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ERDOĞAN UND DER DOPPELPASS

Von Nils Witte, MiGAZIN, 11. August 2016.
Nils
Witte (PhD) ist Soziologe am Karlsruher Institut für Technologie. In seiner
Doktorarbeit hat er den Einfluss symbolischer Zugehörigkeit auf die
Einbürgerungsabsichten untersucht.
Über
die Loyalität von Deutsch-Türken und die doppelte Staatsangehörigkeit
Erneut stellen Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft die Loyalitätsfrage.
Schaut man sich die Gegner näher an, wird deutlich, dass es um etwas ganz
anderes geht: um Türken. Ihnen schlägt seit Jahrzehnten Skepsis entgegen.
Der Schreck über den undemokratischen Umsturzversuch in der Türkei war
gerade verwunden, schon begann Erdoğans AKP mit dem Gegenschlag. Die demokratisch
legitimierte Kraft schränkt nun Grundrechte ein und höhlt den Rechtsstaat aus.
Mit der Schwemme von Verhaftungen und Entlassungen untergräbt Erdoğan die
Glaubwürdigkeit und Legitimität seiner Regierung. Es ist schwer hinzunehmen,
dass viele Deutsch-Türken die ausufernde staatliche Reaktion unterstützen und
dafür das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit in Deutschland in Anspruch
nehmen.
In diesem Zusammenhang wird auch die doppelte Staatsangehörigkeit erneut
diskutiert. Das durch Jens Spahn erneuerte Mantra der Unionsparteien lautet:
Nur durch die Aufgabe der vorherigen Staatsangehörigkeit ist ein klares
Bekenntnis zur neuen Heimat gegeben. Deutscher kann demnach nur sein, wer alle
anderen Staatsangehörigkeiten aufgibt. Zuletzt hat sich sogar der linke
Journalist Jakob Augstein gegen die doppelte Staatsangehörigkeit für Türken
positioniert. Man muss die Unterstützung Erdoğans durch Deutsch-Türken nicht
gutheißen. Aber sind die Demonstrationen der richtige Anlass, das
Staatsangehörigkeitsrecht neu zu verhandeln?
Die Verknüpfung beider Debatten läuft auf einen Gesinnungstest hinaus. Nur
wer die richtigen Positionen vertritt, darf eingebürgert werden. Eines ist
klar: Die Anerkennung des Grundgesetzes steht hier nicht zur Debatte. Denn
schon wer sich heute einbürgern lässt, muss sich zur deutschen Verfassung
bekennen.
Sollen wir also noch weiter gehen? Sollen wir unterschiedliches Recht für
oppositionelle Türken und Erdoğan-Unterstützer gelten lassen? Müssen
Erdoğan-Unterstützer die deutsche Staatsangehörigkeit abgeben? Wie ist es mit
EU-Bürgern? Verwirken Polen ihr Recht auf doppelte Staatsangehörigkeit, wenn
sie die verfassungsfeindliche PiS wählen? Wie steht es mit Ungarn, die Victor
Orbán unterstützen? Sollen wir den Anhängern von Pegida ihre deutsche Staatsangehörigkeit
aberkennen?
Die Tatsache, dass sich auch in Europa antidemokratische Ideen und
Bewegungen finden, zeigt wie absurd die Verknüpfung von Staatsangehörigkeit und
politischer Gesinnung ist. Es macht den liberalen Rechtsstaat aus, dass er die
Gesinnung seiner Bürger nicht kontrolliert. Genauso wie es ihn ausmacht, dass
er wehrhaft ist, wenn er mit Gewalt bedroht wird. Für die Auseinandersetzung
mit antidemokratischen Bewegungen gibt es andere Mittel als das
Staatsangehörigkeitsrecht und von denen muss Gebrauch gemacht werden.
Wenn man bedenkt, wer gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wettert, so
entsteht ohnehin der Eindruck es könnte hier um etwas ganz anderes gehen. Nicht
selten haben die Gegner des Doppelpasses eine generelle Skepsis gegenüber
Ausländern aus dem Südosten. Denn die doppelte Staatsangehörigkeit für
EU-Bürger war nie Gegenstand von Debatten. Auch die de facto Tolerierung des
Doppelpasses bei US-Amerikanern oder Australiern wird nicht kritisiert. Es geht
vor allem um die Türken. Ihnen schlägt seit Jahrzehnten Skepsis entgegen. Sie
nehmen sehr wohl zur Kenntnis, dass beispielsweise Einwanderer aus ihrem
Nachbarland Griechenland als EU-Bürger rechtlich besser gestellt sind und auch
den Doppelpass haben dürfen. Wenn überhaupt, dann ist es diese
Schlechterstellung gegenüber anderen Gruppen, die ihre Loyalität zu Deutschland
gefährdet.
Während Roland Kochs Unterschriftensammlung gegen die doppelte
Staatsangehörigkeit 1999 kam eine zugrundeliegende Ausländerfeindlichkeit oft
unverhohlen zum Ausdruck. Diese Ablehnung macht viele Deutsch-Türken
empfänglich für einen Präsidenten Erdoğan, der sich mit ihrem Schicksal
identifiziert und ihr Selbstwertgefühl stärkt. Deutschland bietet hier zu
selten Ersatz.

Die deutsche Gesellschaft muss den Deutsch-Türken signalisieren, dass sie
hier anerkannt werden und hier zu Hause sind. Und deutsche Politiker müssen
deutlich machen, dass sie auch die neuen Deutschen repräsentieren. Solange
dieses Bekenntnis infrage steht, wird jede Debatte um die doppelte Staatsangehörigkeit
auf türkischer Seite nur den Eindruck verstärken: Wir sind hier nicht gewollt.