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Führen aus der Mitte

von German Foreign Policy, 26. August 2016. 

Das Berliner Büro eines EU-weit vernetzten Think-Tanks warnt vor zunehmendem “Frust über die deutsche Dominanz” in den Mitgliedstaaten der EU. Die Bundesrepublik sei in den vergangenen zehn Jahren EU-weit zur unbestritten stärksten Macht geworden, heißt es in einer aktuellen Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR). Die “EU-Partner” müssten nun “entscheiden, wie sie mit Deutschlands Stärke umgehen”. Manche äußerten Unmut, andere setzten darauf, “ihre Strategien an Deutschland auszurichten”, und suchten nun nach Möglichkeiten, “um die Berliner Polit-Maschinerie zu beeinflussen”. 

Kein Zweifel könne bei alledem daran bestehen, dass “Deutschlands politische Klasse” die EU weiterhin “als den bestmöglichen Rahmen für die Artikulation ihrer nationalen Interessen” betrachte. Während die ECFR-Analyse den Blick vor allem auf das Polit-Establishment anderer EU-Staaten richtet, stellt sich auch darüber hinaus die Frage, wie mit der deutschen Dominanz umzugehen ist, immer dringlicher: Berlin treibt die Militarisierung der Außenpolitik sowie Überwachung und Repression im Innern massiv voran – Maßnahmen, die der Kriegsvorbereitung dienen und alle betreffen.
Die deutsche Frage
Wie der European Council on Foreign Relations (ECFR), ein in sieben EU-Hauptstädten auf dem Gebiet der Außenpolitik tätiger Think-Tank, in einer aktuellen Analyse konstatiert, hat Deutschland in den vergangenen zehn Jahren “seine natürliche Führungsrolle in der EU in ökonomischen und in finanziellen Fragen” in vollem Umfang eingenommen. Das habe “die deutsche Frage” wieder “in den Mittelpunkt des europäischen Projekts” gerückt – die Frage also, “wie der Rest Europas mit Deutschlands Macht umgehen soll”.[1] In jüngster Vergangenheit habe Berlin zudem “eine größere Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik übernommen”; alle drei “außenpolitischen Haupt-Herausforderungen des Jahres 2015” – der Ukraine-Konflikt, die Griechenland-Krise und die Massenflucht nach Europa – seien maßgeblich “von den Entscheidungen und den Handlungen deutscher Anführer” bestimmt worden. Dabei habe das deutsche “Führungsmodell” zeitweise etwas “einseitig” gewirkt, heißt es weiter in der ECFR-Analyse, die Berlin stattdessen ein “Führen aus der Mitte” empfiehlt.
Frust über die deutsche Dominanz
Bereits im vergangenen Sommer hat der ECFR eine Umfrage unter Experten und Politikern in der EU durchgeführt, die die deutsche Rolle in dem Staatenbund thematisierte. Die Umfrage habe gezeigt, berichtet der Think-Tank, “dass die politischen Eliten in allen Ländern darin übereinstimmen, dass Deutschland der einflussreichste Mitgliedstaat ist”. Auch deutsche Umfrageteilnehmer hätten “diese Sicht geteilt”. Kürzlich hat dies der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), bestätigt: “Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir eine klare Führungsrolle in der EU haben”, erklärte Röttgen in einem Medieninterview.[2] Gleichzeitig stellt der ECFR jedoch fest, es stehe durchaus in Frage, ob “die EU-Partner” der Ansicht seien, dass die deutsche Macht den “europäischen Interessen insgesamt” diene. Es gebe auch jene “andere Geschichte über deutsche Macht” – “die Geschichte vom Frust über die deutsche Dominanz”. Die ECFR-Umfrage habe ergeben, dass die Regierungen anderer EU-Staaten deutlich spürten, man komme an Berlin heute nicht mehr vorbei; allerdings werde die Unzufriedenheit mit der deutschen Übermacht bislang kaum offen thematisiert.
Deutsche Interessen
