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Inklusion: eine mögliche Reise zwischen Italien und Deutschland


Von Chiara Giorgi, Artemisia, Oktober 2016, deutsche Übersetzung von Milena
Rampoldi, ProMosaik. Am 26. März 2009 hat Deutschland die Europäische
Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung unterzeichnet und hat
sich in diesem Rahmen zur Schließung der Sonderschulen verpflichtet, um alle
SchülerInnen (unabhängig von ihren besonderen Anforderungen) in die Lage zu
versetzen,  zusammen in ein und derselben
Klasse zu lernen.

Dieser erste Schritt in Richtung schulischer und sozialer
Inklusion hat viele Zweifel aufgeworfen; viele Lehrer, Eltern und Fachkräfte,
die in diesem Bereich tätig sind, und die Politiker kritisieren das neue System
und haben so ihre Bedenken, wenn es um die Eingliederung von Kindern mit
Behinderung in die „normalen“ Klassen geht. Die Bedenken werden sei es bildungstechnisch
als auch wirtschaftlich begründet: die Lehrer der „normalen“ Klassen verfügten nicht
über die ausreichenden Kenntnisse, um eine solche Veränderung zu durchlaufen. Außerdem
würde die Inklusion eine finanzielle Anstrengung erfordern, die sich
Deutschland weder leisten kann noch will.

