag, das heisst, ob er die nötige
Unterstützung im Parlament erhält. Die Zentristen sind eine Minderheit von etwa
10 Prozent. Unsere Sorge besteht darin, neben einem Land zu leben, das nicht
regierbar ist, weil es keine klare Mehrheit gibt.
Und der Front National?
Bussard: Das ist die
andere Furcht. Die Chancen von Marine Le Pen werden jetzt klein geschrieben,
aber es gibt Stimmen, die darauf verweisen, dass die Bedingungen für Le Pen
ähnlich sind wie es in den USA die Bedingungen für Donald Trump waren. Die
politischen Parteien sind in der Krise, ein Teil der Wählerschaft fühlt sich
abgehängt, die Wirtschaftslage ist schwierig.
Als allgemeine Meinung gilt hier, dass Macron und Le Pen es in die zweite
Runde schaffen und Macron dann den Sieg davonträgt. Hat sich nach der zweiten
TV-Debatte etwas geändert ?
Bussard: Ich lese das
auch, gestützt auf Umfragen. Aber ich traue solchen Umfragen überhaupt nicht.
Es ist sehr populär, Macron zu unterstützen. Ich bin da skeptisch und
vorsichtig. Macron verführt die Eliten, doch ich bin nicht sicher, ob er auch
den Rest anspricht. Er ist ein ehemaliger Minister des abtretenden Präsidenten
Hollande. Ich fürchte, dass es einen Bruch zwischen den Eliten und dem
Frankreich unten gibt.
Wie in den USA, wo Sie den Wahlkampf eng verfolgt haben.
Bussard: Vielleicht
lese ich zu viel von dieser Erfahrung in die französische Situation hinein, und
eventuell kenne ich das Terrain in Frankreich nicht gut genug. Aber ich sehe
eine Gleichartigkeit der politischen und sozioökonomischen Bedingungen in
Frankreich und den USA. Was ich in den Kommentaren zu Marine Le Pen lese, ist
ungefähr dasselbe, was zwei Monate vor der US-Wahl über Donald Trump zu lesen
war.
Im vergangenen Herbst verglichen Sie im Interview mit dem Infosperber den
Überraschungssieg von François Fillon in der Vorwahl der Rechten mit dem
Überraschungssieg von Donald Trump in den USA. Jetzt ist Fillon am Implodieren.
Bussard: Die
Ähnlichkeit lag in der Kluft zwischen den Umfragen und dem Wahlergebnis. Die
Umfragen sahen alle Juppé oder Sarkozy vorn, aber es war Fillon, der gewann. Er
trat als Verteidiger eines gewissen Frankreich, eines christlichen Frankreich
auf und projizierte eine staatsmännische Statur. Er signalisierte Stabilität
und Reform zugleich. Aber wegen seiner Affären hat er es jetzt sehr schwer.
Er hat seine Ehefrau und seine Kinder auf Staatskosten in seinem Büro
angestellt, und es gibt irgendeine Sache mit teuren Anzügen. Was war da?
Bussard: Er hat sich
sehr teure Anzüge schenken lassen.
Ist das im politischen Frankreich nicht gang und gäbe?
Bussard: Weniger als
früher, und in der Situation eines Präsidentschaftswahlkampfs noch weniger. Es
ist nicht der absolute Skandal, aber immerhin sind in dieser Sache nun zwei
Justizverfahren eröffnet. Zudem hat Fillon sich ungeschickt verteidigt.
Fillon und Hamon, die Kandidaten der etablierten Parteien, sind die
Aussenseiter. An der Spitze liegen die extrem Rechte Marine Le Pen und der
Neuling Macron. Eine weitere Parallele zu Trump und den USA?
Bussard: Donald Trump
und Marine Le Pen haben den Nationalismus und den Protektionismus gemeinsam.
Aber es gibt zwei grosse Unterschiede. Donald Trump ist ein Geschäftsmann,
allein deswegen hat ein Teil der Welt der Wirtschaft für ihn gestimmt. Marine
Le Pen ist schwach, wenn es um Wirtschaft geht. Zum andern war Trump, obwohl
nicht in erster Linie ein Parteiideologe, der Kandidat einer der grossen
Parteien in den USA. Marine Le Pen gehört einer Partei an, die sich zwar in der
politischen Landschaft festgesetzt hat, aber weiterhin den Stempel des
Rechtsextremismus trägt. Hinzu kommt ein Unterschied im politischen Benehmen.
Marine Le Pen führt sich nicht so auf wie Donald Trump. Sie hat ihre Rede –
nicht ihre Weltsicht – normalisiert und sich so ins politische System
Frankreichs integriert. Sie war klug genug, sich von ihrem Vater zu
distanzieren, der die Franzosen immer wieder mit extremen Äusserungen
verschreckt hat. Marine Le Pen ist es gelungen, sich ein Image der Normalität
zuzulegen. Sie benutzt dieselben Argumente wie Donald Trump, aber ohne seine
Exzesse und seine Übertreibungen.
