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Giacomo Mazzariol im Gespräch mit Amelia Massetti über die Literatur der Diversität und Inklusion


Von Amelia Massetti, Artemisia, 29. September 2016, deutsche Übersetzung
von Milena Rampoldi, ProMosaik. Interview mit Giacomo Mazzariol.
In Frankfurt am Main hatte ich die Gelegenheit, Giacomo Mazzariol
kennenzulernen. Er wurde vom Verein Italia Altrove eingeladen, um sein Buch “Mio
fratello rincorre i dinosauri” (Mein Bruder läuft den Dinosauriern nach), das
von Einaudi veröffentlicht wurde, vorzustellen. Ich hingegen habe ihm das
Projekt Artemisia vorgestellt. Natürlich habe ich die Gelegenheit genutzt,
diesen jungen Schriftsteller zu interviewen. Er hat mich mit seiner Ironie und
Frische fasziniert, mit denen er vor allem die Jugendlichen anspornt, die
Menschen mit Down-Syndrom zu akzeptieren. Denn diese sollen nicht mehr als
unerwünscht angesehen werden, sondern als ein zu entdeckendes Potential.
 

Quelle: booksblog.it
Amelia: Giacomo, du bist hier in Frankfurt, weil dich der Verein Italia Altrove
eingeladen hat. Wie kamst du auf die Idee, ein Buch zu schreiben? Wie hast du
darauf reagiert, als man es dir vorgeschlagen hat?
Giacomo: Zu Beginn konnte ich es kaum glauben, dass jemand Interesse an meiner
Geschichte haben könnte. Ich dachte sogar, ich hätte keine Geschichte. Ich
hatte nicht darüber nachgedacht, was ich mit Giovanni durchgemacht hatte, aber
ich hatte einfach gelebt. Mein Leben war glücklich. Mit meinem Bruder war ich
sehr glückilich. Die riesige Freude hatte die traurigen Zeiträume bei weitem
übertroffen. Ich hatte nie über die tieferen Aspekte nachgedacht. Somit hatten
sie das Glück, mit ihrer Anfrage auf eine Person gestoßen zu sein, der das
Schreiben wirklich Spaß machte, denn ich liebe das Schreiben.
Amelia: Hattest du Angst vor dem Schreiben?
Giacomo: Ich wusste, dass ich nicht schreiben konnte. Geschichten zu schreiben war
natürlich eine Sache, und ein Buch zu schreiben eine andere. Somit ging ich
davon aus, dass sie es mir beibringen sollten. Der Verlag Einaudi, der sich an
mich wandte, nachdem er ein erfolgreiches Video von mir gesehen hatte, hatte
mir einen Schriftsteller zur Seite gestellt, der mich korrigierte und somit
verschwand meine Angst und alles wurde einfacher. Ich hatte Angst, es nicht zu
schaffen und nicht interessant zu sein. Denn ich dachte, dass einer, der eine
Geschichte sieht, in der man von besonderen Problemen spricht, das Interesse
daran verliert, das Buch zu lesen. Ich wollte für die Jugendlichen schreiben
und ihnen die Geschichte von zwei Brüdern erzählen, die sich gerne haben und
gemeinsam die Gesetze dieser Welt und das Wahre und Falsche entdecken. Die
Herausforderung bestand darin, die Jugendlichen dazu anzuspornen, die
Geschichte  zu lesen. Ich hatte einen
imaginären Leser, einen, der nie las, vor Augen und somit dachte ich, ob er es
lesen würde… “Auch dieser vollkommen desinteressierte Junge sollte es lesen,
denn mein Buch sollte für die Jugendlichen ganz normal sein.”
Amelia: Wie alt warst du, als du mit dem Schreiben angefangen hast? Hat sich nach
diesem unerwartet erfolgreichen Video in deinem Schreibprozess und vor allem in
der Beziehung zu deinem Bruder etwas geändert?
Giacomo: Ich war 18 Jahre alt. Und mit meinem Bruder lief alles super und manchmal
gab es auch Prügeleien. Was sich verändert hat, was ich jetzt nach Hause
bringe: es ist nicht das Buch, das Produkt oder der Zugang zu dieser Welt. Ich
habe mich hingegen ins Schreiben verliebt. Ich habe verstanden, dass die
Erfahrung, einen Zug zu versäumen so interessant sein kann wie ein Treffen mit
Obama. Alles hängt nur davon ab, wie du es ausdrückst und was du reinsteckst. Warten
wir mal ab!
Amelia: In diesem Buch sprichst du von der Beziehung zur Zeit. Diesen Aspekt habe
ich durch meine Tochter kennengelernt (sie hat auch das Down-Syndrom und hat
kein Zeitgefühl). Der Satz aus deinem Buch, in dem du sagst, dass dein Bruder,
wenn er mit einer Freundin ins Kino geht, nach Haus kommt und sagt, er hätte
geheiratet. Wie hast du diese Situationen der Diversität erlebt, als du als
Junge verstanden hast, dass dein Bruder nicht deinen Erwartungen entsprach und
nicht der Superheld ist, von dem zu sprichst? Wie hast du diese Entwicklungen
persönlich erlebt?
Giacomo: Ich merkte schon, dass er sonderbar war. Aber auch wenn ich einen sah,
der die Türen zog anstatt sie zu schieben, so habe ich auch dies als sonderbar
aufgefasst.
