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Warum Geert Wilders die niederländische Politik bestimmt

Seine wachsende Popularität offenbart ein Paradox
im Herzen des holländischen Liberalismus
von Ian Buruma, The Spectator, 28-1-2017. Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik.
 

Dass die USA einen Präsidenten wie Donald Trump
wählen würden, war ein echter Schock. Aber die USA sind ein komisches Land, in
dem regelmäßig der politische Wahnsinn ausbricht — obwohl es vielleicht noch nie
so wahnsinnig zuging wie jetzt. Aber die Tatsache, dass die Niederländer, die
oft als pragmatisch, bürgerlich, phlegmatisch, geschäftsorientiert, tolerant
und vielleicht als ein wenig langweilig karikiert werden, im März von einer
Partei angeführt werden könnten, die von einem ordinären Volksverhetzer mit
blond gefärbten Haaren angeführt wird, ist noch überraschender. Aber der
Aufstieg von Geert Wilders, dem Führer (und einzigen Mitglied) der Partei für
die Freiheit, zeigt, wie sich der Populismus in den Niederlanden verbreitet.
Wilders
war eine der Hauptattraktionen bei der vor kurzem organisierten rechtsradikalen
Fete in Koblenz, wo er den Brexit, Donald Trump und den sogenannten 
patriotischen Frühling Europas bejubelte.
Der alte geschäftsorientierte
Niederländer, der immer auf der Suche nach einem moderaten Konsens ist, ist
immer noch da, wenn auch versinnbildlicht durch den konservativen
Premierminister Mark Rutte — aber sogar er versucht sich an die populistische
Stimmung anzupassen. In dieser Woche meint er im Rahmen seiner Wahlkampagne in
einer
ganzseitigen Anzeige: „Wer sich nicht anpassen will und unsere
Werte kritisiert, der sollte sich entweder normal verhalten oder gehen“.
Vielleicht ist das der Ausdruck
der verspäteten Panik eines Politikers, der nicht genug getan hat,
um seinen populistischen Herausforderer zu stoppen. Wilders Partei hat ein
Manifesto von einer Seite, das
vorschlägt, Moscheen zu schließen, den
Koran zu verbieten und Asylanten aus dem Lande zu verweisen. Umfragen zufolge könnte
er am 15. März siegreich aus den Wahlen hervorgehen. Gemäß dem
niederländischen System würde er dadurch nicht zum Premierminister, aber ob nun
Premierminister oder nicht, er wird die nationalen Gespräche beherrschen.
Um die Modalitäten und
Hintergründe zu verstehen und zu sehen, was in den Niederlanden ergreifend ist,
muss man Geert Wilders Hintergrund verstehen. Wilders ist das Gegenteil der stumpfsinnigen holländischen Karikatur. Er ist grob, laut, intolerant und
gar nicht langweilig. Der bizarre blond gefärbte füllige Mann ist weniger
trivial als er auf Anhieb aussieht. Wie das über die Glatze gekämmte Haar von
Trump, ist auch Wilders Frisur eine  Überspanntheit,
die ihn von konventionelleren Technokraten und professionellen Politikern
unterscheidet; und das ist genau der Punkt. Seine Fans wünschen sich Wilders so
unterschiedlich wie möglich von der Hauptströmung.
Wie viele chauvinistischen Angeber
der Vergangenheit und der Gegenwart stammt Wilders aus dem Rande des  nationalen Lebens. Er wuchs in der südlichen
Provinz von Limburg auf, deren Bewohner traditionell römisch-katholisch sind.
Oft sind sie den kosmopolitischeren Küstenregionen gegenüber
  ressentimentgeladen. Außerdem geht es hier
seit der Schließung der Kohlebergwerke in den 1980ern wirtschaftlich bergab. 

Aber es gibt in Wilders Aufmachung noch ein
Element, von dem man selten spricht. Die Familie seiner Mutter ist eurasiatisch,  Indo, wie man auf Niederländisch so schön sagt. Diese Mischlinge im niederländischen Ostindien, dem heutigen Indonesien, wurden von
den „reinen“ niederländischenKolonialherren abwertend angesehen. Sie taten
alles, um sich von den gebürtigen Indonesiern zu unterscheiden und sich als
noch niederländischer als die Niederländer (d.h. als die Weißen) zu zeigen. Viele
von ihnen schlossen sich in den 1930ern der Niederländischen
Nationalsozialistischen Partei (NSB) an. Als sich die meisten von ihnen nach
dem zweiten Weltkrieg in den Niederlanden niederließen, nachdem der indonesische
Präsident Sukarno sie aus dem Land verwies, waren die Indos oft extrem
konservativ und muslimfeindlich.