Welche Rolle spielen social media?
Bussard: Sie sind
sicher ein Faktor, aber die Bedeutung ist geringer als in den USA. Die gesamte
Trump-Kampagne basierte auf der Nutzung von social media.
Und Macron? Er ist aus dem Nichts aufgetaucht wie Trump.
Ich halte das Phänomen Macron für eine politische und mediale Konstruktion.
Macron ist ein ehemaliger Minister von Hollande und ein Absolvent der
Spitzenhochschule ENA, der versucht, sich ein neues Image zu geben. Er will mit
einem zentristischen Profil die Enttäuschten zur Rechten und zur Linken hinter
sich scharen, eine Art Renzi oder Tony Blair …
…Eine «Plastikente ohne Blei im Bürzel», wie der SPIEGEL vor langer Zeit
einen christdemokratischen Kanzlerkandidaten charakterisierte….
Bussard: … Ich habe
Mühe, in seinen Reden politische Inhalte zu finden. Macron zeigt sich modern
und offen, und genau damit riskiert er, als Inkarnation der Eliten abgelehnt zu
werden.
Ich lese Stimmen, die ihn mit Obama vergleichen.
Bussard: Unsinn. Obama
war ein «homme politique», ein Mann der Inhalte, der etwas bewegen wollte. Bei
Macron spüre ich das nicht. Es bleibt alles Form und Auftritt. Er ist kein
«homme de dossier».
Was geschieht, wenn Marine Le Pen es wie angenommen in den zweiten Wahlgang
schafft?
Bussard: Am 5. Mai
2002 gelang dies ihrem Vater, der den Sozialisten Jospin vom zweiten Platz
verdrängte und in die Stichwahl gegen Jacques Chirac gelangte. Die Antwort war
ein republikanischer Zusammenschluss und für Chirac der grösste Erdrutschsieg
in der französischen Geschichte. Selbst die Sozialisten stellten sich hinter
ihn, um Jean-Marie Le Pen den Weg zu verbauen. Es fragt sich sehr, ob sich
jenes «ralliement républicain» am 7. Mai 2017 wiederholt. Die Franzosen sind
sich heute nicht mehr so sicher, dass der Reflex wieder spielt.
Liegt das auch am Faktor Europa? Frau Le Pen will aus dem Euro hinaus und
über einen Austritt aus der EU abstimmen lassen.
Bussard: Die EU ist
nicht sehr populär, Le Pen und andere wollen austreten.
Auch Linke?
Bussard: Der
sozialistische Kandidat Hamon ist sehr pro-europäisch. Unter dem Eindruck von
Trumps Äusserungen zum Nato-Bündnis hat er sich sogar für eine europäische
Verteidigungsgemeinschaft ausgesprochen, in Frankreich seit den fünfziger
Jahren eine politische Unmöglichkeit. Aber die extreme Linke ist
anti-europäisch. Mélenchon, der Kandidat der Linksextremisten und der
Kommunisten, ist äusserst EU-kritisch. Die Präsidentschaftswahl wird auch die
Zukunft Europas bestimmen. Deshalb ist sie so wichtig.
Könnte es sein, dass ein zweiter Wahlgang mit der Kandidatin Le Pen zu
einer Art Referendum über Frankreichs Verhältnis zur EU stilisiert wird?
Bussard: Möglich.
Europa und die EU sind ein Fundamentalthema. Aber das ist nicht der einzige
Faktor. Es geht auch um nationales Selbstverständnis, um die wirtschaftlichen
Probleme, um die Kaufkraft und um die Wiederherstellung von Arbeitsplätzen in
Frankreich.
In den USA ist die Rede von russischer Beeinflussung des Wahlkampfs. Spricht
man in Frankreich auch von ausländischer Einmischung?
Bussard: Es gibt viele
Fragen rund um den Front National. Frau Le Pen war bei Putin, ihre Partei soll
Unterstützung von russischen Banken erhalten haben. Dahinter steht die Frage
nach Russlands Rolle in Europa.
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Stéphane Bussard war von 2011 bis 2016 US-Korrespondent für Le
Temps
 (Genf) und Le Soir (Brüssel) in New York und
schreibt heute für Le Temps über das Internationale Genf.
Zusammen mit Philippe Mottaz ist er Verfasser von #trump. De la
démagogie en Amérique
, einer Chronik des Wahlkampfs von US-Präsident Donald
Trump und seiner Nutzung von social media (französisch, Verlag Slatkine&Cie
Genf. Als E-Book für 9.99 Euro bei Amazon und Kindle).