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Der Bürgerkrieg – ein Artikel von Uri Avnery

von Uri Avnery, 3.September 2016, deutsche Übersetzung
von Ellen Rohlfs. 
ETWAS SELTSAMES geschieht unter den im Ruhestand befindlichen
Chefs des internen Sicherheitsdienstes, dem Shin Bet. 
Der
Dienst ist der Definition nach ein zentraler Pfeiler der israelischen
Besatzung. Er wird von den (jüdischen) Israelis bewundert, von den
Palästinensern gefürchtet, ja, überall respektiert. Die Besatzung könnte ohne
diese nicht existieren. 
 

Und
hier liegt das Paradox: verlassen die Chefs ihren Job beim Sicherheitsdienst,
dann werden sie zu Sprechern für den Frieden. Wie kommt das?


Tatsächlich gibt es eine logische
Erklärung. Shin Bet-Agenten sind der einzige Teil des Establishment, der real,
direkt, täglich mit der palästinensischen Realität in Berührung kommt. Sie
verhören palästinensische Verdächtige, foltern sie, versuchen sie umzudrehen,
also Informanten aus ihnen herauszuholen. Sie sammeln Informationen, dringen in
die entferntesten Teile der palästinensischen Gesellschaft. Sie wissen mehr
über die Palästinenser als irgendjemand in Israel (und vielleicht auch in
Palästina).
Die
Intelligenten unter ihnen (Intelligence Beamte können tatsächlich intelligent
sein und oft sind sie das auch.) denken auch über das, was sie hören, nach. Sie
kommen zu Schlussfolgerungen, die vielen Politikern entgehen: dass wir es mit
einer palästinensischen Nation zu tun haben, dass diese Nation nicht
verschwinden wird, dass die Palästinenser einen eigenen Staat haben wollen,
dass die einzige Lösung des Konfliktes ein palästinensischer Staat neben Israel
sein wird.
So
sehen wir ein seltsames Phänomen: nach dem Verlassen des Dienstes, werden die
Shin Bet-Chefs – einer nach dem anderen – ausgesprochene Advokaten der „Zwei-Staaten-Lösung“.
Dasselbe
geschieht den Chefs des Mossad, Israels externer Geheimdienst.
Ihre
Hauptarbeit ist im Allgemeinen gegen die Araber zu kämpfen und insbesondere
gegen die Palästinenser. Doch in dem Moment, in dem sie den Geheimdienst
verlassen, werden sie Fürsprecher der Zwei-Staaten-Lösung im direkten
Widerspruch zur Politik des Ministerpräsidenten und seiner Regierung.
ALLE
ANGESTELLTEN der zwei Geheimdienste sind nun – geheim. Alle außer den Chefs.
(Dies
ist meine Errungenschaft. Als ich ein Mitglied in der Knesset war, reichte ich
eine Gesetzvorlage ein, die festlegte, dass der Name des Geheimdienstchefs
öffentlich gemacht wird. Die Gesetzesvorlage wurde natürlich abgewiesen, wie
alle meine Vorschläge, aber bald danach verordnete der Ministerpräsident, dass
die Namen der Chefs tatsächlich öffentlich gemacht wurden.)
Vor
einiger Zeit zeigte das israelische Fernsehen ein Dokument, das „Torhüter“
genannt wurde, in dem alle lebenden Ex-Chefs des Shin Bet und des Mossad über
Lösungen des Konfliktes gefragt wurden.
Alle
sprachen sich für Frieden aus, wenn auch mit verschiedener Intensität . Sie
befürworteten Frieden, der sich auf die „Zwei-Staaten-Lösung“ gründet. Sie
drückten ihre Meinung aus, dass es keinen Frieden geben wird, wenn die Palästinenser
nicht einen eigenen Nationalstaat erreichen.
Zu
dieser Zeit war Tamir Pardo der Chef des Mossad; er konnte seine Meinung nicht
ausdrücken. Aber seit Anfang 2016 ist er wieder eine Privatperson. In dieser
Woche machte er das erste Mal seinen Mund auf.
