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Interview mit dem Fotografen Christian Tasso

Von Amelia Massetti, Artemisia, 2. September 2016, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi von
ProMosaik.
„Die Augen, die das Unglück sammeln, müssen trocken
bleiben“, Maurizio Chierici
Quindicipercento, raccontare la disabilità
Dhan Maye Mihar lebt mit ihrer Familie in der Gemeinschaft der Steinbrecher am Flussbett in 
Nepal, © Christian Tasso
Quindicipercento, raccontare la disabilità
Vater und Sohn arbeiten auf dem Feld in Ecuador. © Christian Tasso
Ich hatte die Ehre, den weltbekannten italienischen Fotografen
Christian Tasso zu treffen. Er hatte Artemisia kontaktiert, um Informationen
und Unterstützung zu erhalten, um das Netzwerk rund um die Menschen mit
Behinderung hier in Berlin zu erkunden.
Tasso hat dank seinem Projekt “quindicipercento” (zu
Deutsch: fünfzehn Prozent) eine gewisse Berühmtheit erlangt. Es handelt sich
hierbei um eine fotografische Recherche über die Behinderung in der Welt. Zu
diesem Thema hat Christian ein Buch veröffentlicht und auch mit großem Erfolg
eine fotografische Ausstellung in Mailand organisiert. Er hat mit dem „Teil der
Menschheit zusammengearbeitet, die trotz der Barrieren seinen Weg fortsetzt“.
Diese Treffen im Laufe von zwei Wochen haben mich
persönlich sehr bereichert, sei es wegen der Gespräche und des Austausches
verschiedener Standpunkte, als auch wegen der Ehre, ihn logistisch bei der
Realisierung seines neuen Projektes in verschiedenen europäischen Ländern,
worunter auch in Deutschland, begleiten zu dürfen.
Anbei finden Sie mein Interview mit ihm.
Amelia Massetti: Christian, du bist nach Berlin gekommen
und hast Kontakt mit Artemisia aufgenommen, um dein fotografisches Projekt „quindicipercento“
weiterzuführen. Könntest du mir mehr von deiner Arbeit erzählen?
Christian Tasso: Ich arbeite gerade an einer Reihe von
Fotos über die Behinderung in der Welt: ich reise in zahlreiche Länder, um zu
erzählen, wie die Menschen mit Behinderung dort leben. Ich habe mich
entschieden, 2016 nach Berlin zu kommen, weil Berlin eine der barrierefreisten
Städte der EU ist.  
Ich bin hier, weil ich es im Rahmen meiner
Forschungsarbeit für wichtig halte, von dieser Realität zu berichten. Ich
möchte einfach versuchen zu verstehen, was es bedeutet, in einer Stadt zu
leben, die fast völlig frei von architektonischen Barrieren ist und auch
überprüfen, ob die Überwindung der architektonischen Barrieren auch zur
Überwindung der kulturellen Barrieren führt, die sehr schwieriger zu überwinden
sind.
AM: Was hat dich auf deiner
künstlerisch-fotografischen Laufbahn dazu bewegt, dem Thema der Behinderung
Vorrang einzuräumen? 
CT: Ich kam zufällig mit meiner Fotografie in Kontakt mit
der Behinderung, als ich 2009 für eine italienische NRO in den
Sahrawi-Flüchtlingslagern in Südalgerien tätig war. Ich erzählte die
Geschichten der Menschen mit Behinderung in jener fragilen gesellschaftlichen
Realität. Und seitdem wuchs der Wunsch in mir, eine ausgedehntere
Forschungsarbeit zum Thema weltweit in die Wege zu leiten. So nahm das Ganze
seinen Anfang. Ich versuchte durch Hunderte kleiner Geschichten, die dann zu
einer größeren Erzählung zusammenfinden, viele unterschiedliche Länder
miteinander zu verbinden.
AM: Welche Zielsetzung verfolgst du mit dem Projekt „quindicipercento“?
CT: Ich möchte mit diesem Projekt eine Fragestellung
vorbringen und die Menschen zum Nachdenken anregen über eine Realität, die den
meisten gar nicht bekannt ist oder die von der Mehrheit der Menschen einfach
nur ignoriert wird.
AM: Du hast eine Ausstellung in Mailand organisiert und
hast auch viele Anerkennungen erhalten. In Kürze wirst du auch eine Ausstellung
in Venedig und in anderen europäischen Städten organisieren. Möchtest du auch
eine in Berlin machen?
CT: Natürlich. Wenn der Rahmen stimmt, würde ich sehr
gerne meine Fotos auch in Berlin ausstellen.
AM: Möchtest du in dieses Projekt der Fotoausstellung in
Berlin auch Artemisia einbeziehen?
CT: Mit Sicherheit. Das wäre eine gute Gelegenheit, um
über die Fotoausstellung auch den Berliner Verein Artemisia vorzustellen.
AM: War das Treffen mit dem Verein Artemisia für dich
nützlich?
CT: Als Italiener habe ich vorab alle italienischen
Vereine aufgesucht, die sich in Deutschland mit dem Thema der Behinderung
befassen, um eine flüssigere Einführung in die deutsche Realität zu erhalten.  
Ich bin auf den Verein Artemisia gestoßen und habe
direkten Kontakt mit der Gründerin Amelia Massetti aufgenommen, die mir alle
Türen geöffnet hat, um meine Geschichten zu finden. Mir ist es somit gelungen,
in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu kommen. Und von dort aus habe
ich eine Reihe von Verbindungen und Kontakten hergestellt, über die ich an die
Informationen gekommen bin, nach denen ich suchte.
AM: Wie verhältst du dich, wenn du Menschen mit
Behinderung begegnest. Verspürst du eine gewisse Emotion, leidest du oder sind
diese Menschen für dich nur der Gegenstand bzw. die Person, den bzw. die du
fotografierst?
CT: Ich gehe mit Ihnen um wie mit allen anderen Menschen.
Ich denke nicht, dass körperliche oder geistige Unterschiede einen
ausreichenden Grund darstellen, um meine Art und Weise zu ändern, auf Menschen zuzugehen
und mit ihnen in Kontakt zu treten.
AM: Wir waren auch beim Thikwa-Theater und du hast
versucht, die Bedeutung deines Projektes darzulegen, in dem du möchtest, dass
die Definition der Normalität irgendwie aus der Welt verschwindet. Könntest du
näher erklären, was du damit meinst?
CT: Darauf möchte mit einer Frage antworten: was bedeutet
Normalität?
Es ist nicht meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten.
Christian Tasso gibt die Hoffnung nicht auf, durch die
von ihm gesammelten Geschichten das Thema der Behinderung weltweit ein wenig zu
beleuchten und dass diese Geschichten eines Tages die Menschen von der Angst
vor dem Anderen, die in allen von uns vorhanden ist, zu befreien.
Seine Bilder dokumentieren, erwecken Emotionen, berühren,
denunzieren und tragen dazu bei, die Sichtweise unserer Welt zu verändern.