General

Ein Imam wurde in Queens auf offener Straße erschossen. Wir haben mit dem Mann gesprochen, der den von Kugeln durchschossenen Leichnam seines Freundes gewaschen hat.

Von Mansi Choksi, Narrative, 25. August 2016.
Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik.
Der schamlose Mord an Alauddin
Akonjee erschütterte die muslimische Gemeinde von New York. Als sein Freund den
verstorbenen Imam für die Beerdigung vorbereitete, fragte er sich, was als Nächstes
kommen würde.
Am Montag, den 15. August um 7 Uhr morgens, stellte Abu Taher Chowdhury eine Tasse schwarzen Tees ab und fuhr
sieben Meilen zum Bestattungsinstitut von South Ozone Park nach Queens, um den
Leichnam seines Freundes, Alauddin Akonjee, zu waschen. Zwei Tage vorher waren Imam Akonjee und sein Freund, Thara Miah, auf offener Straße ermordet
worden, während sie sich auf dem Heimweg befanden, um nach dem Mittagsgebet zu
Mittag zu essen. Während das Motiv des Mörders immer noch unbekannt ist,
sprechen in der muslimischen Gemeinde viele von einem Hassverbrechen.
Chowdhury, Techniker der
Notaufnahme und muslimischer Geistlicher, hatte schon in der Vergangenheit Leichname gewaschen. Aber er hatte noch nie einen von Kugeln durchschossenen Leichnam gewaschen.
Chowdhury und Akonjee waren beide
in Sylhet, im Nordosten von Bangladesch, aufgewachsen und lernten sich in der Al-Furqan
Moschee in Queens kennen. Akonjee war der im Moscheegebäude ansässige Imam und
Chowdhury wurde als Koranexperte eingeladen, um die Tarawihgebete, die
besonderen Gebete während des Heiligen Monats Ramadan, zu leiten. In der Nacht
ihres ersten Treffens sprachen sie lange miteinander über ihre
Verantwortlichkeiten als Geistliche und Leiter einer Gemeinde. Der Imam kaute Paan
(zubereitete Blätter des Betelnussbaums und süße Rosenblätter) und machte Vorschläge, um junge Muslime in die Moscheetätigkeiten einzubeziehen. In den
nächsten zwei Jahren setzen sie diese Gespräche, oft auch telefonisch, fort. Im
letzten Jahr erzählte der Imam, kurz vor seinem Tod, Chowdhury, dass er
vorhatte, nach Bangladesch zu reisen, um das Opferfest mit seiner Mutter zu
verbringen.
Nun stand der 48-jährige Chowdhury,
ein Mann mit einem statuenhaften Körperbau, tiefliegenden Augen und einem
ruhigen Erscheinungsbild, am Waschtisch im Erdgeschoss des Bestattungsinstituts,
wo der Leichnam seines Freundes unter einem weißen Licht lag. Andere sechs
Männer waren anwesend, darunter auch die drei Söhne des Imam; der jüngste
schien vollkommen überwältig vom Leid. „Ich fühlte mich sehr betrübt
und vollkommen hilflos. Ich rief ihn zu mir“, erzählte Chowdhury.
Als die Männer damit begannen,
ein Muslintuch in die Kannen lauwarmen Wassers zu tunken, rezitierte Chowdhury
die Sura Yasin, ein Kapitel, das oft als das Herz des Koran bezeichnet wird. Die
Reise ins Jenseits wäre schmerzhaft, so Chowdhury. Deshalb sollte man mit dem Leichnam behutsam umgehen. Das Wasser durfte nicht zu heiß oder zu kalt sein.
Die duftenden Öle sollten nach der Waschung in der richtigen Menge auf den
Leichnam gegeben werden. Er erklärte: „Man muss den Leichnam ganz sanft
berühren, wie den Körper eines Babys.“
Chowdhury betete die gesamten
vierzig Minuten, in denen er sich im Keller befand, und kümmerte sich um die Waschung des
Leichnams. Am Ende des Rituals wurde der Leichnam in drei Leichentücher
gewickelt.  
Das Totengebet des Imam (Janazah)
wurde an jenem Nachmittag auf einem Parkplatz geführt, der nicht weit von der
Stelle entfernt war, an der der Imam ermordet worden war. Der New Yorker
Bürgermeister Bill de Blasio, der an der Beerdigung teilnahm, sprach von seiner
Trauer über den Tod des Imams und seines Freundes und von den beiden Toten als
„Beispiele der Güte und Rechtschaffenheit.“ Menschenmengen sammelten sich in
der Nähe der Leichenwagen an. Sie hoben Plakate hoch, auf denen Folgendes
stand: „Wir fordern Gerechtigkeit“ und „Muslimisches Leben ist auch wertvoll“.
Als Chowdhury an jenem Abend nach
Hause zurückkehrte, teilte er seiner Ehefrau, der Lehrerin Abeda Khanam, mit,
dass er auf dem Gesicht des Imam Nur (ein arabisches Wort für ein
strahlendes Leuchten) gesehen hatte. „Mein Ehemann fürchtete sich, dass der
Leichnam aufgrund der Gegebenheiten verstümmelt war“, berichtete Khanam. „Aber
als er den Leichnam sah, kam es ihm so vor, als würde der Imam völlig friedlich
schlafen.“
Der Bart des Imam und die Haare
unter den Achselhöhlen waren geschnitten. Seine Nägel waren geschnitten, wie es
die islamische Tradition empfiehlt, so Chowdhury. Dies erinnerte ihn daran,
dass man als praktizierender Muslim zu jeglichem Zeitpunkt bereit für den Tod
sein sollte. „Er befand sich in einem so wundervollen Zustand. Es sah so aus,
als würde er sich auf ein Fest begeben“, meinte er. „Dies erinnert uns alles
daran, dass wir zu jeglichem Zeitpunkt bereit sein müssen, Allah zu treffen.“
Während er den Leichnam seines Freundes für das Begräbnis vorbereitete, dachte Chowdhury
über seinen eigenen Tod nach: „Gleichzeitig überlegte ich mir: wer wird mich
aufmerksam waschen?“
Einige Wochen vorher, als die
beiden nach dem Abendgebet miteinander gesprochen hatten, näherte sich ein aufgeregter,
zitternder Mann dem Imam, um mit ihm über ein Problem zu sprechen: er konnte
etwas nicht haben, das er dringend brauchte.  Der Imam trug ihm einfach einen Koranvers vor,
in dem es hieß, dass die Geduld am Ende belohnt würde, so Chowdhury. Die Art
und Weise, auf die er jenen Vers rezitierte, prägte sich in seinem Gedächtnis
an ihre Freundschaft ein. „Ich hatte den Vers in der Vergangenheit schon
gelesen, aber mir war die Bedeutung bis zu jenem Tag gar nicht bewusst gewesen“,
so Chowdhury. „Als ich aufgeregt war wegen der Waschung, erinnerte ich mich an
jene Worte, die mir Mut machten.“
Seit dem Versterben des Imams
denkt Chowdhury sehr viel über die Sterblichkeit nach. „Einige haben den Mut,
einen Leichnam zu waschen, andere nicht“, meinte seine Ehefrau Khanam. „Die
Bestattung erinnert uns daran, dass wir nicht unsterblich sind. Daher wird uns
beigebracht, den Leichnam der Anderen zu waschen. Denn dies erinnert uns daran,
dass es sich um unseren eigenen Leichnam handeln könnte.“
Einen Tag nach dem Begräbnis des
Imam wurde Oscar Morel, 35, der als Pförtner in einem College Campus tätig war,
für den Mord ersten und zweiten Grades verurteilt.
Anfang dieser Woche fuhr Khanam ihre zwei Söhne nach Jackson Heights,
als ein Mann mit einer muslimischen Kopfbedeckung und einem Thawb (traditionelle
arabische Kleidung) an deren Fahrzeug vorbeiging. Der zehnjährige Sohn wandte
sich an seinen Bruder und fragte ihn, ob er dachte, dass der Mann wie Imam
Akonjee aussähe. Der Sechsjährige nickte. Und als er dann wieder geht, meint
Khanam: „Das könnte Papa sein. Sie denken auch über solche Dinge nach.“
Zur Autorin des Artikels:

