General

Wie machen wir uns ein Gewissen? (Linke Ethik 1/4)


von Lotta Suter, Infosperber,
27. Dezember 2016. Auch Linke, Ungläubige und SkeptikerInnen sind moralische
Wesen, die zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch entscheiden müssen. Oft
wird auch unter Linken behauptet, die Moral folge erst nach der Erfüllung
materieller Grundbedürfnisse. In einem vierteiligen Essay untersucht die
WoZ-Autorin Lotta Suter, wie Entscheide in Politik, Wirtschaft und Kultur von
moralischen beziehungsweise ethischen Prämissen geleitet werden.
Der Mensch ist nicht bloss homo
oeconomicus oder animal politique. Wir – auch wir Linken, Ungläubigen,
SkeptikerInnen – sind zudem moralische Wesen, die unablässig zwischen Gut und
Böse, Richtig und Falsch entscheiden (müssen). Wie machen wir das eigentlich?
Wie machen wir uns ein Gewissen? Die Gretchenfrage nach den eigenen
Wertmassstäben will niemand in meinem Umfeld spontan beantworten. Die einen
denken gleich an intolerante Sittenlehre und ein rigides Elternhaus. Andere
setzen Moral mit Religion gleich, und von letzterer haben sie sich längst
abgewendet. Wieder andere verachten die Ethik als wohlfeiles Deckmäntelchen für
Unternehmen und allerlei Organisationen. Doch hier geht es nicht um das
heimliche Lesen unter der Bettdecke, um irgendwelche verschrobenen
Keuschheitsgelübde oder gar um die Ethikkommission der Fifa.
Ich verstehe unter linker Ethik
und Moral – zwei Begriffe, die ich weitgehend synonym verwende – eine
Lebenshaltung. Es ist eine Grundeinstellung zu sich selber, zu den andern und
zur Welt, in der verschiedene Kulturen, Generationen, Gender und Klassen Platz
haben. Und die doch entschieden Partei ergreift für die Schwächeren, die Benachteiligten,
die Minderheiten. Bei dieser weiten inhaltlichen Definition linker Werte, einer
grosszügigen Auslegung der humanistischen Ideale der französischen Revolution –
Freiheit, Gleichberechtigung, Mitmenschlichkeit – lasse ich es vorerst bewenden.
Mich interessiert, wie wir Linken überhaupt zu unseren ethischen Massstäben
kommen und woran wir Freigeister uns heute orientieren, wenn wir in dem Wust
angebotener Informationen und Interpretationen bestimmen wollen, was das Gute
im Leben ist und wie wir diesem Guten persönlich und politisch Raum sowie
Einfluss geben können.
Die Welt noch in Ordnung
Meine eigene Kindheit im
kleinbürgerlichen Milieu der 1950er Jahre lieferte vorerst klare moralische
Vorgaben: Der Mann verdient das Geld. Die Mutter steht am Herd. Die Kinder
schweigen am Tisch, während Radio Beromünster die Welt erklärt. Eine Welt
bestehend aus der Schweiz und dem christlichen Abendland. Aussereuropäische
Menschen und Sitten kamen bloss in den exotischen «Kulturfilmen» vor, die das
Dorfkino einmal im Monat zeigte – Zutritt erst ab 18 Jahren wegen der nackten
Brüste der «Eingeborenen». Kurz, die Wertewelt war noch in Ordnung, in einer
festen Ordnung. Und doch plagten wir vorwitzigen Kinder die missionarisch
gesinnten Sonntagsschullehrerinnen bereits im zarten Vorschulalter mit Fragen,
die man im Nachhinein als ethische Reflexion deuten könnte: «Wie wissen wir,
dass unser Gott der einzig richtige ist?» oder «Was wenn die Menschen aus
Afrika in die Schweiz kämen und uns ihre Götter aufzwingen wollten?» Der Samen
des Skeptizismus war gesät.
Und das war zugleich der Keim des
zunächst zarten Pflänzchens einer eigenständigen, individuellen Lebenshaltung.
Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte darf man annehmen, dass diese
Möglichkeit, sich ein Gewissen zu machen, in jeder und jedem von uns angelegt
ist. Doch wo der Prozess in Gang kommt und wie er verläuft, hängt von den
jeweiligen gesellschaftlichen Umständen ab.
