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Was hat die Besatzung mit uns hier in Deutschland zu tun? Viel.

Von BibJetzt, 12. August 2016.
Immer wieder hört man derzeit Leute sagen, in Israel sei es gerade wohl
„sehr ruhig“. Gemeint ist, dass die Nachrichten nicht unaufhörlich von
Messerattacken, einem „Gazakrieg“ oder anderen Katastrophen berichten. Leider
sieht die Realität vollkommen anders aus. Das Maß der Katastrophe sollte am
individuellen und kollektiven Schicksal gemessen werden und nicht an der
Sensation, die die Nachricht in die Schlagzeilen katapultiert. Aber
offensichtlich sind alltägliche, sich ständig wiederholende Ereignisse – seien
sie noch so katastrophal und schicksalhaft für die Geschädigten – selten eine
Meldung wert.
So ist es etwa mit den
geschätzten 2.000 Hauszerstörungen, die Jahr für Jahr durchgeführt werden,
denen ausschließlich palästinensische „illegal gebaute“ Häuser zum Opfer fallen
und die in der Weltöffentlichkeit kaum mehr Beachtung finden. Nur einige Menschenrechtsorganisationen
wie Jewish Voice for Peace oder B’Tselem berichten darüber, rufen zum Protest
auf; wenige individuelle Anschreiben erreichen die Vorzimmer von Ministern,
vereinzelt erscheint eine Nachricht in einem online-Portal.
Die breite Öffentlichkeit hat
weder in Israel noch in Europa zur Kenntnis genommen, dass am 9. August
frühmorgens um 6:30 Uhr die israelische Armee ohne jegliche Vorwarnung mit
Bulldozern im Dorf Umm Al-Kheir südlich von Hebron anrückte und fünf Häuser von
palästinensischen Familien zerstörte. Jüdische Siedler aus dem benachbarten
Carmel standen bereits mit Videokameras dort, um diesen Sieg zu feiern. Wer
nicht auftauchte und sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht protestierend zu
Wort gemeldet hat sind Vertreter der EU, deren Gelder dort in wenigen Stunden
zu Staub und Schutt wurden. Drei der fünf zerstörten Häuser wurden nämlich erst
kürzlich von der EU mitfinanziert, nachdem sie im April dieses Jahres bereits
zerstört worden waren.
Dies ist nur eine Antwort auf die
Frage, warum uns das hier in Deutschland und Europa durchaus etwas angehen
sollte, wenn Israels Politik den Palästinensern das Leben zur Hölle macht. Vor
etwa einem Monat beschrieb der israelische Journalist Gideon Levy das in der
Tageszeitung Ha’aretz so: „Die Diskussion über die Besatzung kann nur im
Ausland stattfinden. Eine derartige Debatte erfordert eine demokratische
Gesellschaft, in der die Menschen wissen, was wirklich passiert. (…) Unter
israelischer Herrschaft leben zwei Gesellschaften, die nicht in der Lage sind,
diese Diskussion zu führen. Die Jüdische lebt in Verleugnung und Repression,
sie weiß nichts und will auch nichts wissen; die Palästinensische weiß alles
und hat keinerlei Rechte.
In einer solchen Situation, in der die eine Gesellschaft zwar die Macht hat, um
Einfluss zu nehmen, aber die Realität leugnet, während die andere nicht nach
ihrer Meinung gefragt wird, ist es unumgänglich, die Diskussion nach außen zu
tragen. Nur so kann sicher gestellt werden, dass die Welt erfährt, was
Besatzung bedeutet und welche Verbrechen sie mit sich bringt. Nur so können
diese beendet werden.“
Gideon Levy betont, dass die
Veteranen von Breaking the Silence die Pflicht hätten, die militärischen
Vergehen zu melden, während Ha’aretz die Pflicht habe, darüber zu berichten –
sowohl in Israel als auch überall anders. „Die Welt muss von jeder Exekution
erfahren, von der Apartheid in Zusammenhang mit der Verteilung von Wasser, die
zum Himmel schreit. Sie muss von den Massenverhaftungen erfahren – 4.800
Menschen wurden in Folge der aktuellen Gewaltwelle inhaftiert, darunter 1.400
Kinder und Jugendliche. Während der zweiten Intifada wurden 80.000
Palästinenser verhaftet, 24.000 Haftbefehle wurde erlassen, um Zehntausende
ohne Gerichtsverfahren wegsperren zu können.“
Levy fragt weiter, wem wir es
denn erzählen sollten, wenn wir nicht in der Welt darüber sprechen dürften? Den
Israelis, für die jeder Palästinenser ein Terrorist sei und jeder Terrorist den
Tod verdiene? Der Welt nicht erzählen, dass seit Beginn der israelischen Besatzung
nahezu 1 Million Palästinenser verhaftet wurden? Nicht erzählen, dass Menschen
Nacht für Nacht aus ihren Betten gerissen werden, ohne Haftbefehl und nicht
selten ohne jede Begründung? „Wenn wir also nicht darüber sprechen, wer wird es
dann wissen? Und wenn niemand davon weiß, wie soll das jemals enden? Weder war
die Invasion in der Ukraine eine innerrussische noch die Apartheid in Südafrika
eine innenpolitische Angelegenheit; deren Gegner haben die ganze Welt bereist,
um von diesen Verbrechen zu berichten. Die Welt darüber aufzuklären ist die
einzige Möglichkeit, die internationale Gemeinschaft mit einzubeziehen, und die
ist oft der einzige Zufluchtsort.“
Gideon Levy schließt mit den
Worten, alle Menschen, die in Israel ihr Schweigen brächen, täten ihre
patriotische, humane und moralische Pflicht. Dieser Pflicht wollen auch wir
nachkommen – um der Gerechtigkeit, der Demokratie und der Wahrheit willen.