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Massaker ohne Folgen

von German Foreign Policy,
17.08.2016

ADDIS ABEBA/BERLIN

 

(Eigener Bericht) – Ungeachtet der Berichte von neuen Massakern der äthiopischen Repressionskräfte an bis zu 100 Demonstranten setzt die Bundesregierung ihre enge Kooperation mit Äthiopien fort. Wie Menschenrechtsorganisationen am Wochenende bestätigten, haben Polizei und Militär des Landes in den Tagen zuvor bei der blutigen Niederschlagung von Protesten die Zahl der äthiopischen Oppositionellen, die seit Ende 2015 bei Demonstrationen getötet wurden, auf rund 500 erhöht. Proteste aus Berlin, das international gern als Kämpfer für Menschenrechte posiert, sind nicht bekannt. Hintergrund ist die Bereitschaft der äthiopischen Regierung, sich für die Realisierung deutscher Interessen in Ostafrika zur Verfügung zu stellen. Äthiopien, dessen Streitkräfte als die stärksten in Afrika südlich der Sahara gelten, hilft Berlin bei Ordnungsmaßnahmen am Horn von Afrika, vor dessen Küste der zentrale Seeweg aus Asien nach Europa entlangführt. Das Land stellt mehr als 8.000 Militärs für Auslandseinsätze zur Verfügung, vor allem in Somalia. Dafür erhält es umfangreiche Entwicklungshilfe aus der Bundesrepublik – und wird seit mehr als zehn Jahren von jeglicher Kritik an schweren Menschenrechtsverletzungen im Inland freigestellt. Kürzlich hat sogar die “Core Group” der Münchner Sicherheitskonferenz in Addis Abeba getagt.