Bei mir zum Beispiel waren es die
kleinen Verwerfungen und Ungereimtheiten in einem monokulturellen Weltbild, die
zu Fragen und Widerspruch anregten. Meine Mutter erfüllte zwar als
nicht-berufstätige Hausfrau mit zwei Kindern die gängige Geschlechterrolle
ihrer Zeit. Doch sie war eine sehr urbane Frau und rieb sich an den Sitten und
Gebräuchen des engen Bergtals, in dem wir wohnten. Oder: Unsere Familie war
konfessionell gemischt, und sowohl die reformierten wie die katholischen Onkel
und Tanten waren so ganz anders und viel sympathischer als die allgegenwärtigen
religiösen Feindbilder. Und schliesslich lebte ich in einem Dorf, das
einerseits abgeschieden noch fast im 19. Jahrhundert verharrte, andererseits
beherbergten die meisten DorfbewohnerInnen den ganzen Sommer lang TouristInnen
aus England und dem übrigen Europa. Durch die Fremden kam ein Stück
Weltgeschichte in die guten Stuben. Doch als ich unsern deutschen Feriengast
mit dem kriegsamputiertem Arm neugierig fragte, ob er für Hitler gekämpft habe,
bekam ich eins aufs Maul.
Es lohnt sich in jedem Fall, ein
wenig in der eigenen Biografie zu graben, um besser zu verstehen, wieso man
heute so denkt und urteilt und nicht anders. Während es für Linke aus meiner
Generation wohl oft die Brüche und Risse in der festen Ordnung waren, die uns
zur Suche nach einer eigenständigen Grundhaltung antrieben, ist es für unsere
Kinder und Kindeskinder vielleicht eher – oder zumindest ebenso sehr – die
Suche nach Halt, nach festen Werten, nach einer verbindlichen Moral. Zwischen
diesen beiden Polen, Freiheit und Sicherheit, bewegt sich ja nicht bloss die grosse
Politik, mit dieser Spannung müssen wir auch auf individueller Ebene, beim
Erwachsenwerden, zurechtkommen.
Wie sich orientieren in einer
Welt, die mit jedem Lebensjahr grösser und – es handelt sich um die 1960er
Jahre – turbulenter wird? Meine Teenage-Tagebücher waren voller
melodramatischer Selbstzweifel. Ich notierte Sätze wie «Was tun, wenn wir den
Strohhalm, an den wir uns klammern wollen, erst noch selber pflanzen müssen?»
Der Preis der Mündigkeit
«Die Maxime, jederzeit selbst zu
denken, ist die Aufklärung». So lakonisch definierte der Philosoph Immanuel
Kant bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert unsere moralische
Selbstverantwortung. Und er benannte auch gleich die grössten Feinde unserer
Mündigkeit, nämlich Faulheit und Feigheit. Es braucht tatsächlich Mut und
Engagement, um die immer wiederkehrende Ungewissheit, den Zweifel und das
Zurückgeworfen-Werden auf die eigene unvollkommene Person auszuhalten. Es ist
der hohe Preis – Preis in der Bedeutung von Kosten und von Gewinn – für die
Emanzipierung der eigenen Person, die der Emanzipierung von andern vorausgehen
muss.
Da ich auf meine eigenen
Sonntagsschulfragen immer noch keine befriedigenden Antworten hatte, wurde ich
Studentin der Philosophie. Und auch wenn es in den 1970er Jahren in akademischen
Kreisen ziemlich verpönt war, aus den abstrakten philosophischen Theorien eine
alltagstaugliche Weltanschauung zu gewinnen, versuchte ich genau das. Ich las
Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Begriffsgeschichte, Logik und natürlich die
Ethik selbst stets mit Blick auf die Realität, auf meine Realität: Wie, mit
welchen Denkansätzen kann ich die Welt um mich herum besser verstehen lernen,
an der ich praktisch teilhabe? Natürlich begegnete mir in den 1970er Jahre auch
das geflügelte Wort von Karl Marx: «Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» Doch mir
als angehender Journalistin schien der Gegensatz künstlich, die
unterschiedliche Interpretation ist doch unabdingbarer Bestandteil, ist Voraussetzung
und auch Folge jeder Veränderung.
Für mich jedenfalls war die
Philosophie, das Nachdenken über mein Verhältnis zur Welt, kein politischer
Umweg, sondern Teil meines linken Engagements. Auf keinen Fall wollte ich die
neuentdeckten 1968er Werte – Sozialismus, Kommunismus, Feminismus, Anarchie,
freie Liebe – in den Stand von neuen absoluten Werten bzw. von Göttern erheben.
