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Ordnungsmächte

von German Foreign Policy, 12. September 2014. Der für heute geplante Beginn des Waffenstillstands in Syrien versetzt den machtpolitischen Ambitionen Berlins einen Dämpfer. Die Feuerpause ist zwischen Washington und Moskau ausgehandelt worden; während Russland damit punktuell im Nahen und Mittleren Osten wieder auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten gelangt ist, bleibt Berlin, das seinerseits “Ordnungs”-Ansprüche im Nahen und Mittleren Osten erhebt, außen vor. 

Gegenüber den Hoffnungen, die die Bundesregierung sich vor vier Jahren machte, ist das ein deutlicher Rückschlag: Damals gingen deutsche Regierungsberater und Außenpolitiker daran, gemeinsam mit syrischen Oppositionellen Pläne für den Neuaufbau Syriens nach Assads Sturz zu erarbeiten, mit dem man damals rechnete. Die Realisierung der Planungen hätte Deutschland exklusiven Einfluss gesichert, Russland hingegen machtpolitisch aus Syrien verdrängt. Daraus ist nichts geworden. Dabei kann der Waffenstillstand keinesfalls als stabil gelten. Zum einen ist nicht klar, ob die aufständischen Milizen ihn respektieren; zum anderen ist ungewiss, inwieweit Washington sich tatsächlich darauf einlassen wird, gemeinsam mit Moskau, wie beschlossen, auch den Al Qaida-Ableger Jabhat al Nusra beziehungsweise dessen Nachfolger Jabhat Fatah al Sham anzugreifen. Dieser kooperiert so eng mit angeblich gemäßigten Milizen, dass die USA in Gefahr geraten, bei Schlägen gegen Fatah al Sham Verbündete des Westens mitzubombardieren.
Gemeinsam gegen Jihadisten
Der Waffenstillstand in Syrien, auf den sich die Vereinigten Staaten und Russland Ende der vergangenen Woche geeinigt haben und dem die syrische Regierung laut russischen Angaben zustimmt, soll am heutigen Montag in Kraft treten. Er soll zunächst humanitäre Hilfe für alle zur Zeit belagerten Orte Syriens ermöglichen. Als eigentliche Überraschung gilt, dass Washington und Moskau in Zukunft gemeinsam militärisch gegen die in Syrien operierenden Jihadisten vorgehen wollen. Dazu werden sie eine “Joint Intelligence Group” einrichten, die verfügbare Kenntnisse und Informationen sammelt und Luftschläge nicht nur gegen den “Islamischen Staat” (IS/Daesh), sondern auch gegen den Al Qaida-Ableger Jabhat al Nusra beziehungsweise dessen Nachfolger Jabhat Fatah al Sham koordiniert. Das ist insofern neu, als die USA Al Nusra/Fatah al Sham bisher weitestgehend haben gewähren lassen. Hintergrund für den Kurswechsel ist offenbar, dass unter US-Experten Stimmen lauter werden, die warnen, Al Qaida fasse in Syrien immer stärker Fuß und wolle das Land zu einer stabilen Basis ausbauen, um von dort aus gezielte Attacken gegen die westlichen Mächte vorzubereiten – nicht unähnlich der Praxis von Al Qaida in Afghanistan bis zum Herbst 2001.[1]
Im Bündnis mit Al Qaida
Als entscheidende Frage gilt aktuell, wie umfassend Washington sich tatsächlich auf Luftangriffe gegen in Syrien kämpfende Jihadisten jenseits des IS/Daesh einlassen wird. Der Syrien-Experte Charles Lister weist darauf hin, dass die aufständischen Milizen “von Deraa im Süden über Damaskus bis in den gesamten Nordwesten” Syriens an der Front weitgehend gemeinsame Sache mit Jabhat al Nusra/Jabhat Fatah al Sham machen. Sogar die angeblich gemäßigten Milizen, von denen so manche von den NATO-Mächten politisch, militärisch und logistisch unterstützt werden, seien nicht bereit, ihre bisherige militärische Kooperation mit Jabhat Fatah al Sham einzustellen, berichtet Lister.[2] Luftangriffe gegen Fatah al Sham würden also in nicht wenigen Fällen auch sie treffen. Dasselbe gälte wohl auch für Ahrar al Sham, eine der stärksten Milizen, die Al Qaida nahe steht und inzwischen auch von US-Experten als deren Instrument zur Gewinnung von Einfluss in Syrien eingeschätzt wird.[3] Ahrar al Sham wurde noch zu Jahresbeginn auf Druck unter anderem von Außenminister Frank-Walter Steinmeier in die Genfer Friedensverhandlungen eingebunden – gegen starken Widerstand der russischen und der syrischen Regierung.[4] Auch die Türkei hat kürzlich beim Einmarsch in Syrien mit der Miliz kooperiert. Ließen die USA sich erstmals auf ein umfassendes Vorgehen gegen Jihadisten ein, dann läge die bisherige Bündnisstrategie der NATO-Staaten in Syrien in Trümmern.