Die körperlichen Beschränkung von Gio, die Tatsache, dass er keine Kapriolen
schlagen konnte, fand ich auch bei meinen Freunden wieder. Aber ihre
Beschränkungen waren für mich nicht von Interesse. Denn die Beschränkungen von
Gio waren viel sichtbarer. Daher dachte ich auch nicht, es wäre möglich, zu
seinem besten Freund zu werden, sondern nur zu seinem Aufpasser. Danach habe
ich aber die richtige Brille aufgesetzt und habe sehr wohl die Beschränkungen
der anderen und auch meine wahrgenommen. Und so wurden die Einschränkungen von
Gio zu kleinen Details, die im Vergleich zu seinen Fähigkeiten nichts sind. Ich
begann auch zu sehen, wie schwer ich mich mit den Sachen tue, die er hingegen
mit totaler Leichtigkeit erledigt.  
Amelia: War die soziale Integration deines Bruders mit dem Down-Syndrom in
Italien, wo es im Gegensatz zu Deutschland seit 40 Jahren die Inklusion gibt,  einfach oder wurde er in einigen Situationen
diskriminiert oder nicht akzeptiert? Oder hast du selbst als Bruder gespürt,
dass es Freunde gab, die sich wegen deines Bruders von dir distanzierten?
Giacomo: Es gab Fälle, in denen ich ihn gehänselt habe. Das passiert aber bei
allen. Und er ist sehr sozial und hat viele Freunde, und in der Schule fühlt er
sich sehr wohl. Seine Freunde hat er sich immer nach ihrer Sensibilität ausgesucht.
Ich habe auch Freunde, die nicht sehr intelligent sind. Meine Freunde kamen zu
mir nach Hause. Sie hatten Spaß mit meinem Bruder. Und als sie bei uns schliefen,
weckte Gio sie auf und sie lachten; in meiner Erfahrung gab es diesen
Ausschluss nie. Manchmal war es sogar Gio, der die Freunde ausschloss, die ihn
störten und deshalb eine Eintragung bekam.
Amelia: Im Film, den ihr gerade mit dem Produzenten Checco Zalone macht, wird
auch ein Schauspieler mit Down-Syndrom spielen, oder?
Giacomo: Ein autistisches Kind kann man vielleicht noch spielen, aber ein Down-Kind
kann man nicht nachmachen … Das müssen wir noch entscheiden, obwohl Gio und ich
nicht die Protagonisten spielen werden.
Ich habe entdeckt, dass im Film die Beziehung zwischen dem Drehbuch und der
Idee und dann die Realisierung des Films auf das Drehbuch verschoben wird.
Somit sind schöne Dialoge, eine dynamische und schöne und sinnvolle Geschichte
ausschlaggebend. Natürlich ist es ganz etwas anders, wenn Profis die Rollen
spielen. Aber das Wesentliche sind die geschriebenen Worte.
Amelia: Deine Zukunft hat schon in deiner Jugend begonnen. Was denken deine
Freunde darüber? Geben sie dir Mut?
Giacomo: Meine Freunde waren von Anfang an in mein Buchprojekt involviert. Ich
sendete ihnen auch immer Teile des Buches zu. Ich bin sehr beschäftigt. Aber
wenn ich dann keine Zeit mehr zum Leben habe, dann macht mein Leben für mich
keinen Sinn mehr. Ich versuche Zeit mit meinen Lieben zu verbringen. Bisher
schaffe ich es noch, alles unter einen Hut zu bringen, aber es wäre nicht gut,
das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Bisher kann ich auf meine Freunde
zählen.
Amelia: Welchen Eindruck hast du von dieser Veranstaltung von Italia Altrove in
Frankfurt am Main? Dein Buch wird auch ins Deutsche übersetzt. Du bist auf dem
Weg nach Düsseldorf. Und auch wir von Artemisia planen eine Buchpräsentation
mit dir in Berlin. Welchen Eindruck hast du von Deutschland?
Giacomo: Ich habe viele Geschichten gehört. Und bei jeder Präsentation sammle ich
neue Erfahrungen. Und dies bereichert mich. Es ist immer interessant, ein neues
Land kennenzulernen, auch wenn man nur wenige Tage bleibt. Jede Präsentation
ist eine schöne Erfahrung, wenn man sie lebt und gibt und nimmt. Aber es geht
darum, mehr zu geben als zu nehmen. Dann kommst du wieder nach Hause, mit
einigen Sätzen oder zwei Anekdoten, die sie dir erzählt haben. Du bist
bereichert von dieser wertvollen Erfahrung. So war es auch, als mir Manuela
Rossi von Italia Altrove eine Schlangenhaut schenkte, die ich Gio zeigen werde.
Ich möchte mich bei Giacomo Mazzariol herzlichst für sein Interview mit uns
bedanken. Ich habe mich sehr gefreut, ihn kennenzulernen. Denn es ist wichtig,
dass junge Autoren den Wunsch umsetzen, frisch und natürlich über die Behinderung
zu schreiben und zu sprechen, indem sie dieses 
Thema einfach und ironisch entschärfen. Giacomo stellt mit seinem
Schreiben einen Anreiz für die neuen Generationen dar. Er zeigt uns, wie man
die Inklusion konstruktiv wahrnehmen kann. Wir wünschen uns, dass Giacomos Buch
und der Film eine innovative Anspornung darstellen werden. Artemisia hofft, den
Autor in den nächsten Monaten nach Berlin einzuladen, um über sein Buch und
seine zukünftigen Projekte zu sprechen.