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«Recht und Pflicht»: Wählen in Frankreich. Frankreichs Uhren ticken nicht anders

Von Johann Aeschlimann,
Infosperber, 3. März 2017. Die rechte Revolte findet auch in Europa statt. Der
nächste Akt im Stück spielt in Frankreich. In der Hauptrolle: Marine Le Pen.
Wir sind alle von Donald Trump
besessen und wissen mehr über seine derzeitige Ehefrau als über die Akteure auf
dem eigenen Kontinent. Die Furcht vor Trump belebt den alten Glauben an
amerikanische Allmacht, nährt finstere Untergangsszenarien und verdrängt die
Vorstellung eigener, anderer Weichenstellungen. Dabei finden in der engeren
Nachbarschaft in Europa bedeutende Wahlentscheide statt. Zum Beispiel in
Frankreich, wo am 23. April die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfindet
(die Stichwahl ist am 7. Mai). Neben einer Reihe von Kleinkandidaturen stehen
vier Hauptfiguren zur Wahl: Der Linke Benoît Hamon (Parti Socialiste), der
Bürgerliche François Fillon (Les Républicains), der Neue Emmanuel Macron
(Partei En Marche) – und die Radikal-Rechte Marine Le Pen (Front National).
Was läuft im Westen? Der
Schweizer Journalist Rudolf Balmer verfolgt und beschreibt das Geschehen in der
Grande Nation seit 30 Jahren.
Ist in Frankreich ein
Trump-Effekt zu beobachten?
Rudolf Balmer: Auf jeden Fall stellt sich die Frage des Populismus. Ähnlich wie
anderswo in Europa gibt es einen Trend zu einem grossen Misstrauen in der
Bevölkerung gegenüber den traditionellen Parteien, den Institutionen, den
Medien und auch gegenüber der Wissenschaft. Das erinnert am stärksten an einen
Trump-Effekt.
Trumps Sieg hat natürlich eine
Rückwirkung in Europa, im Speziellen in Frankreich. Auch hier rechneten die
meisten nicht damit, dass eine Figur wie Trump Wahlen gewinnen kann. Dass dies
in den USA möglich war, gibt der Vorstellung Auftrieb, dass Marine Le Pen in
Frankreich siegen könnte.
Hier wir dort lagen die Umfragen
zu den Vorwahlen und die Prognosen der Medien daneben. Gehört das auch zum
Trump-Effekt?
Rudolf Balmer: Auf jeden Fall verlaufen diese Wahlen ganz anders als man es sich
noch vor einem Jahr vorgestellt hat, in mehreren Punkten. Erstens ist der
amtierende Präsident François Hollande so unpopulär und seine Bilanz so
umstritten, dass er es gar nicht wagen konnte, zur Wiederwahl anzutreten. Das ist
neu. Seine drei letzten Vorgänger haben es alle ein zweites Mal – Mitterrand
und Chirac wurden wiedergewählt, Sarkozy abgewählt. Hollande hat kapituliert.
Das schafft eine ganz neue Ausgangslage. Jetzt gibt es keinen Kandidaten, der
mit der Bilanz der abgelaufenen Amtszeit antritt und diese verteidigt. Neu ist
ebenfalls, dass mit Marine Le Pen erstmals eine Rechtsextremistin Aussicht auf
die Staatspräsidentschaft hat. Das ist nicht mehr auszuschliessen. Noch vor ein
paar Jahren hätte ganz Frankreich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen
und beteuert, niemals, niemals könne eine Partei mit diesem faschistischen
Hintergrund eine so wichtige Wahl gewinnen.
Die Vorwahlen ergaben saftige
Überraschungen.
Rudolf Balmer: Auf allen Seiten, ja. Bei den Bürgerlichen ist François Fillon von der
Parteibasis mit einem sehr liberalen Programm gewählt worden. Das ist
überraschend, weil Liberalismus in Frankreich praktisch ein Schimpfwort ist.
Die Leute setzen noch auf den Staat und staatliche Subventionen und Interventionen.