Politik verstand ich nicht als romantische Ersatzreligion, sondern als einen
tendenziell langwierigen Prozess, in dem die Beteiligten in wechselnden
Bündnissen demokratisch Kompromisse suchen und Regeln (vorläufig) festlegen.
Das tönt langweilig? Ach was, repetitiv waren doch vor allem die linken
Grabenkämpfe der 1970er Jahre, in denen sich jedes Grüppchen im Alleinbesitz
der absoluten Wahrheit wähnte. Und destruktiv war die linke Politik dort, wo
sie nicht als lebendige Auseinandersetzung, sondern als verbissener
Glaubenskrieg geführt wurde. Das demonstrierte die Rote Armee Fraktion RAF 1977
im Deutschen Herbst. Die nachfolgende Diskussion um die Legitimität von Gewalt
konnte ich nie bloss strategisch-abstrakt führen. Mein vermeintlich
«unpolitisches» Gewissen sagte mir, dass der Zweck nie alle Mittel heiligt, in
diesem Fall weder die Gewalt der RAF noch die des Staates.
Unsere linke Politik und die
Gegenkultur, so mein eigener ethisch-moralischer Anspruch, sollte nicht nur
andere Werte vertreten; sie sollte diese auch anders, offener und
selbstkritischer verfechten als die autoritären Vorfahren und Gegnerinnen.
Solch gelebte Offenheit und neugierige Toleranz gab es nach 1968 in vielen
Wohngemeinschaften, in basisdemokratischen politischen Projekten, in
kulturellen Happenings und auch in persönlichen Beziehungen.
Doch immer war auch die Gefahr
neuer einengender Normen gegeben. Manches wirkt heute bloss noch lächerlich: In
gewissen linksintellektuellen Kreisen durfte man sich zum Beispiel nach der
Skitour kaum mit gebräuntem Gesicht zeigen, denn Sport, besonders Bergsport,
war faschismusverdächtig. Und mein Violinspiel hängte ich auch nicht an die
grosse Glocke, klassische Musik galt als rettungslos bourgeois. Doch neben
solch eher harmlosem subkulturellem Schrebergärtchentum gab es auch
existentiell einschneidende alternative Direktiven. Viele Frauen und Männern
überforderten sich selber und die anderen damals mit dem Ideal der «freien
Liebe». Besitzdenken und Eifersucht waren die neuen Tabus – als ob solche
uralten menschlichen Gefühle sich einfach so wegpolitisieren liessen! Und in
der neuen Frauenbewegung galten eine Zeitlang Lesben als die einzig wahren oder
zumindest besseren Feministinnen. Der Slogan «Das Private ist politisch» wurde
ethisch gesehen in eine falsche Richtung gelenkt. Statt dass wir Linken und
Feministinnen uns darauf beschränkten, gute und gerechte gesellschaftliche Rahmenbedingungen
nicht nur für Politik und Wirtschaft, sondern auch für den sogenannten
Privatbereich zu fordern, gingen wir dazu über, das Private selbst, ja noch das
Intimste einer neuen normativen Moralität zu unterwerfen. Die geistige Enge der
1950er Jahre war überwunden, nun bestimmte die flockige Weite der
revolutionären Ideen, wer ein wahrer Linker und wer eine echte Feministin sei.
Wir und die andern
Ich weiss nicht genau, wieso ich
mich selber weder von der Geringschätzung meiner KollegInnen noch von den
gesellschaftlichen Hindernissen davon abbringen liess, als linke engagierte
Journalistin eine grosse Familie zu gründen. Diesen für mich persönlich
wichtigsten «Verstoss» gegen die in meinem Umfeld geltende Vorstellung vom
richtigen Leben erleichterten vor allem drei Faktoren, die auch in der
allgemeinen Ethikdiskussion wichtig sind: Intuition, Prinzipien und Erfahrung:
Erstens war da ein starker persönlicher Kinderwunsch, den ich als zu meinem
Leben gehörend akzeptierte. Zweitens machte mir mein Studium politischer
sozialer Utopien klar, wie gefährlich es ist, wenn eine einzige Instanz, eine
dominierende Ideologie das ganze Leben – und insbesondere das Private –
widerspruchsfrei regeln und zu einer «schönen neuen Welt» umgestalten will.
