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Zwischen Guernica und Aleppo

von Yacov Ben Efrat, 30/9/2016. Übersetzt von Milena Rampoldi, herausgegeben von Fausto Giudice, Tlaxcala
Original: Between Guernica and Aleppo

Seit mehr als einer Woche haben die syrische und russische Luftwaffen die Stadt von Aleppo bombardiert und terrorisiert. Sie haben dabei Männer, Frauen und Kinder getötet. Assad hat einen Luft- und Infanterieangriff angeordnet, um den Krieg zu gewinnen. Die Bodentruppen, bestehend aus irakischen Milizen, iranischen Revolutionsgarden, Hisbollah, Assadmilizen und russischen Elitesoldaten belagerten die Stadt. Letzte Woche starben mehr als 200 Menschen in Aleppo, und mehr als 2000 wurden verletzt. Sie werden von den 30 Ärzten behandelt, die sich dazu entschieden haben, in der Stadt zu bleiben. Krankenhäuser, Wasserpumpen und Rettungsstationen wurden gnadenlos mit bunkerbrechenden Waffen und Fassbomben gebombt, um die 250.000 Einwohner der Stadt zu zwingen, sich endgültig zu ergeben. Der von Assad geführte Krieg unter dem Motto „Assad, oder das Land brennt“ hat bisher einer halben Million Menschen das Leben gekostet.
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„Das syrische Guernica: wir sind allein!“, von Emad Hajjaj
Es wird hier keine Sieger geben. Syrien ist fast vollkommen zerstört. Die Hälfte der Bewohner ist aus dem Land geflohen. Hunderttausende werden in den Gefängnissen gefoltert und ausgehungert. Und Hunderttausende wurden vom Regime massakriert. Somit kann niemand von Sieg sprechen. Aber es gibt eine ganze Menge Verlierer. Was in Syrien geschieht, ist eine Niederlage für die Menschheit und diejenigen, die Aleppo mit Guernica vergleichen, liegen gar nicht so falsch.
Guernica, eine Stadt in der baskischen Region Spaniens, wurde von der NS-Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht. Die Deutschen kamen, um den faschistischen General Francisco Franco im spanischen Bürgerkrieg (1937) zu retten. Der Westen, der sich vor dem „kommunistischen Terror“ fürchtete, verhalf Franco mit Hilfe der Unterstützung von Hitlers Luftwaffe (in Guernica wurden mit Absicht Zivilisten angegriffen) zum Sieg im Bürgerkrieg. Das Ergebnis ist allgemein bekannt: Francos Sieg kündigte den Zweiten Weltkrieg an, in dem mehr als 50 Millionen Menschen den Tod fanden; Franco blieb bis 1975, 30 Jahren nach der Niederlage Hitlers, Spaniens Diktator.
In ihrer Ansprache vor dem UN-Sicherheitsrat nannte die US-amerikanische UN-Botschafterin, Samantha Power, die russischen Angriffe auf Aleppo barbarisch und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ihre Worte widersprachen vollkommen dem Standpunkt ihres Chefs. John Kerry führte über acht Monate mühsame Verhandlungen mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow, nach welchen die beiden Seiten einen Waffenstillstand vereinbarten, der dazu führen sollte, das fünfjährige Blutvergießen endlich zu beenden. Aber da gab es einen Haken: die Vereinbarung blieb vertraulich, weil die US-Amerikaner, im Unterschied zu den Russen, diese nicht öffentlich machen wollten. Die syrische Opposition, von der man ausging, dass sie dem Waffenstillstand entsprechend handeln würde, erhielt aber den Text der Vereinbarung nicht und blieb daher skeptisch gegenüber den Absichten der USA. Was an dieser nie verwirklichte Vereinbarung aber rätselhaft ist, ist, dass John Kerry sich verpflichtete, mit den Russen im Krieg gegen Jabhat al-Nusra zu ziehen, und dabei seine ursprüngliche Forderung hinsichtlich der Amtsenthebung Assads zurücknahm.
Die Vereinbarung wurde als eine erdrückende Niederlage für die USA durch Putin aufgefasst, da die USA den russischen Standpunkt akzeptierten. Dem russischen Standpunkt zufolge liegt das syrische Problem nicht beim mörderischen Regime von Assad, sondern bei der Opposition, die von den Russen als terroristisch definiert wird. Im Versuch, sich von der Bushverwaltung zu unterscheiden, verliebte sich die Obamaverwaltung in die Diplomatie, als wäre sie der magische Zauberstab, um alle internationalen Probleme zu lösen und der Atomdeal mit dem Iran der Heilige Gral der US-Außenpolitik wäre. Syrien, Irak und die Ukraine wurden auf diesem Altar geopfert.
Obama zufolge lässt sich der Syrienkrieg nicht militärisch, sondern nur politisch lösen. Er glaubt, dass Putin am Ende sehen wird, dass die militärischen Operationen in Syrien seine globale Situation nur noch verschlechtern und am Ende auch Putin den „intellektuellen“ Ansatz Obamas übernehmen wird. Putin wurde nicht in Harvard, sondern beim KGB erzogen, und seine Hauptaufgabe besteht in der Wiederherstellung des russischen Weltmachtstatus im Nahen Osten. Syrien ist nur da, um seine Strategie zu testen.