Instabile Feuerpause
Abgesehen davon ist allerdings unklar, ob der Waffenstillstand überhaupt halten wird. Im Frühjahr war es Al Qaida/Al Nusra gelungen, den damaligen Waffenstillstand gemeinsam mit Ahrar al Sham systematisch zu Fall zu bringen (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Aufgrund der soliden Verankerung des Al Nusra-Nachfolgers Jabhat Fatah al Sham unter Syriens aufständischen Milizen gilt es als gut denkbar, dass diese in der Lage sind, die Feuerpause auch diesmal wieder erfolgreich zu sabotieren. Die jahrelange wohlwollende Billigung der syrischen Jihadisten durch den Westen und ihre Förderung durch dessen engste regionale Verbündete [6] trägt Früchte.
Auf Augenhöhe mit den USA
Der Bundesregierung bringt der Waffenstillstand rein machtpolitisch betrachtet einen Dämpfer. Zwar hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier ihn als “echte, neue Chance für den so dringend benötigten humanitären Zugang zu Hunderttausenden Menschen in Not” gelobt und dazu aufgerufen, “die jetzt zwischen Washington und Moskau getroffenen Vereinbarungen einzuhalten und das Kämpfen spätestens am Montag einzustellen”.[7] Dessen ungeachtet ist die Tatsache, dass die Feuerpause zwischen Washington und Moskau ohne Beteiligung Berlins ausgehandelt wurde, ein Rückschlag für die deutschen Bestrebungen, allgemein in der Weltpolitik und besonders im “Krisengürtel” rings um Europa machtpolitisch eine stärkere Rolle zu spielen (german-foreign-policy.com berichtete [8]), während Russland einen jedenfalls punktuellen Wiederaufstieg zur “Ordnungsmacht” in Nah- und Mittelost verzeichnen kann [9]. Vor rund vier Jahren schien Berlin seinen machtpolitischen Zielen näher als heute: Während Experten die Regierung Assad damals kurz vor dem Sturz sahen, kamen regelmäßig syrische Exilpolitiker in der deutschen Hauptstadt zusammen, um – angeleitet von Regierungsberatern und Fachleuten aus dem Auswärtigen Amt – Pläne für den Wiederaufbau Syriens zu erstellen.[10] Aus dem Vorhaben der Bundesregierung, auf diese Weise unmittelbaren Einfluss auf ein prowestlich gewendetes Damaskus zu erlangen – bei gleichzeitigem Abdrängen Russlands -, ist nichts geworden. Stattdessen ist Moskau nun im Syrien-Krieg wieder auf Augenhöhe mit Washington gelangt.
Mehr Bundeswehr
Die Bundesregierung wird ihre Einflussaktivitäten im Nahen und Mittleren Osten daher ausweiten. Als mutmaßlich nächster Schritt gilt Entsendung deutscher Soldaten zur Bedienung von NATO-Awacs-Flugzeugen auf die Luftwaffenbasis im türkischen Incirlik. Dort sind bereits jetzt rund 240 Soldaten der Bundeswehr stationiert, die mit “Tornado”-Kampfjets und einem Tankflugzeug Einsätze im Krieg gegen den IS/Daesh vorbereiten und begleiten.[11] Die Luftwaffe richtet sich in Incirlik nun mit Baumaßnahmen im Wert von zweistelligen Millionensummen langfristig ein. Laut Berichten hat das Verteidigungsministerium soeben 58 Millionen Euro freigegeben, mit denen ein eigenes Flugfeld für die Tornados sowie Unterkünfte für die deutschen Soldaten errichtet werden sollen. Zudem werde man einen hochmodernen mobilen Gefechtsstand für Incirlik beschaffen, teilt die Bundeswehr mit.[12] Die Ausweitung des Krieges auf Luftangriffe gegen Jabhat Fatah al Sham wird auch die Aktivitäten der Bundeswehr betreffen, die ohnehin durch die mutmaßlich baldige Entsendung zusätzlicher Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Awacs-Stationierung noch stärker als bisher in den Syrien-Krieg involviert wird. Die zunehmenden Bundeswehraktivitäten im Nordirak kommen hinzu (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Die kontinuierlich zunehmenden Militäroperationen sind das Mittel und der Preis der neuen deutschen Weltpolitik, die Berlin dem noch nicht erreichten Ziel, im “Krisengürtel” rings um die EU zur führenden Macht zu werden, näherbringen soll.