So ist Wilders Hauptthese, nach
der der Islam, der von ungefähr 4% der Niederländer praktiziert wird, eine
tödliche Bedrohung der europäischen Zivilisation darstellt, in einer besonderen
nationalen Vergangenheit verankert. Die alten Wunden des Kolonialismus werden
nun auf Menschen projiziert, die hauptsächlich aus Marokko stammen. 2014 fragte
Wilders seine Unterstützer, ob sie mehr oder weniger Marokkaner in den
Niederlanden wünschten. Die Antwort lautete: „Weniger!“ „Richtig“, meinte
Wilders, “das kriegen wir hin.” Er wurde wegen Volksverhetzung angeklagt und auch
als schuldig befunden, kam aber komischerweise unbestraft davon. Seine Verteidiger
behaupteten, Wilders hätte sich nur auf eine nationale und nicht ethnische oder
religiöse Gruppe bezogen. Somit hätte er das Volk nicht aufgehetzt. Das Ganze
war aber eher ein Ablenkungsmanöver. Die „Marokkaner“ waren in diesem Falle
niederländische Staatsbürger. Wilders hatte außerdem auch den Koran mit Hitlers
Mein Kampf verglichen und drohte mit Massenabschiebungen von Muslimen.
Warum sollten Wilders Dämonen in
einem wohlhabenden, stabilen und sehr bürgerlichen Land auf fruchtbaren Boden
fallen? Warum sollten niederländische Bürger seine verderblichen politischen
Anschauungen teilen, um eine solche Aufregung hervorzurufen? Eines ist sicher:
die Muslime sind nicht die einzigen Ziele seiner Verachtung. Wilders neigt
dazu, von islamfeindlichen Polemiken auf Hetzreden gegen die EU überzugehen. Er
hat zahlreiche Menschen, nicht nur in den ländlichen Gebieten von Limburg, davon überzeugt, dass Brüssel und der Islam die niederländische
Identität gefährden. In seinen Augen wird diese Zerstörung von den
kosmopolitischen Eliten in Amsterdam, Rotterdam und Den Haag geradezu
unterstützt und angestiftet.
Der Großteil dieser Rhetorik
würde in anderen europäischen Ländern geläufig klingen, nicht zuletzt in
England. Die Spannungen der globalen wirtschaftlichen und technologischen
Veränderung und der erstarrten politischen Abmachungen auf nationaler und auch
europäischer Ebene haben auch die Niederlande betroffen. Wie andere
populistische Führer hat sich Wilders eine Vielzahl von Ängsten zunutze gemacht
und die passenden Sündenböcke heraufbeschworen.
Dennoch hat der niederländische
Fall etwas Besonderes an sich. Neben dem Klischee über den holländischen
Pragmatismus, usw. ist noch ein anderes Klischee vorhanden, nach dem die
Niederlande das sozial fortschrittlichste europäische Land wären. Erinnern Sie
sich doch mal an den tollen Comedy Sketch von Harry Enfield und Paul Whitehouse
(der ein halber Niederländer ist) über die beiden Amsterdamer Polizisten, die
in ihrem Streifenwagen kiffen. Natürlich war das Ganze nur ein Witz. Aber der
radikale Liberalismus, den einige Niederländer inzwischen so ziemlich
selbstgefällig finden, hängt nämlich in gewisser Weise mit der besonderen Art
der populistischen Reaktion zusammen.
Obwohl die Mehrheit der
Unterstützer von Wilders sowohl provinziell als auch konservativ sind, nutzt
Wilder die niederländische soziale Toleranz als Knüppel gegen die Muslime. Der
Islam bedroht unsere Zivilisation, weil seine Gläubigen vermeintliche
Schwulenhasser sind und ihre Frauen nicht als gleichberechtigte Partnerinnen
behandeln. Das galt auch für die Mehrheit der niederländischen
Bevölkerung
gar nicht so lange her, aber das wird nicht mehr als relevant angesehen.
Sein Vorgänger als erfolgreicher Populist, der verstorbene Pim Fortuyn, der von einem
fanatischen Veganer (mit einer britischen Pfingstlerin als Mutter) ermordet
wurde, war selbst ein Homosexueller und prahlte, Sex mit marokkanischen Einwanderern
in den Hinterräumen der Schwulenbars von  Rotterdam gehabt zu haben.
