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Jürgmeier: Der Mann, dem die Welt zu gross wurde. Variationen zur letzten Aussicht

Eine Rezension von Willy Spieler zu:

Jürgmeier: Der Mann, dem die Welt zu gross wurde. Variationen zur letzten Aussicht, Lectura- Verlag, Nürnberg 2001, 355 Seiten.


Die Texte, die Jürgmeier in diesem Band versammelt: brillante Essays
und Kolumnen, “verdichtet” mit Erzählungen und Gedichten, haben etwas
ebenso Beklemmendes wie Befreiendes. Das ist kein Widerspruch. Befreiung
beginnt mit der Aufklärung, die das, was ist, auf den Begriff
bringt. Der Autor weiss: Aufklärung ist das Gegenteil der “Höflichkeit”,
die “es für unziemlich erklärt, die Wirklichkeit beim Namen, die
Reichen reich und die Mächtigen mächtig zu nennen”. Diese Aufklärung
prägt die Arbeit von Jürgmeier, der dabei so gar keine Angst hat,
bürgerlich unmöglich zu werden.

Auch nicht die Angst, als Mann unmöglich, ein “Fahnenflüchtiger”, zu
werden. Noch nie habe ich Texte von einem Mann gelesen,, die eine so
scharfsinnige, scharfsichtige und engagierte Kritik am “Konzept Mann”
enthalten, an diesem “Versuch, alles unter Kontrolle zu bekommen”, auch
das “Unkontrollierbare schlechthin, Sexualität und Tod”. Jürgmeier weist
das “Konzept Mann” an immer neuen Beispielen nach, von der männlich
dominierten Kriminalität, zu der auch die Kriege zählen, bis zu seiner
“radikalsten und grauenhaftesten Erfüllung” im Faschismus. Umso
schlimmer, wenn gerade heute “die Sehnsüchte nach dem starken Mann”
wiederkehren.



Der Autor entwickelt auch Themen weiter, die für ihn zur Zeit der
Jugendbewegung wichtig waren. Inzwischen haben die Mächtigen die damals
reklamierte “Autonomie” mit eigenen “rechtsfreien Räumen” besetzt. Aber
jetzt geht es nicht um Kleinigkeiten wie “autonome Jugendhäuser mit
24-Stunden-Betrieb”, sondern um die Autonomie des Marktes, der
Großunternehmer und Megafusionäre. Jürgmeier wundert sich, wer alles
heute auf die Schweizer Fahne sprayt: “Macht aus dem Staat Gurkensalat!”



Auch aus dem Rechtsstaat, der 198off. den Jugendlichen um die Ohren
geschlagen wurde. Er ist nicht mehr, was er einmal hätte sein sollen.
Sein oberster Grundsatz verkehrt sich ins Gegenteil: Die Würde des
Menschen ist antastbar geworden. Was sind das für Zeiten, in denen unser
Autor träumt, “dass Menschen endlich wie Waren behandelt werden”. Freie
Fahrt hat, “was als Ware deklariert werden kann”, während bei Menschen
der Schlagbaum fällt.


Jürgmeiers Kritik ist nie selbstgefällig, sondern Ausdruck einer
Sehnsucht nach Harmonie, vor allem zwischen den Geschlechtern. Er werde
“immer wieder den Graben zwischen Wirklichkeit und Vision aufreissen”,
lesen wir in der ergreifenden Abdankungsrede für den Vater. Die Vision –
das wäre die “Desertion”, in der die “Liebe tatsächlich die Gräben des
Geschlechts und der Klassen” überwinden würde, oder die Utopie, “dass
der Mensch dem Menschen ein Mensch sei.”