Die Feuerpause schlug nicht wegen der Brutalität des Assadregimes oder der Verweigerung der al-Nusra Front, diese einzuhalten, fehl, sondern ist auf die Missverständnisse zwischen US-Amerikanern und Russen zurückzuführen. Als Gegenleistung für einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme der humanitären Hilfe an die belagerte Stadt von Aleppo, forderten die Russen die Einrichtung einer gemeinsamen Militärzentrale mit den US-Amerikanern zwecks Bekämpfung dessen, was die Russen als „Terrorismus“ bezeichnen. Diese merkwürdige Bedingung wurde von Kerry angenommen, aber das US-Verteidigungsministerium stellte sich auf seine Hinterbeine und weigerte sich, mit der russischen Armee zusammenzuarbeiten. Und so stand man dem Einsturz des Waffenstillstandes sehr nahe.
Bald wurde klar, dass die Russen den Waffenstillstand als ein Mittel sahen, um die syrische Opposition vollkommen zu besiegen und Assad Syrien und der Welt aufzuzwingen. Es stellt sich heraus, dass die Russen, im Gegensatz zu Obama, der Meinung sind, der syrische Konflikt könnte militärisch gelöst werden. Des Weiteren haben sie offen erklärt, dass es keine politische Lösung des Konfliktes gibt. So versuchte Lawrow im Laufe der achtmonatigen Verhandlungen, Kerry davon zu überzeugen, dass Assad nicht das Problem ist, sondern eher die syrische Opposition. Kerry war fast überzeugt, bis die Russen einen UN-Konvoy bombardierten, der humanitäre Hilfe nach Aleppo brachte. Und zwei Tage später wurden die mörderischen Bombenangriffe Assads auf Aleppo wiederaufgenommen. Und die Lage eskaliert, während ich dieses schreibe.
Wie Guernica steht Aleppo symbolisch nicht nur für mörderische  und wahllose Barbarei, sondern auch für den vollständigen Zusammenbruch der internationalen Ordnung, der UN-Institutionen und des Sicherheitsrates. Seit dem Atomdeal mit dem Iran, haben die USA in der Außenpolitik ihre Orientierung verloren. Nach einem Jahr unnötiger Bemühungen zogen sie sich aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt ab; sie drückten wegen Syrien ein Auge zu und überließen die Krim den Russen; die USA haben zugelassen, dass die Welt den Launen hemmungsloser Führer wie Putin, Assad, Khamenei, Kim Jong und unseres eigenen Benjamin Netanjahu ausgesetzt ist. In einem gewissen Sinne ist Aleppo ein Test für die Menschlichkeit und ein Prolog der zukünftigen internationalen Konflikte. Aleppo stellte die Zerstörung des Viertels von Schujaijah in Gaza durch die IDF während der Operation Protective Edge in den Schatten. Es ist ein Test der Nationen, um die Gräueltaten und Kriegsverbrechen zu beenden, die sich am helllichten Tag ereignen.
Das Massaker von Aleppo ist Kains Zeichen auf Obamas Stirn. Seine Passivität und seine Verweigerung, eine Flugverbotszone zu erklären, um die Flüge der Luftwaffe von Assad zu unterbinden, sein Widerstand gegen die Ausstattung der Opposition mit Luftabwehrraketen, seine Kooperation mit den Iranern im Irak unter dem Vorwand des Kampfes gegen ISIS, seine wiederholten Erklärungen, nach denen die USA keine Interessen in Syrien hätten, seine Beharrlichkeit im Kampf gegen ISIS einher mit dem Verzicht des Kampfs gegen Assad und seine Unterstützung der Kurden zu Lasten der Türken — all diese führte zum Involvieren Russlands. Die  willkürliche Beschießung von Zivilisten und Krankenhäusern hinderte die Russen nicht daran, ein legitimer US-Partner zu werden, als wären die Russen eine „neutrale“ Partei im syrischen Bürgerkrieg.
Heute wurde Obama mobilisiert, um das politische Schicksal von Hillary Clinton zu retten. Donald Trump, ein Bewunderer Putins, gilt eine realistische Wahl für die  Präsidentschaft. Trump droht, Obamas „Hinterlassenschaft“ vom Erdboden zu tilgen. Putin nutzt die klitzekleine Gelegenheit, die es noch gibt, bis zur neuen US-Verwaltung, um das Schicksal Aleppos zu bestimmen. Das Schicksal von Aleppo wird das Schicksal der Region bestimmen. Die Welt nach Aleppo wird nicht die Welt sein, die sie war, bevor Russland all seine militärische Macht nutzte, um dem syrischen Volk das blutige Regime von Assad aufzuzwingen und seinen Durst nach Demokratie niederzuschlagen. Zu sagen, dass die russischen Bemühungen misslingen werden, ist so, als würde man sagen, Hitler wäre gescheitert. Historisch betrachtet war dies der Fall. Aber am Ende des 2. Weltkrieges, hatte Hitler Flüsse von Blut und Zerstörung hinterlassen, die man hätte vermeiden können, hätte sich die Menschheit zeitgemäß mobilisiert. Und wir haben aus der Geschichte nichts gelernt. Und so ist die Menschheit erneut dazu verdammt, einen unvorstellbaren Preis zu bezahlen.