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Ein trostloses Weihnachten ruft die Katastrophe wach, die Bethlehem heimsuchte

von Gideon Levy, deutsche Übersetzung von Ellen Rohlfs, Tlaxcala, 23. Dezember 2016. Die
Illusion von Normalität an Jesu Geburtsort ist  durch den Anblick der
Mauer, die die Stadt abwürgt, zerbrochen  – und der Siedlung rittlings
auf dem naheliegenden Hügel.

Vor der Geburtskirche in Bethlehem, Dezember 2016. Foto Alex Levac/Ha’aretz

Als 2016 seinem Ende zuneigt, ist Bethlehem eine traurige
Stadt. Die Melancholie ist allgegenwärtig: in den verschlossenen
Souvenirläden, in den noch offenen aber leeren Läden, in den gästelosen
Hotels, in den niedergeschlagenen Gesichtern der Einheimischen. Es
stimmt, dass am Nachmittag der Obst- und Gemüsemarkt voller Leben ist
und der Verkehr sich staut. Die Stadt  ist für Weihnachten auch festlich geschmückt worden: seine bunten Lichter leuchten in der Nacht. Sonst ist hier nicht viel los.
Die örtliche Polizei, die den Verkehr in der Nähe des
Marktes leitet gibt eine Illusion von Normalität und einen Anschein von
Souveränität.  Aber jede Illusion zerbricht beim Anblick  der
Mauer, die die Stadt am Ende der Hauptstraße erdrosselt und der
Siedlung Har Homa, ein jüdischer Vorort, der der Stadt aufgezwungen
wurde, rittlings auf dem naheliegenden Hügel.
Bethlehem ist besetzt und erstickt. Dies macht sich  besonders in der Weihnachtszeit bemerkbar, wo man den Kontrast  zwischen  was diese schöne Stadt, Jesu Geburtsort, sein könnte und zu was sie reduziert wurde. Nächstes  Jahr  wird das Jubeljahr der Katastrophe sein, die sie heimsuchte.
Der traurigste  Ort der Stadt  ist
möglicherweise da, wo wir das letzte Wochenende verbrachten: das
Jacir-Palast-Hotel, früher das Intercontinental, die scheinbare
Kronjuwele von allen Bethlehemer Hotels.  Ein
Gebäudekomplex aus Stein mit einer feinen, ornamentalen Fassade; dieses
teure Hotel hat ein großes Schwimmbecken, eine Menge öffentliche
Plätze,  Tanz- und Konferenzsäle, Suiten,  Cafés, Bars und Restaurants, und ist ein
großes Brachland. Lange  gedämpfte
Korridore, die nirgendwohin hinführen, seit Langem ungenutzte Räume
.Ein fünf-Sterne-Hotel mit mehr als 200 Zimmern, das verfällt.
Es gibt nichts Entmutigenderes als ein leeres Hotel. Es waren außer uns beiden nur noch drei andere Gäste im  Jacir-Palast-Hotel,
ein Palästinenser aus Ramallah und ein arabisches Paar aus Haifa. Das
Frühstückbuffet war üppig, aber die Tische  rund herum  waren  menschenleer. Eine Tourismus-Agentur aus Nazareth bot in dieser  Woche drei Übernachtungen mit Frühstück  während der Weihnachtswoche für 1050 Shekel  [= 260 €] pro Person. Aber es ist unwahrscheinlich, dass das Hotel  selbst zu diesem Preis voll wird.
Man kann sich leicht vorstellen, wie  dies Hotel an Wochenenden aussehen könnte: voller Touristen  aus  allen Ecken der Welt, Geschäftsleute, wohlhabende Pilger und auch Israelis am Wochenende.
Doch so schlimm es ist, es ist nicht die schlimmste Zeit.
Vor beinahe fünfzehn Jahren, im März 2002 überfiel die israelische Armee
die Stadt im Rahmen der Operation „Schutzschild“.  Die Armee übernahm das Hotel  und
brachte seine Soldaten dort unter. Dies war wahrscheinlich das letzte
Mal, dass das Hotel keine freien Zimmer hatte. Seitdem wurden die
Räumlichkeiten alle renoviert und alle Schäden, die der IDF  verursachte, repariert, doch jetzt ist keine Seele zu sehen.
Draußen wird die Yasser-Arafat-Straße  zur Hebron-Straße.  Sie ist die Hauptverkehrsader, die die Stadt vom Norden zum Süden durchquert. Links vom Hotel liegt,  versteckt
durch die Mauer, Rachels Grab, brandgeschädigt und matschig von
aufgebrachten Demonstrationen, die hier gehalten wurden.