Laut der Analyse kann hingegen über die Bedeutung der EU für die deutsche Politik kein Zweifel bestehen. “Deutschlands politische Klasse sieht die EU weiterhin als den bestmöglichen Rahmen für die Artikulation ihrer nationalen Interessen”, heißt es in dem ECFR-Papier. Die Erkenntnis deckt sich mit Äußerungen deutscher Experten. “Alleine” sei Deutschland “zu klein, um globalpolitische Veränderungen bewirken zu können”, hieß es vor zwei Jahren in der Auswertung einer breiten, vom Auswärtigen Amt angestoßenen Debatte in der “Internationalen Politik”, der führenden Zeitschrift des deutschen Außenpolitik-Establishments: “Nur wenn die Mitgliedstaaten [der EU, d. Red.] integrations- und außenpolitisch an einem Strang ziehen, bringt Europa das politische Gewicht auf die Waage, das Deutschland [!] zur Realisierung seiner [!] Interessen braucht.” Berlin sei also “gut beraten, auch weiter politisch in Europa zu investieren”.[3] Dies hat zuletzt Röttgen bestätigt: “Unser Interesse ist es, dafür zu sorgen, dass Europa funktioniert”.[4] Zugleich stellt der ECFR fest, trotz der Fokussierung auf die EU gebe es mittlerweile in Berlin einen pragmatischeren Umgang mit der NATO: Man bestehe nicht mehr unbedingt auf Lösungen im EU-Rahmen, die Deutschland eine dominierende Rolle sicherten; Berlin sei auch bereit, gegebenenfalls auf das Instrumentarium der NATO zurückzugreifen, wenn das besser passe. Der unlängst gestartete NATO-Einsatz zur Flüchtlingsabwehr bestätigt dies.[5]
Deutschland verstehen
Berlins EU-Verbündete müssten nun “entscheiden, wie sie mit Deutschlands Stärke umgehen”, konstatiert der ECFR. Die deutsche Dominanz werde nicht in absehbarer Zeit verschwinden; auch werde sie “nicht immer so ausbalanciert sein wie vor der Vereinigung von 1990”, als Frankreich die Bundesrepublik noch im Zaum halten konnte. Es sei deutlich, dass eine Reihe von EU-Staaten begonnen hätten, “ihre Strategien an Deutschland auszurichten”, und dass sie nun “bessere Wege” suchten, “um die Berliner Polit-Maschinerie zu beeinflussen”, berichtet der Think-Tank. “Europäer” investierten darin, die politische Elite der Bundesrepublik “besser zu verstehen”; Regierungen, Banker, Geschäftsleute und Medien weiteten ihre Analyse der deutschen Politik aus und stärkten ihre Präsenz im Land. Tatsächlich haben manche Medien, dem generellen Trend zuwiderlaufend, zuletzt die Zahl ihrer Korrespondenten in Deutschland erhöht.
Kriegsvorbereitungen
Während der ECFR seinen Blick auf das Polit-Establishment der EU-Staaten richtet, stellt sich die Frage, wie mit der deutschen Dominanz umzugehen ist, inzwischen immer dringlicher auch über die politischen Eliten hinaus. Berlin verfolgt eine offen angekündigte Weltpolitik (german-foreign-policy.com berichtete [6]), rüstet Militär und Geheimdienste massiv auf [7] und verlangt dasselbe auch von den “EU-Partnern”. “Ziel müsste eine gemeinsame europäische Armee sein”, hat im Juli Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) erklärt.[8] Gleichzeitig bereitet Berlin exzessive Schutzmaßnahmen für den Fall eines Krieges vor, hat am Mittwoch eine neue “Konzeption Zivile Verteidigung” verabschiedet, die unter anderem eine Notstandsverfassung enthält (german-foreign-policy.com berichtete [9], und verlangt für die gesamte EU Schritte, die eine neue Stufe innerer Überwachung und innerer Repression mit sich bringen. So hat der Bundesinnenminister am Dienstag gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen ein Papier vorgelegt, das Überwachung und innere Repression in neue Höhen treibt; so sieht es nicht nur eine “Verstärkung der Kontrollen an unseren Außengrenzen”, sondern darüber hinaus ein “Ein- und Ausreiseregister” vor, in dem auch Grenzübertritte von EU-Bürgern systematisch erfasst werden. Ein “europäisches Identitätsmanagement” soll etabliert werden, das die “internationale Grenz- und Sicherheitssysteme” umfassend vernetzt. Die polizeiliche Zusammenarbeit in der EU soll verstärkt, die Kooperation der Geheimdienste ausgeweitet werden [10] – Vorschläge, die in ihrer Summe auf Kriegsvorbereitungen hinauslaufen und nicht nur die politischen Eliten, sondern alle betreffen.