In diesen sieben Jahren haben diese Zweifel bewirkt, dass die Unterzeichnung
des Abkommens nur eine rein mechanische Geste war, mit dem Ziel ein Puzzle von
Staaten im Bereich des Personenrechtes ähnlich zu gestalten. Die Resolution vom
3.12.2008, so der Bundestag, sieht vor, dass die Konvention der Vereinten
Nationen eine Schule mit einem „inklusiven Bildungssystem“ fordert.
In der Praxis wird den Ländern der BRD und den Schulen vor Ort weitgehend
Autonomie gewährt. Sie entscheiden über den Bildungsverlauf der „normale
Begabten“ und der „Anderen“, die rigoros voneinander getrennt werden, sodass
sich deren Schicksale niemals treffen. Dies wäre ein Vorteil für die „Normalen“,
die nicht die Gefahr laufen dürfen, in ihrem Fortschritt gebremst zu werden.
Und auch für die „Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten“ (oder Menschen mit
Behinderung oder Behinderte, wie man sie in Deutschland nennt) wäre die
Trennung besser, da sie dadurch den frustrierenden Vergleich mit der unerreichbaren
Normalität vermeiden. All dies zur Erleichterung der Eltern, Lehrer und
Institutionen.
Aber das Abkommen und die Unterzeichnung desselben belasten das Gewissen
Deutschlands, obwohl es ein ungewollte Maßnahme war. Denn Deutschland schleppt
sich weiterhin seine historischen Schuldgefühle mit und möchte sie nicht noch
erschweren. Die Rechte der Menschen mit Behinderung laufen die Gefahr, eine
unerträgliche Last für einen starken und unangreifbaren Staat wie den Deutschen
tragen zu müssen.
Italien hat diese Problematik, die Deutschland heute schwer belastet, schon
seit vierzig Jahren hinter sich. In Italien hat man einen positiven Moment der
Veränderung genutzt, als Werte und Prinzipien global in Frage gestellt wurden.
Eine Gruppe aufgeklärter Gesetzgeber hat in den Siebziger Jahren revolutionäre
Gesetze erarbeitet und verabschiedet, die die Möglichkeit geboten haben, eine
ethische und moralische Veränderung zu bewirken, die von der bereits dazu
bereiten Gesellschaft aufgenommen wurde.
Die schulische Inklusion war in Italien eine soziale Inklusion, die aber
nicht überall erfolgreich war. Nach vierzig Jahren gibt es noch Fälle von
Diskriminierungen und Missständen auf dem Gebiet der Inklusion, und viele beklagen
sich noch über die vielen Unzulänglichkeiten. Man beklagt sich aber über die
Kürzungen der staatlichen Gelder, weil die schulischen Strukturen kollabieren,
weil die Stunden mit den Nachhilfelehrern reduziert werden und weil man in
einigen Schulen den Mindestanforderungen an die Materialien nicht gerecht wird.
Die Italiener beklagen sich. Vielleicht besteht darin der große Unterschied zu
Deutschland. Italien beklagt sich, aber stellt das Inklusionsmodell nicht in
Frage. Man ist gemeinsam empört; die Missstände führen zu Skandalen. In der
Zeitung erscheinen Artikel mit diesen empörten Reaktionen.
In Deutschland hingegen hinterfragt man das Modell an sich. Man fragt sich,
ob dieses Modell legitim sei, ob es nicht besser wäre, Menschen voneinander zu
trennen, damit die beiden Systeme, das „normale“ und das „andere“, laufen. Zwei
getrennte Bereiche, zwei Welten, die sich nur im Alltagsleben berühren: in der
U-Bahn, in den Läden und Parks und auf den Straßen. Denn diese Bereiche lassen
sich nicht trennen. Es ist schwierig, eine Linie zu ziehen und zu sagen: wir
stehen auf dieser Seite, ihr auf der anderen. Es ist schwierig, diese Linie zu
ziehen, wenn Europa als Leitgedanke ins Leben gerufen wurde, um Linien und
Grenzen zu überwinden. Und wenn man die Linien und Grenzen nicht ganz aus der
Welt schaffen kann, dann kann man sie zumindest dünner und unsichtbarer
gestalten, um global daran zu arbeiten, sie vollkommen zu überwinden.
Artemisia verfolgt das Ziel, einen Dialog zwischen den beiden Ländern ins
Leben zu rufen. Sie haben zwar eine verschiedene Geschichte und
unterschiedliche Gesetze, aber sie gehören zu ein und demselben Puzzle. Und sie
gehören noch mehr dazu, seit sich die Reisemöglichkeiten verbessert haben und
die Grenzen sich immer dünner gestalten, was eine massive Migration von Italien
nach Deutschland ermöglicht hat. Die Migranten bringen Erfahrungen, Ideen und Lebenseinstellungen
mit, die sich von denen des Gastlandes unterscheiden. Und diese Migration
stellt für Deutschland eine Chance dar. Deutschland kann aus den positiven und
negativen Erfahrungen Italiens lernen. Denn in Italien wird das
Inklusionsmodell seit vierzig Jahren umgesetzt. In Deutschland hingegen tut man
sich immer noch schwer, sich diesem Modell anzunähern, obwohl die Konvention
schon seit sieben Jahren unterzeichnet ist.
Vielleicht kann Deutschland, dank dem Dialog und Vergleich mit der
italienischen Realität den entscheidenden Schritt wagen, sich mit mehreren
Mitteln den Gefahren der Inklusion zu stellen. Die Risiken einer Gesellschaft,
in der das Ziehen von Linien zu einem Skandal anstatt zu einer wünschenswerte
Realität werden kann.
Ich möchte nochmal an die Worte meiner Geschichtelehrerin, Maria Rosa
Zanasi, erinnern, die während des Bürgerkundeunterrichts Folgendes sagte, um
uns zur Diskussion anzuregen: „Die schlimmste Demokratie ist wünschenswerter
als die beste Diktatur.“
Wir von Artemisia sind hier, um zu sagen: „Die schlimmste Inklusion ist
immer noch wünschenswerter als die beste Trennung.“
Wir von Artemisia möchten dieses heikle Thema im Rahmen des nächsten
Treffens beim Ane, Arbeitskreis neue Erziehung besprechen.
Das Thema  des Treffens lautet:
Inclusione scolastica: un viaggio possibile tra Italia e Germania (Schulische
Inklusion: eine Reise zwischen Italien und Deutschland)
Referenten: Amelia Massetti, Gründerin von Artemisia, Chiara Giorgi,
Nachhilfelehrerin in Italien, Alice Marchetto, Psychologin und Barbara Ricci,
Moderatorin.
Wann: am 7. November um 18 Uhr
Wo: beim ANE Arbeitskreis Neue Erziehung e.V., Hasenheide 54, 10967  Berlin
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