Ein
Mitglied der palästinensischen Nationalen Sicherheitskräfte steht
während einer Weihnachtsbaumbeleuchtung Zeremonie außerhalb der Kirche
der Geburt in Bethlehem am 3. Dezember 2016. Foto Mussa Qawasma /
Reuters
Im Norden  liegt Al-Aida, eines der kleinsten und trostlosesten Flüchtlingslager im Westjordanland. Eine Reihe von Kindern  und Jugendlichen sind hier  in den letzten Jahren getötet und  verletzt
worden, als sie die Soldaten im befestigten Turm, der Rachels Grab
beschützt, .in der Vergangenheit provozierten. In den letzten paar
Monaten,  zwischen der Armee-
Splitterschutzzelle und der Installation des großen Metall-Heimkehr-Schlüssels,
der direkt über dem Lager-Eintrittstor errichtet wurde, entlang der
örtlichen  Friedhofmauer ,  wurden
große Mengen von Tränengasbomben verteilt, auch viel scharfe Munition
abgefeuert und nicht wenig Blut vergossen. Und all dies  nur wenige hundert Meter vom Jacir-Palast-Hotel, wo an einem Dezember-Wochenende äußerste Stille herrschte.
Ich war hier, um an einer internationalen Konferenz von Kairos-Palästina, einer christlich-palästinensischen Bewegung, teilzunehmen, die sich auf religiöse  Komponenten des Kampfes  gegen
die Besatzung konzentriert. Das Thema dieser Jahreskonferenz war
„Glaube, Sumud (Standhaftigkeit) und kreativer Widerstand“. Die
zweitägige  Veranstaltung wurde  von der früheren  Ministerin
für Jerusalem-Angelegenheiten der Palästinensischen Behörde moderiert,
Hind Khouri; der palästinensische Geistliche Rev. Mitri Raheb hielt die
Eröffnungrede.
 Ein Gast erschien nicht: Dr. Isabel Phiri,  eine Leitende  Theologin des  Weltkirchenrates,
der der Eintritt nach Israel vor ein paar Tagen verwehrt wurde, weil
das WWC (Weltkirchenrat) den internationalen Boykott Israels
unterstützt. Der WCC-General-Sekretär, Rev. Olav Fykse Tweit,  ein Norweger, dem es erlaubt war, nach Israel zu kommen, sprach auch  bei
der Veranstaltung. Der Affront gegen seine Kollegin, die abgewiesen
wurde und der Ärger, der von seiner Organisation empfunden wurde, war
offensichtlich in seinen Bemerkungen, obwohl er sehr zurückhaltend war,
wie es sich für einen skandinavischen Geistlichen gehört. Die WCC-
Aktivisten in ihren braunen  Westen sind ein  familiärer Anblick in Bethlehem: die  vom  Morgengrauen bis zur Abenddämmerung am Checkpoint 300 stehen, um die  anhaltende  Situation dort zu beobachten. Dies ist die große harte  Übergangsstelle,
an der Tausende von Arbeitern stehen, die die Genehmigung haben, Israel
zu betreten und jeden Morgen gedemütigt werden. Die Zeugenberichte der
Beobachter  an ihre Kirchen  sind ihre Sünde.
Aber die Kairos-Palästina-Konferenz  strahlte auch einen Grad von Optimismus  und
Hoffnung aus, wie man es auch von christlichen Geistlichen erwarten
kann. Ein Orchester und Sänger führten bewegende religiöse Hymnen auf
Arabisch auf, nachdem „Biladi,Biladi“ die  palästinensische National-Hymne gesungen wurde.
Einer der Sänger war abwesend. Er war auf dem  Weg
nach Bethlehem verhaftet worden und zwar am sogenannten
Container-Checkpoint, der den südlichen Teil vom nördlichen Teil der
Westbank teilt. „Seine Stimme blieb am Checkpoint“, sagte der Moderator
poetisch.
Christliche  Geistliche in ihren Gewändern und Mitren; unter ihnen  war der frühere lateinische Patriarch von Jerusalem, der bejahrte und ehrwürdige Michel Sabbat.
Am Morgen mache ich einen Spaziergang in der sonnigen
Yassir-Arafat-Str.. Auf dieser Straße war ich im März 2002 auf der Höhe
der verlängerten  Ausgangssperre, den die IDF  über die Stadt verhängt hatte. Damals schrieb ich:
So
sieht die Stadt aus, die von der IDF (wieder)besetzt wurde: Die
Hauptstraßen sind verlassen und mit Trümmern bestreut. Mächtige
Panzerwagen stehen an allen Kreuzungen. Alle Türen, Fenster und Tore
sind verschlossen. Die Straßen sind von den Raupen der Panzer
verschrammt. Autos, die von den Panzern zerquetscht wurden, wurden zur
Seite der Straße geschoben. Telefonzellen, Strommasten und
Verkehrsinseln – alles zerstört. Steine, Ziegel, Haushaltsgegenstände,
verbrannte Reifen, verrostete Kessel und alte elektrische Geräte liegen
auf der Straße, vielleicht die Reste einiger schwacher
Widerstandsversuche … Die Todesstille, die in die Stadt eingetreten
ist, wird periodisch durch den Austausch von Schusswaffen gebrochen. Ab
und zu, knallt es in der Gegend … Der Anblick erinnert an Sarajevo im
Jahr 1993
.
Einen Monat später kehrte ich in die Stadt zurück, um die Situation unverändert zu finden, und schrieb: An
der Ecke der St.-Paul-V.- Straße und auf der Marktstraße sah ich die
Errungenschaften dieses Krieges … Ich war schon auf Straßen unter
Ausgangssperre,
aber niemals habe ich so eine Stille erlebt. Keine menschliche Stimme überquerte die Schwelle der Häuser, tödliche Stille, gespenstische Straßen. Die Stadt der Geburt (Jesu) ist die Stadt des Todes geworden.