Drittens bremste vermutlich auch
die starrsinnige und von der Gemeinschaft abhängige Berglerin in mir den
rasanten urbanen Wertewandel hin zum Singledasein. Es war gut, aus den alten
starren Gesellschaftsformen auszubrechen, die so viele Menschen eingeengt
hatte. Doch beim Aufbruch zur Sonne, zur Freiheit, lohnt sich doch auch der
Blick nach hinten. Was bleibt zurück? Was geht verloren? Was wollen wir uns
bewahren oder neu erschaffen? Wenn wir die Fesseln der biologischen
Verwandtschaft lösen, braucht es dann nicht eine Wahlverwandtschaft mit
vergleichbaren Verbindlichkeiten, einer vergleichbaren Loyalität? Wie können
wir verhindern, dass wir befreit aus sozialen Zwängen bloss zu vogelfreien
Monaden der neoliberalen Marktwirtschaft werden?
Als Alt-68erin kann und will ich
meinem Nachwuchs heute keine festen Benimmregeln mitgeben, wie das meine Eltern
bei mir noch taten. Meine Kinder und Grosskinder müssen ihren beruflichen
Lebensweg, ihre politische Orientierung und ihre Beziehungsformen
eigenständiger finden. Doch ein paar moralische Grundwerte habe ich ihnen schon
mit grossem Nachdruck einzuprägen versucht. Zuallererst dies: dass Menschen
keine Handelsware sind, und auch keine politischen Schachfiguren.
Wie die gesellschaftlichen
Systeme Wirtschaft und Politik kann auch die angewandte Ethik durch zu viel
Macht korrumpiert werden. Die VerfechterInnen des Guten gebärden sich dann
unangenehm selbstgerecht und arrogant. Oder aber die Moral weicht aus in die
Beliebigkeit, anything goes, was faktisch eine Stärkung des Status quo
bedeutet. In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch WOZ-MacherInnen: Wer in der
journalistischen Berichterstattung linke Positionen und Werte als gegeben, ja
überlegen betrachtet, verliert an Glaubwürdigkeit und predigt zu den Bekehrten.
Wer jedoch linke Positionen und Werte aus dem Blick verliert und sich in
modische Ironie und Unverbindlichkeit flüchtet, verrät die eigene ethische
Basis. Als einzige Möglichkeit bleibt die unablässige Suche nach einem neuen
vorläufigen Gleichgewicht von Gewissheit und Zweifel, von Wahrheit und
Widerspruch.
Das eigene Gewissen, die
personale Gestalt von Ethik oder Moral, ist auch bei der journalistischen
Bestimmung des guten Lebens ein wichtiger Faktor. Doch beim Zeitungsmachen
zeigt sich beispielhaft, dass ethisches Denken immer auch auf die andern
angewiesen ist, auf Diskussion, Widerspruch, Erneuerung. Besonders
PhilosophInnen der neueren Zeit haben darüber nachgedacht, wie man die
normative Ethik durch demokratischere, dynamischere, zeitgemässere Formen
ablösen oder ergänzen könnte. Über die philosophische Fachgemeinde hinaus
bekanntgeworden sind etwa die Begriffe des «herrschaftsfreien Diskurses» von
Jürgen Habermas oder das «reflexive Überzeugungsgleichgewicht (reflective
equilibrium)» von John Rawls.
Gegenüber radikalen
Dekonstruktionsversuchen verteidigt unter anderem die US-amerikanische
Philosophin Judith Butler die Möglichkeit personaler Ethik. Doch sie betont die
Vorläufigkeit, Beschränktheit und gesellschaftlichen Bedingtheit jedes
«Self-Crafting», jeder Gestaltung des Selbst. In ihrer Rede zur Verleihung des
Adorno-Preises 2012 sagte sie: «Indem wir uns eingestehen, dass wir einander
brauchen, bekennen wir uns zugleich zu grundlegenden Prinzipien der sozialen
und demokratischen Bedingungen dessen, was wir als ‹das gute Leben› bezeichnen
könnten.» Man müsse nicht souverän sein, um moralisch zu handeln, schreibt
Butler im Vorwort zu ihrem Buch «Kritik der ethischen Gewalt» (2003), vielmehr
müsse man seine Souveränität einbüssen, um menschlich zu werden. Wir bleiben
der moralischen Selbstverantwortung ausgesetzt, auch wenn wir uns selber nie
ganz kennen oder bestimmen können. Doch wir teilen die Last der Mündigkeit mit
andern. Das eigene Gewissen entsteht, lebt und geht auf im gewissenhaften
mitfühlenden Gegenüber.