Mansi Choksi ist eine
unabhängige Journalistin, die im Besonderen auf Überschneidung von Geschlecht,
Politik, Verbrechen, Möglichkeit und Popkultur.

Ihre Artikel wurden
auf The New York Times, The New Yorker, National Geographic,
Vice Magazine, Time, Foreign Policy, Al Jazeera America und Slate
veröffentlicht.

2015 und 2016 wurde
mit der Unterstützung der  International Women’s
Media Foundation zur African Great
Lakes Reporting Fellow to Uganda
ernannt, um die Gegennarrative zu
erfoschen. Sie legte zwei Kurse im Bereich Ausbildung in einer feindlichen
Umgebung und Notfallhilfe ab.

2014 gewann sie den
Preis für outstanding arts and culture
reporting,
von der südasiatischen Journalistenvereinigung South
Asian Journalists Association und für Toppling a
Delicate World: Being Gay and South Asian in America
 (Vice).

2013 schloss sie ihr
Studium an der Fakultät für Journalismus der Columbia University Graduate
School of Journalism in New York mit Auszeichnung ab, das sie als Fulbright
Fellow besuchte. Sie wurde auch zum Delacorte Fellow, zum Ed Gold Scholar und
zur Gewinnerin des Lars-Erik Nelson Prize für die nationale Berichterstattung
gewählt.

In der Vergangenheit lebte sie in Mumbai, wo
sie für Times of India tätig war.

Folgen:
@Mansi_Choksi