Inzwischen ist Fillon bereits wieder auf dem Schleudersitz, weil der Canard
Enchaîné eine Affäre rund um die Anstellung von Familienmitgliedern mit
Steuergeldern enthüllt hat. Überraschend ist auch der linksliberale
Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der sich im Gegensatz zu den bisherigen
Gepflogenheiten nicht rechts oder links situiert sondern irgendwo in der Mitte.
Das ist etwas Neues, und das Überraschende ist, dass er als Topfavorit gilt.
Ist Hollandes Erbe eigentlich so
lausig?
Rudolf Balmer: Hollandes Bilanz ist nicht so schlecht, wie sie von den Medien
dargestellt wird und wie sie die Bürger weitgehend sehen. Aber man müsste ihm
vorwerfen, dass er ganz zu Beginn seiner Präsidentschaft nicht öffentlich
Inventar gemacht hat. Er hat seinen Mitbürgern nicht klar gesagt: Frankreich
geht es schlecht, Frankreich ist hoch verschuldet und ich bin gezwungen, auch
unpopuläre Massnahmen zu ergreifen. Das hat er versäumt, aus einer
unverständlichen Versöhnlichkeit und Kompromissbereitschaft. Sein Pragmatismus
nachher ist natürlich schlecht angekommen, weil die Leute zu Recht das Gefühl
hatten, dass er sein eigenes Programm und damit seine Wähler verraten habe.
Wer ist denn der sozialistische
Kandidat?
Rudolf Balmer: Es ist bezeichnend, dass auch die Sozialisten einen internen
Oppositionellen aufgestellt haben Das zeigt, dass Hollande auch bei den
Sozialisten sehr umstritten ist, und dass sie Hollandes Bilanz nicht als
Wahlprogramm akzeptieren. Bezeichnend ist auch, dass der Kandidat, er heisst
Benoît Hamon, nicht zu den Favoriten gehört, zumindest nicht bisher. Man kann
jedoch Überraschungen nicht mehr ausschliessen. Hamon hat es immerhin
geschafft, Wahlbündnis mit den Grünen zu schliessen, die angesichts der
erfolglosen Kampagne ihres Vertreters auf eine eigene Kandidatur verzichten.
Le Pen eine Rechtsextremistin,
ihre Partei faschistisch: Sie verwenden harte Worte. Haben wir es nicht mit
einem anderen, geläuterten und gezähmten Front National zu tun? Marine Le Pen
und ihre Partei scheinen salonfähig.
Rudolf Balmer: Es ist Le Pen und dem Front National tatsächlich gelungen, sich
weitgehend zu verharmlosen. Das liegt vor allem an der Wortwahl im Auftritt. Im
Unterschied zu ihrem Vater, dem Parteigründer, vermeidet Marine Le Pen
rassistische oder gar antisemitische Äusserungen tunlichst. Sie selbst – und
das ist vielleicht die einzige wirkliche Veränderung – ist keine Antisemitin.
Aber die Banalisierung des Programms des Front National ist nur Schminke.
Dahinter steht dieselbe Partei wie zur Zeit ihres Vaters, nationalistisch. Der
Feminismus zum Beispiel, den Frau Le Pen gerne selber verkauft, dient im
Parteiprogramm nur dazu, den Islam und die Moslems in die Schäm-Dich-Ecke zu
stellen. Sie versteht es, sich mit ihrer Partei als Opfer des Systems
darzustellen und die ganzen demokratischen Errungenschaften Frankreichs
exklusiv für sich zu beanspruchen. So wird zum Beispiel die Laizität zum
Instrument, um die Moslems als Staats- und Gesellschaftsfeinde zu verfemen.
Faschistisch?
Rudolf Balmer: Das nationalistische Programm steht klar in der Tradition von
europäischen Bewegungen, zu denen ich auch Faschismus und Nationalsozialismus
zähle. Es unterscheidet sich wenig von der Politik, wie sie heute in Ungarn
praktiziert wird. Das zeigt die Richtung an, in die es gehen könnte.