Es gibt aber einen tiefsinnigeren
Grund, wofür progressive Ideale mit dem heutigen Nativismus in Verbindung
gebracht werden. Vor kurzem identifizierten sich die meisten Niederländer mehr
mit ihrer Religion als mit ihrer Nation. Die niederländische Gesellschaft ruhte
auf sogenannten Pfeilern, vertikalen soziopolitischen und wirtschaftlichen
Netzwerken, die auf religiösen oder politischen Zugehörigkeiten basierten. Die
Protestanten heirateten keine Katholiken und kauften nicht einmal in den Läden
der anderen Religionsgemeinschaft ein. Von der Wiege bis zum Grab, war das
Leben diesen Linien entlang gestaltet. Ein Katholik ging in katholische
Schulen, schloss sich katholischen Sportclubs an, wählte eine katholische
Partei und zog sich im Alter in ein katholisches Altersheim zurück, usw.
Dasselbe galt für die verschiedenen protestantischen Benennungen und sogar
für die Sozialisten. Ich selbst stamme aus einem liberalen säkularen Milieu. Ich habe in
meiner Kindheit und Jugend in Den Haag kaum praktizierende Kalvinisten oder
Katholiken kennengelernt. Und die einzigen Sozialisten, die ich kannte, waren hochbürgerliche Exzentriker.
In den 1960ern fingen diese
Pfeiler an zu zerbröckeln. Wir legten alles als verstaubt und erdrückend ab.
Die Kirchen wurden leer. Der Einfluss der christlichen Parteien schrumpfte oder
verschwand vollkommen. Die Ehe zwischen Andersgläubigen wurde immer üblicher.
Fortschrittlich zu sein bedeutete, sich an der Zerstörung dieser Pfeiler zu
beteiligen.
Das Ganze war zwar befreiend,
hatte aber wie alle gesellschaftlichen Veränderungen unerwünschte Auswirkungen.
Als die traditionellen Formen der Identität verblassten, fühlten sich immer
mehr Leute, vor allem in den konservativen ländlichen Gebieten wie Limburg, verloren. Die Monarchie und das nationale Fußballteam spendeten einen bestimmten
Trost, aber dies war nur während der WM-Spiele gegen Deutschland der
Fall und reichte nicht aus. Die städtischen Liberalen, die immer noch vom
europäischen Idealismus inspiriert und von den bösen Erinnerungen an die
Nazibesatzung verfolgt waren, waren sich der Gefahren der rassistischen Vorurteile
mehr als bewusst. Dies machte sie taub für die Bedürfnisse der weniger
privilegierten Mitbürger, die ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl brauchten.
Der Höhepunkt kam in den 1990ern,
als die Industriegastarbeiter, die in den 1960ern aus den armen Dörfern der
Türkei und Marokko angeworben worden waren, nicht mehr Gäste, sondern
niederländische Staatsbürger mit großen Familien waren. Man konnte ihre
Anwesenheit nicht mehr ignorieren. Pim Fortuyn nutzte die damit
zusammenhängenden Spannungen aus. Ein  konservativer Politiker der Hauptströmunge, Frits
Bolkestein, hörte auch mit Sympathie auf das Murren, wie er sagte, aus “Kirche und Kneipe”. Der Schützling und Redenschreiber
von Bolkestein war in den 1990er das junge Nachwuchstalent Geert Wilders.
2004 trennte sich Wilders von der
konservativen Partei von Bolkestein und gründete die VVD. Er rief eine Bewegung
ins Leben, um die Niederlande vom  muslimischen Problem zu befreien. Aber er ging
viel weiter als Fortuyn oder Bolkestein. Er zog nicht nur gegen den Islam und
Brüssel in den Krieg, sondern auch gegen die gesamte etablierte politische
Ordnung.  Wilders hat die unabhängigen
Gerichte als heuchlerische Gerichte und so auch das Parlament, zu dem er über
Jahre gehörte, als heuchlerisches Parlament abgetan.
Das macht
ihn gefährlich wie den US-Präsidenten, den er so verehrt. Denn er stellt die
Legitimität des Parlaments und die Rechtsstaatlichkeit in Frage. Natürlich sind
muslimische Extremisten ernst zu nehmen. Aber trotz des Namens der sogenannten
Partei für die Freiheit, würde ich sagen, dass Wilders die politischen
Institutionen seines Landes schwer bedroht. Sein Erfolg wäre ein Trauertag für
eine der ältesten Demokratien in Europa.