Fachkräfte für Äthiopien
Die enge Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit Äthiopien ist in höchstem Maße geostrategisch motiviert. Die Hintergründe lassen sich einem “Sonderbericht” entnehmen, den die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung bereits 2006 anfertigen ließ. Im Jahr 2005 hatte Berlin begonnen, die Entwicklungskooperation mit Addis Abeba massiv auszuweiten; bei der bundeseigenen Entwicklungsorganisation GTZ (heute GIZ, Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) war damals zu erfahren, dass binnen 36 Monaten “hunderte von deutschen Fachkräften” nach Äthiopien entsandt werden sollten, um dort “Schlüsselpositionen in Industrie und Verwaltung” zu übernehmen und den Aufbau des Landes energisch voranzutreiben.[1] Die Bundesrepublik förderte dabei nicht zuletzt den “Kapazitätsaufbau im Regierungswesen”; in Deutschland wurden etwa die Stelle eines “Berater[s] des [äthiopischen] Parlamentssprechers” und weitere politisch relevante Posten in Addis Abeba ausgeschrieben.[2] Der Aufwand schien Außenstehenden begründungsbedürftig, weswegen der damalige deutsche Botschafter in Äthiopien, Claas Dieter Knoop, sowie der ehemalige Referatsleiter im Auswärtigen Amt Peter Roell, der mehreren prominenten Außenpolitik-Think-Tanks angehört, in dem erwähnten “Sonderbericht” für die Hanns-Seidel-Stiftung die strategischen Zusammenhänge der deutsch-äthiopischen Kooperation beschrieben.
Militärische Ordnungsmacht
Wie Knoop und Roell damals erläuterten, kommt Äthiopien in mehrfacher Hinsicht eine besondere strategische Bedeutung zu. Auf seinem Territorium entspringe nicht nur der Blaue Nil, der gut vier Fünftel der Wasserversorgung Nordostafrikas (Nordsudan, Ägypten) liefere, konstatierten die beiden Experten.[3] Das Land gelte zudem, obwohl es selbst keine Küste habe, als einflussreichste Macht am Horn von Afrika, das wiederum nicht gänzlich außer Kontrolle geraten dürfe, um die Sicherheit der Seewege aus dem Indischen Ozean ins Rote Meer und dann ins Mittelmeer nicht zu gefährden. Letztere seien aus deutscher Sicht “von eminenter Bedeutung”. Zudem habe die Lage in den ostafrikanischen Küstengebieten “unmittelbare politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Aus- und Wechselwirkungen auf die arabische Gegenküste”. Diese Einschätzung hat sich zuletzt etwa dadurch bestätigt, dass die somalische Al Shabaab-Miliz Al Qaida im Jemen unterstützt. Die Einschätzung, dass Äthiopien eine potenzielle “Ordnungsmacht” am Horn von Afrika sei, wird allgemein geteilt; sie gründet nicht zuletzt darauf, dass seine Streitkräfte als die stärksten in Afrika südlich der Sahara gelten. In der Tat hat Addis Abeba immer wieder militärisch im Sinne auch der Bundesrepublik in Ostafrika interveniert, insbesondere in Somalia, aber auch im Sudan und im Südsudan. So hat das Land gegenwärtig 8.170 Soldaten, 104 Militärexperten und 59 Polizisten in UNO-Einsätze in Ostafrika abkommandiert, darunter 4.395 Militärs, die an der Intervention der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) teilnehmen.
Massaker an Oppositionellen
Die deutsche Zusammenarbeit mit Äthiopien, die sogar eine militärische Komponente beinhaltet (Unterstützung durch die Bundeswehr, german-foreign-policy.com berichtete [4]), wird seit 2005 von Menschenrechtsorganisationen immer wieder scharf kritisiert. Ursache ist, dass die äthiopische Regierung regelmäßig nicht nur Oppositionelle, Menschenrechtler und Journalisten inhaftieren, sondern auch Massenproteste mit äußerster Brutalität niederschießen lässt. Bereits 2005 wurden durch die Repressionskräfte des Landes rund 200 Menschen umgebracht und Tausende, vermutlich sogar Zehntausende in Lager gepfercht, als sich massive Protestdemonstrationen gegen eine krass gefälschte Parlamentswahl erhoben; in der Folge wurden zahllose Oppositionelle auf Dauer aus dem Land getrieben.[5] 2007 liefen Menschenrechtsorganisationen Sturm, weil äthiopische Militärs in Somalia schwere Kriegsverbrechen verübten.[6] Immer wieder sind in Äthiopien Journalisten inhaftiert worden; seit der Verabschiedung eines “Anti-Terror-Gesetzes” im Jahr 2009 stehen, wie die Organisation “Reporter ohne Grenzen” konstatiert, auf “Verleumdung”, aber auch “auf Berichte über die Aktivitäten der Opposition” lange Haftstrafen.[7] Seit Ende 2015 werden bei Massenprotesten erneut regelmäßig Dutzende, wenn nicht Hunderte Oppositionelle von den äthiopischen Repressionskräften umgebracht. Mitte Dezember 2015 berichtete Human Rights Watch von “mindestens 75” Menschen, die bei Protesten in der Region Oromia von Polizei und Militär erschossen worden waren.[8] Mitte Juni 2016 teilte die Organisation mit, die Zahl der Getöteten sei mittlerweile auf “mehr als 400” gestiegen.[9] Am vergangenen Wochenende ergänzte sie, es seien “bis zu 100” weitere Todesopfer staatlicher Repression gegen Oppositionelle zu verzeichnen, wobei sich die Massaker längst nicht mehr auf die Region Oromia beschränkten, sondern auch die Region Amhara erfasst hätten.[10] Beobachter fürchten eine weitere Eskalation.
Zunehmend autoritär
In euphemistischer Bemäntelung räumt selbst die deutsche Regierung ein, dass die massive Kritik an Addis Abeba auf Tatsachen beruht. “Die [äthiopische] Verfassung garantiert die Menschenrechte”, erklärt das Auswärtige Amt: “Die Verfassungsideale decken sich jedoch häufig nicht mit der Realität.”[11] “Die Menschenrechtslage bleibt problematisch”, schreibt das Entwicklungsministerium: “Verhaftungen, auch von Oppositionspolitikern und Journalisten …, geben Anlass zur Sorge. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt, ebenso der Handlungsspielraum für zivilgesellschaftliche Organisationen.” Darüber hinaus seien “in der Regierungsführung Äthiopiens … noch Defizite festzustellen”: Die herrschende Partei EPRDF (Ethiopian Peoples’ Revolutionary Democratic Front) regiere “zunehmend autoritär”; sie habe bei den Parlamentswahlen 2010 gemeinsam mit ihr nahestehenden Parteien erstaunliche 99,6 Prozent der Sitze erhalten.[12] In der Tat gehört, wie das Auswärtige Amt feststellt, nur einer der insgesamt 547 Abgeordneten in Addis Abeba der Oppositionspartei an. “Auch in den Regionalparlamenten ist praktisch keine Opposition mehr vorhanden, die Kontrollfunktion der Parlamente wurde damit faktisch ausgeschaltet”, berichtet das Entwicklungsministerium.
Kampfeinsätze
Freilich spielt all dies aus Sicht der Bundesregierung außenpolitisch keine Rolle, solange Addis Abeba bereitwillig kooperiert und sich für deutsche Ordnungsbestrebungen in Ostafrika zur Verfügung stellt. Um die äthiopische Regierung eng in entsprechende Planungen einzubinden, hat die “Core Group” der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. und 15. April 2016 ihr erstes Treffen auf dem afrikanischen Kontinent abgehalten – in Addis Abeba. Anwesend waren Äthiopiens Außenminister Tedros Adhanom Ghebreyesus sowie Ministerpräsident Hailemariam Desalegn; Deutschland hatte neben dem Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, den Staatssekretär im Auswärtigen Amt Markus Ederer sowie den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, nach Addis Abeba entsandt. Neben Themen, die den gesamten afrikanischen Kontinent betrafen und daher mit einflussreichen Vertretern unter anderem Nigerias, Ghanas und Ruandas besprochen wurden, ging es insbesondere um die Entwicklung an beiden Küsten des Roten Meeres: “Die Region ist nie unsicherer gewesen”, warnte ein Teilnehmer.[13] Unklar blieb freilich, was man unternehmen könne, um die Lage in Somalia und im Jemen zu verbessern. Eine weitere Militarisierung der dortigen Konflikte schien nicht ausgeschlossen: Auf dem Treffen hieß es, die Streitkräfte der afrikanischen Staaten müssten in Zukunft stärker aktiv werden und insbesondere auch Kampfeinsätze gegen Terroristen durchführen. Die Kampfeinsätze äthiopischer Soldaten und Polizisten gegen Demonstranten im eigenen Land hingegen wurden von deutscher Seite nicht kritisiert.
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