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Watschenmann Erdogan: Von der Feindbildproduktion und ihrer herrschaftlichen Nutzung

von Wilhelm Langthaler, antiimperialista.org, 12. März 2017. Erdogan ist kein Guter. Da sind sich alle einig – schwarz, rot, blau und grün. Und weil wir so demokratisch sind, müssen wir wehrhaft der Bedrohung von außen entgegentreten. Was liegt also näher als dem Bösewicht, der es wagt sogar unsere Journalisten einzusperren, unsererseits zumindest bei uns das Wort zu verbieten?
Doch es gibt viel schlimmere Regime wie Saudiarabien, die Ölmonarchien am Golf oder die ägyptische Junta mit denen man allesamt beste Beziehungen pflegt und an sie fest Waffen verkauft. 
Es sei daran erinnert, dass auch der Westen präsidentialistische Systeme kennt, die demokratischen Standards spotten. Das ist einmal Frankreich, dass zudem den Ausnahmezustand zur Dauereinrichtung gemacht hat. Da ist die EU, in der es überhaupt kein legislatives Parlament gibt und eine Wirtschaftselite ganze Mitgliedstaaten ins Elend stürzt und dann unter Kuratel stellt. Und da sind die USA als De-facto-Wahlmonarchie mit dem grotesken Detail, dass der Wahlverlierer mit 3 Millionen Stimmen weniger Präsident werden kann. An der dortigen Todesstrafe soll kein Freihandelsabkommen scheitern. Und die moderne Sklaverei in Form der nach Millionen zählenden schwarzen Gefängnisbevölkerung tut der amerikanischen Funktion als Schutzmacht der Freien Welt und ihrer Werte keinen Abbruch. Erdogans Ruf nach der Todesstrafe indes ist selbst den hiesigen Befürwortern des Polizeistaates willkommener Grund gegen die Türkei zu kampagnisieren.
Woher diese Verve? Warum diese Doppelstandards? Für jeden, der sehen will, ist offensichtlich, dass die Hasskampagne gegen Erdogan in Wahrheit gegen die Türkei, die Türken und den Islam geht.
Damit wird einerseits die weitere Einschränkung der grundlegenden politischen Freiheiten vorbereitet. Selbst wenn Innenminister Sobotka mit seinen wiederholten Anschlägen auf das Versammlungsrecht nicht durchkommen sollte, so bleibt doch hängen, dass der Staat Meinung lenken und unerwünschte Äußerungen unterdrücken soll. Die Hunderttausenden Türkischstämmigen hierzulange, die vielfach Erdogan unterstützen, mögen von Amts wegen mundtot gemacht werden. Das ist die wehrhafte Demokratie, an denen nicht nur die Rechte, sondern auch Kern und Pilz Gefallen gefunden haben.
Andererseits soll angesichts der aufgehenden sozialen Schere jeder wissen, wo der Feind sitzt, wer uns bedroht, uns die Arbeit wegnimmt und vor wem wir Angst haben müssen. Nicht vor den Eliten aus Bankern, Politikern und Regimemedien nehme man sich in Acht, die unverdrossen nach Liberalisierung, Lohnsenkung und Sozialabbau schreien und die Chuzpe haben, den Abbau des politischen Rechtes auf Dissens mit der Verteidigung der universellen Menschenrechte zu rechtfertigen. Sondern Erdogan ist der Dämon und hinter ihm die sich radikalisierenden Muslime, die uns sogar erobern wollten. Wir sind konfrontiert mit der gleichen politischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Struktur gegen das Andere, die seinerzeit den Antisemitismus hervorbrachte. Doch was noch schlimmer ist: Heute gibt es sogar eine Querfront der vermeintlichen Zivilisationsverteidiger von rechts nach links.
Kritik an Erdogan kann nur dann ihren vordergründig demokratischen Anspruch einlösen, wenn sie die Herrschaft der westlichen Oligarchie zuerst ins Visier nimmt. 

Wilhelm Langthaler (Graz, 1969) studierte Philosophie und
ist ausgebildeter Elektroingenieur. Er gehört der Antiimperialistischen
Koordination
(AIK) und war führend an Initiativen gegen den NATO-Krieg in
Jugoslawien und gegen den US-Angriff auf den Irak sowie an Friedensinitiativen
für Syrien beteiligt. Im Promedia-Verlag sind von ihm erschienen: „Ami go home“ (2004,
gemeinsam mit Werner Pirker), „Befreiung weltweit
(2010) und „Europa
zerbricht am Euro
“ (2016, gemeinsam mit Stefan Hinsch).