Har Homa

Seitdem haben sich die Dinge natürlich geändert. Es
gibt keine israelischen Soldaten, keine Panzer, nur die Mauer, Har Homa
– buchstäblich “der Hügel der Mauer” – und die Depression.
Am Freitagmorgen, dem Ruhetag der Muslime, erinnert die Atmosphäre in den Straßen der Stadt an einen Schabbat-Morgen in Israel. Eine Aura der Ruhe. Alles
gibt Ihnen das Géfühl, sich im Ausland zu sein – schwer zu glauben, Sie
nur ein wenig mehr als eine Autostunde von Tel Aviv sind.
Der Gebrauch des Schekels ist eine schlichthaltige Erinnerung daran, wer hier das Sagen hat ist, wer souverän ist. Ein
Tourist aus Venezuela zahlt einen Straßenverkäufer aus dem
Deheishe-Flüchtlingslager mit einem Geldschein, der die Abbildung des
Dichters Shaul Tchernikhovsky trägt.
Könnte etwas verrückter sein?

Es
sind diese seltsamen Szenen, die an einem schönen Freitagmorgen kräftig
auf die schneidigen Fragen hinweisen: Was macht Israel hier?
Mit welchem ​​Recht fährt es fort, das Leben der Menschen hier zu verwalten? Mit welchem ​​Recht?

Der Krippenplatz, vor der Kirche der Geburt, brummt mit Touristen. Gruppen von Pilgern aus Ghana und den Philippinen, aus Russland und Kolumbien strömen in die Kirche, die restauriert wird. Sehr wenige Pilger bleiben über Nacht in Bethlehem, zum Ärger der lokalen Hoteliers, Kaufleute und Straßenverkäufer. Aus dem Gepâckraum eines alten Opel, mit einem Generator auf dem Dach, bereitet ein Mann süße rosa, Zuckerwatte. Er dreht den Stock und bereitet mehr und mehr Bündel, in Plastik gewickelt, die er am Auto hängt. Es ist nicht wahrscheinlich, dass so viele dieser Süßigkeiten heute in dieser traurigen Stadt verkauft werden.

http://tlaxcala-int.org/upload/gal_14987.jpg
Im
Restaurant Aftim Al-Yafawi, einem touristischen Lokal, das stolz darauf
hinweist, dass es im Jahre 1948 gegründet wurde, kostet eine Mahlzeit
von Hummus, Salat, Falafel mit einer Dose Sprite unglaubliche 15 Schekel
[=3,75 €].
Und
hier ist das Peace Center Restaurant, ein Souvenir aus den Tagen der
Wahnvorstellungen, die sich rasch in die Vergangenheit zurückziehen und
zu verblassenden Erinnerungen werden.