Wie
sein Name anzeigt, Ist Pardo ein sephardischer Jude, der vor 63 Jahren in
Jerusalem geboren wurde. Seine Familie kommt aus der Türkei, wo viele Juden
Zuflucht fanden, als sie aus Spanien vor 525 Jahren vertrieben wurden. Er
gehört also nicht zur Ashkenazi-Elite, die von dem „orientalischen“ Teil der
jüdisch-israelischen Gesellschaft so gehasst wird.
Pardos
Hauptpunkt war eine Warnung: Israel nähert sich einer Situation eines
Bürgerkrieges. Wir sind noch nicht soweit, sagte er, aber wir sind sehr schnell
dort.
Dies
ist jetzt – nach ihm – die Hauptbedrohung, der Israel gegenüber steht. Er
behauptet, dass dies die einzige Bedrohung ist. Diese Erklärung bedeutet, dass
der letzte Chef des Mossad keine militärische Bedrohung für Israel sieht weder
der Iran noch IS noch sonst jemand. Dies ist eine direkte Herausforderung
gegenüber der Netanjahu-Politik, dass Israel von gefährlichen Feinden und
tödlichen Bedrohungen umgeben ist.
Aber
Pardo sieht eine Bedrohung, die weit gefährlicher ist: die Kluft innerhalb
Israels jüdischer Gesellschaft. Wir haben keinen Bürgerkrieg – noch nicht. Doch
„ nähern wir uns ihm sehr schnell“.
BÜRGERKRIEG
ZWISCHEN wem? Die übliche Antwort ist zwischen „Rechts“ und „Links“.
Wie
ich schon bemerkt habe, bedeutet „Rechte“ und „Linke“ in Israel nicht dasselbe
wie im Rest der Welt. In England, Deutschland und den USA betrifft die Teilung
zwischen links und rechts soziale und wirtschaftliche Probleme.
In
Israel haben wir natürlich auch eine Menge sozio-ökonomischer Probleme. Aber die
Teilung zwischen „links“ und „rechts“ in Israel betrifft fast nur den Frieden
und die Besatzung. Wenn man ein Ende der Besatzung und Frieden mit den
Palästinensern wünscht, dann ist man ein „Linker“. Wenn man die Annexion der
besetzten Gebiete wünscht und die Vergrößerung der Siedlungen, dann ist man ein
„Rechter“.
Aber
ich vermute, dass Pardo eine viel tiefere Spaltung meint, auch wenn er das
nicht explizit sagt. Der Riss zwischen europäischen („Ashkenasim“) und
„Orientalischen“ („Misrahim“) Juden. . Die „Sephardische“ („Spanisch“)
Gemeinde, zu der Pardo gehört, wird als ein Teil der Orientalischen gesehen.
Was
macht diese Spaltung so potentiell gefährlich und erklärt Pardos düstere
Warnung ? Es ist die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Orientalen
„Rechte“ , nationalistisch und wenigstens ein bisschen religiös sind, während
die Mehrheit der Ashkenasim „Linke“ sind, mehr friedensorientiert und säkular
eingestellt sind. Da die Ashkenasim gewöhnlich auch sozial und wirtschaftlich
besser dastehen als die Orientalen, ist die Kluft tiefer.
Im
der Zeit, in der Pardo geboren (1953) wurde, war uns schon der Beginn der Kluft
bewusst und wir trösteten uns mit dem Glauben, dass dies eine vorübergehende
Phase ist. solch eine Kluft ist nach einer Massen-einwanderung verständlich,
doch der „Schmelztopf“ wird seine Arbeit tun, unter einander heiraten wird
helfen und nach einer oder zwei Generationen wird die Sache verschwunden sein
und niemals wieder gesehen werden.
Nun,
es geschah nicht. Im Gegenteil – die Kluft vertiefte sich schnell. Zeichen von
gegenseitigem Hass sind offensichtlicher geworden. Der allgemeine Diskurs ist
voll davon. Politiker, besonders die Rechten gründeten ihre Karriere auf
Volksverhetzung, angeführt vom größten Hetzer Netanjahu.
Untereinander
zu heiraten hilft nicht. Was geschah, ist, dass die Söhne und Töchter von
gemischten Paaren gewöhnlich einen der beiden Seiten wählten – und zu
Extremisten dieser Seite wurden.
