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«Das ist nicht die letzte Schlacht um Mosul»


Red,
Infosperber,
10. Nov 2016 – Mit der
Eroberung von Mosul sei es nicht getan, erklärt Journalist Nicolas Hénin, den
der IS zehn Monate lang gefangen hielt.  Red.
TV-Journalist Florian Inhauser interviewte in der spätabendlichen Sendung «#SRFglobal» vom 1.
November 2016 den französischen Journalisten Nicolas Hénin. Im Jahr 2013 war er
zehn Monate lang Geisel des IS in Raqqa.
Hénin gilt als einer der kenntnisreichsten Nahost-Journalisten Frankreichs. Er
berichtete unter anderem aus dem Irak, Libyen und Somalia. Übersetzung aus dem
Französischen: SRF.

Nicolas
Hénin, interviewt von Florian Inhauser© srf
«Das ist nicht die letzte
Schlacht um Mosul»
Florian
Inhauser: 
In Ihrem Buch «Jihad
Academy – Nos erreurs face à l’État islamique» schreiben Sie, der Leser werde
vielleicht überrascht sein, darin keinen Bericht über Ihre Gefangenschaft im
Jahr 2013 zu finden. Weshalb?
Nicolas
Hénin:
 Zunächst, weil es etwas
sehr Intimes ist. Und ich hätte dem IS eine zu grosse Freude gemacht, wenn ich
mit dem Leid, das sie mir zufügten, an die Öffentlichkeit gegangen wäre. Ich
wollte auch nicht bloss als das Terroropfer wahrgenommen werden, was ich ja
war. Ich war jedoch nicht nur Opfer, ich blieb in den zehn Monaten
Gefangenschaft Journalist. Ich behielt meine Fähigkeit zu beobachten und
analysieren.
Zu
welchem Schluss kamen Sie bei Ihrer Analyse?
Meine
Analyse ergab vor allem, dass der IS – dieses dschihadistische, terroristische
Phänomen IS – nicht das Böse schlechthin ist. Natürlich verteidige ich den IS
nicht! Doch er ist nicht das Böse, sondern das Symptom des Bösen. Er ist vor
allem der Ausdruck des Bösen und das Ergebnis einer zerrütteten Region. Löst
man das Problem der Zerrüttung nicht, so kann man das Symptom noch so lange
bekämpfen, aber es wird niemals komplett verschwinden.
Die
Art, wie man mit den Flüchtlingen aus Mosul umgeht, wird mitentscheiden, was
später in der Region geschehen wird. Das Ziel ist, Sicherheit für alle zu
schaffen. Wie wäre dies im Irak zu erreichen?
Es
braucht eine politische Lösung mit Bagdad. Doch das Problem ist, dass dies seit
2003 immer wieder gescheitert ist. Die Verantwortlichen in Bagdad haben stets
aus persönlichem Interesse oder aus Interesse für ihre jeweiligen
Gemeinschaften oder Parteien gehandelt. Die Sunniten werden sich stets für die
Sunniten einsetzen. Die Kurden sind in drei grosse Parteien aufgeteilt und
jeder arbeitet zugunsten seiner Partei. Die Schiiten arbeiten ebenfalls
zugunsten ihrer Parteien. Jeder arbeitet für sich und niemand arbeitet für den
Irak. Man sieht beispielsweise, dass Mosul von Panzern umgeben ist. Doch nur
die wenigsten dieser Panzer gehören zu etwas, das man als irakische Armee
bezeichnen könnte. Denn die irakische Armee ist eine Schimäre, es gibt vor
allem Milizen.
Sie
sagen, die Regierung in Bagdad sei nicht in der Lage, Frieden zu schaffen?
Die
Situation ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu lösen. Wenn die
Bedingungen beim Fall von Mosul nicht stimmen, wird es in sechs Monaten oder
einem Jahr einen neuen Kampf um Mosul brauchen. Dies ist bereits der dritte
Kampf um Mosul seit 2003. 2003 wurde Mosul von den USA eingenommen, 2014 vom
IS. Der IS brachte Mosul in nur zwei Tagen zu Fall. Die Bevölkerung in Mosul war
so verzweifelt und erschöpft, dass sie den IS einfach an die Macht liess, aus
purer Verzweiflung.
Alleine
2004 gab es zwei Kämpfe in Falludscha: einen im April und einen im November.
Der Kampf im April diente zu nichts, denn den USA gelang es nicht, die
Kontrolle zu übernehmen. Nur einige Monate später waren die Rebellen bereits
wieder an der Macht. Nimmt man Mosul nicht unter den richtigen Bedingungen ein,
braucht es nach sechs Monaten, einem Jahr oder fünf Jahren einen neuen Kampf.
Denn bis dahin wird wieder dieselbe oder eine andere Terrorgruppe die Stadt
kontrollieren.
Braucht
es eine Intervention von aussen?
Ich
weiss nicht, ob es jemanden von aussen braucht. Aber es braucht auf jeden Fall
einen diplomatischen Konsens, um die Probleme der Region zu lösen. Das zeigt
sich insbesondere in Syrien, also auf der anderen Seite der Grenze. Es gibt
eine Lähmung im Syrien-Konflikt. Die Syrer sind ausgeschlossen und haben
überhaupt keine Kontrolle mehr über die Entwicklung des Konflikts. Der Konflikt
wird komplett von aussen kontrolliert: Jede bewaffnete Gruppe, jede Partei
hängt von Unterstützung von aussen ab. Die Golfstaaten, die Türkei, der Westen
– sie alle unterstützen ihre Gruppen. Die Russen und Iraner unterstützen
ebenfalls ihre Gruppen. Im Endeffekt haben die Syrer keine Kontrolle mehr über
die Zukunft ihres Landes.
Wie
kann man dieses allgemeine Misstrauen überwinden?
Ich
glaube, die Welt muss zusammenhalten und deutlich kommunizieren, dass wir keine
Massaker an Zivilisten mehr dulden. Ausserdem dürfen die Verantwortlichen von
Kriegsverbrechen nicht straffrei davonkommen. Sobald bekannt wird, dass wir keine
Straffreiheit mehr dulden, können wir allen Bevölkerungsgruppen, allen
Gemeinschaften und selbst den kleinsten Minderheiten vermitteln, dass sie in
Sicherheit sind. Es ist wichtig, dass sich jeder sicher fühlt, damit man leben
kann und wieder Vertrauen sowie einen nationalen Zusammenhalt findet, um wieder
zusammenzuleben.
Dies
wird extrem schwierig. Denn seit einem Jahrhundert, seit dem Genozid an den
Armeniern, weiss man, wie Minderheiten in dieser Region zum Opfer werden
können.