Für die «Nation» und gegen die
Fremden – das kennen wir in der Schweiz. Hierzulande wird auch Abneigung gegen
Europa eingesetzt, um Wahlen zu gewinnen. Welchen Stellenwert hat die
Europäische Union im Wahlkampf?
Rudolf Balmer: Seit dem Brexit steht in Frankreich das Thema Europa ganz klar im
Vordergrund. Gerade Le Pen und der Front National können das Misstrauen und die
Verärgerung über die Krise der EU für sich ausnützen. Sie sind nicht die
einzigen. Der Souveränist Nicolas Dupont-Aignan und der Linkspopulist Jean-Luc
Mélanchon surfen auf der gleichen Welle.
Frexit – Frankreichs Austritt aus
der EU?
Rudolf Balmer: Die Angst vor einem Frexit steht bei dieser Wahl im Raum. Das geht um
wie ein Gespenst. Der einzige Kandidat, der sich klar für eine positive Lösung
in Europa ausspricht, ist der Linksliberale Macron. Das ist ein Phänomen. Bei
keinem anderen Kandidaten werden Europafahnen geschwenkt. Alle anderen setzen
in der einen oder anderen Form auf die Krise der EU und fordern zum
allermindesten eine Neuorientierung, Verhandlungen über EU-Verträge oder sogar
den Austritt wie Frau Le Pen.
Was kommt unter Präsidentin Le
Pen auf Europa zu?
Rudolf Balmer: Le Pen hat das klar gesagt. Sie macht sich zur grossen Verteidigerin
der Volksrechte und möchte zumindest formell eine direkte Demokratie wie in der
Schweiz, mit Initiative und Referendum. Eine der ersten Massnahmen, sagt sie,
wäre eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU. Sie sagt, vorher würde
sie in Brüssel versuchen, eine Wiederherstellung der nationalen Souveränität zu
erreichen, und sie weiss genau, dass dies nicht möglich ist. Die Konsequenz
wäre dann eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU und aus dem Euro.
In einer ersten Phase würde sie den französischen Franc paritätisch an den Euro
binden. Das haben ihr offenbar ihre Wirtschaftsberater suggeriert. Denn ein
Austritt aus dem Euro würde Frankreich teuer zu stehen kommen. Die
Staatsschulden sind in Euro notiert, und eine Abwertung des Franc gegenüber dem
würde die Last höher machen.
Sind die Flüchtlinge ein Thema
für sich?
Rudolf Balmer: Die Flüchtlingsfrage ist praktisch ein Tabu in dieser Wahldebatte.
Eigentlich spricht niemand davon, ausser die Fremdenfeinde. Sie wollen die
Grenzen schliessen und das Schengen-Abkommen begraben. Das heisst, die
Flüchtlinge, die jetzt aus Mitteleuropa in den Westen kommen, nicht in
Frankreich aufzunehmen und an der Durchreise zu hindern. Frankreich ist für
Flüchtlinge ohnehin keine gute Adresse. Im Unterschied zu Deutschland hat
Frankreich nur wenige syrische Flüchtlinge aufgenommen, von den versprochenen
30 000 kamen bestenfalls 3000 ins Land.
Man las viel über die Situation
in Calais. Was ist dort jetzt los?
Rudolf Balmer: Die Lage in Calais und am Ärmelkanal überhaupt ist nach wie vor
dramatisch. Die Räumung des Lagers in Calais hat wie erwartet nichts gelöst.
Die Flüchtlinge, die nach Grossbritannien wollen, leben jetzt zum Beispiel in
einem Lager in Dünkirchen, das aus allen Nähten platzt, oder sie versuchen,
irgendwo unterzukommen. Auch am Rand von Paris wurde ein Durchgangslager
geschaffen, das übervoll ist. Es ist keine wirkliche Lösung gefunden. Das ist
den meisten peinlich, deshalb wird nicht darüber gesprochen.