Ein
fast komisches Symptom ist, dass die Rechte, die seit 1977 (mit kleinen
Unterbrechungen) an der Macht ist sich, noch wie eine unterdrückte Minderheit
benimmt und die „alten Eliten“ für ihr Missgeschick verantwortlich macht. Das
ist nicht lächerlich, weil die „alten Eliten“ noch überwiegend in der
Wirtschaft, den Medien, den Gerichten und in der Kunst sind.
Der
gegenseitige Zwiespalt wächst. Pardo selbst liefert ein alarmierendes Beispiel:
Seine Warnung hat keinen Sturm veranlasst. Sie ging fast unbemerkt vorüber;
eine kurze Nachricht und das war es dann. Kein Grund, sich aufzuregen.
EIN
SYMPTOM, das Pardo hätte ängstigen müssen, ist, dass die einzige einigende
Kraft für die Juden im Land – die Armee – auch ein Opfer der Spaltung wird.
Die
israelische Armee wurde lange vor Israel selbst im vorstaatlichen Untergrund
gegründet, besonders in den Kibbutzim, die sozialistisch und Ashkenasi waren.
Spuren aus dieser Vergangenheit sind noch in den oberen Rängen bemerkbar. Die
Generäle sind meistens Ashkenasim.
Dies
mag die seltsame Tatsache erklären, dass 43 Jahre nach dem letzten wirklichen
Krieg (dem Yom Kippur Krieg, 1973) und 49 Jahre nachdem die Armee hauptsächlich
eine koloniale Kraft wurde, die Armee-Führung immer noch moderater als das
politische Establishment ist. Aber von unten her wächst eine andere Armee –
deren Offiziere eine Kippa tragen, eine Armee, deren neue Rekruten in Häusern
erzogen wurden wie das von Elor Azariya und das nationalistisch israelische
Schulsystem absolviert haben.
Das
militärische Gerichtsverfahren von Azariya fährt fort, Israel zu trennen,
mehrere Monate, nachdem es anfing und Monate bevor es mit einem Urteil enden
wird. Azarya – man erinnere sich – ist der Unteroffizier, der einen schwer
verwundeten arabischen Angreifer, der schon hilflos auf dem Boden lag, tot
schoss.
Ein
Tag nach dem anderen regt diese Affäre das Land auf. Das Armee-Kommando wird
bedroht, was schon nahe an eine allgemeine Meuterei herankommt. Der neue
Verteidigungsminister, der Siedler Avigdor Lieberman unterstützt offen den
Soldaten gegen seinen Stabschef, während Benjamin Netanjahu, wie üblich bei
einem politischen Feigling, beide Seiten unterstützt.
Dieses
Gerichtsverfahren hat schon vor langem aufgehört, ein moralisches oder
disziplinarisches Problem zu sein, und ist ein Teil der tiefen Kluft, die die
israelische Gesellschaft spaltet. Das Bild des kindlich aussehenden Killers mit
seiner Mutter, die im Gericht hinter ihm sitzt und seinen Kopf streichelt, ist
zum Symbol des drohenden Bürgerkriegs geworden, von dem Pardo spricht.
EINE
MENGE Israelis haben begonnen, über die „Zwei jüdischen Gesellschaften“ in
Israel zu sprechen – manche sprechen sogar von „zwei jüdischen Völkern“
innerhalb der Israelisch-jüdischen Nation.
Was
hält sie zusammen? Der Konflikt natürlich. Die Besatzung. Der dauernde Zustand
des Krieges.
Yitzhak
Frankenthal, ein trauender Vater und eine Säule der israelischen
Friedenskräfte, ist mit einem erleuchtenden Rezept gekommen. Es ist nicht der
israelisch-arabische Konflikt, der Israel aufgezwungen wurde. Im Gegenteil, es
ist genau umgekehrt. Israel erhält den Konflikt, weil es den Konflikt für seine
pure Existenz benötigt.
Dies
könnte die endlose Besatzung erklären Es passt gut in Pardos Theorie des
nahenden Bürgerkrieges. Nur das Gefühl der Einheit, das vom Konflikt geschaffen
wird, verhindert dies.
Der
Konflikt – oder der Frieden.