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»Die Kinder erkennen die Art der Waffe an ihrem Geräusch«

von Terre des Hommes Italien in Syrien, Interview mit Gebran Bachier. Für die Menschen in Syrien sind die Folgen des Krieges überall spürbar: Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, die Kinder müssen arbeiten, viele werden als Kindersoldaten zwangsrekrutiert. Nur wenige internationale Hilfsorganisationen können vor Ort Hilfe leisten. terre des hommes Italien ist eine von ihnen. Gebran Bachier ist Mitarbeiter unserer italienischen Schwesterorganisation und in Syrien aktiv. Wir sprachen mit ihm über seine Arbeit und darüber, wie Kinder den Kriegsalltag erleben.

Das Foto zeigt Kinder in einer terre des hommes Betreuungseinrichtung in Syrien
terre des hommes-Projekt unterstützt Kinder in Syrien
Seit wann ist terre des hommes Italien aktiv in Syrien? Mit wie vielen Helferinnen und Helfern arbeiten Sie direkt vor Ort?
terre des hommes Italien war erstmals 2008 in Syrien mit einem Projekt für Irakflüchtlinge aktiv. Im Jahr 2012 weiteten wir unsere Projekte in Syrien aus, um auch die Syrer mit humanitärer Hilfe unterstützen zu können. In dem Zuge begann auch unsere Kooperation mit der syrischen Hilfsorganisation SARC (Syrian Arab Red Crescent; Anmerkung d. Redaktion). Für das aktuelle Projekt sind lediglich acht Mitarbeiter von terre des hommes Italien vor Ort, man kann sich vorstellen, was bei so wenig Personal alles für Aufgaben auf einen zukommen. Allerdings werden wir in unserer Arbeit von einer Vielzahl an SARC-Freiwilligen unterstützt.  
terre des hommes-Mitarbeiter Gebran Bachier
terre des hommes-Mitarbeiter Gebran Bachier
Wer wird durch das Projekt von terre des hommes gefördert?
Wir fokussieren uns vor allem auf die syrischen Flüchtlinge, die innerhalb des Landes aus ihrer Region in eine andere fliehen mussten. Dabei ist es aber sehr wichtig, auch mit den Einheimischen der Zielregionen zusammenzuarbeiten, um eine bestmögliche Integration der Flüchtlinge zu sichern. In Syrien gibt es große Integrationsprobleme seitens der syrischen Gemeinden, die Flüchtlinge aus ihrem eigenen Land aufnehmen sollen. Wir sind eine der wenigen Organisationen, die sich mit diesen Problemen befasst. Wir helfen den Flüchtlingen, sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen und unterstützen sie in dieser schwierigen Situation. Auf der anderen Seite ermutigen wir die Gemeinden, mit den Flüchtlingen in Kontakt zu kommen und sie in die Gemeinschaft mit einzubeziehen. 

Wie reagieren die syrischen Familien auf das Projekt vor Ort? 

Für einige Familien sind wir die einzige Hoffnung, ihrem schrecklichen Alltag zu entkommen. Mütter warten wöchentlich darauf, dass wir mit ihnen über ihre Sorgen, Bedürfnisse, Hoffnungen und Träume sprechen können.  In einigen Regionen haben wir ein Überweisungssystem eingeführt, was uns dabei hilft, die Bedürfnisse der Familien in den neuen Gemeinden sicherzustellen. Wir haben eine Liste mit den örtlichen Anlaufstellen speziell im Bereich Gesundheit und Bildung erstellt. Wenn Familien Hilfe brauchen, können wir mit ihnen gemeinsam den Kontakt zu lokalen Dienstleistern herstellen. Wir arbeiten täglich daran, dieses zu verbessern und auch in anderen Gemeinden zu etablieren.
Das Foto zeigt Kinder, die mit einem Projektmitarbeiter draußen spielen.
Die Kinder spielen gemeinsam mit den Projektmitarbeitern
Wie viele Kinder und Familien werden aktuell gefördert? 
Momentan betreuen wir mehr als 5.000 Bedürftige direkt mit unseren psychosozialen Angeboten  und erreichen dadurch weitere ca. 20.000 Bedürftige indirekt, also zum Beispiel Familienangehörige der Betroffenen, die psychosozial betreut werden. Zusätzlich haben wir 45.000 Essenskörbe, die wir an die syrischen Familien verteilen.   

Projekte vor Ort sind nur durch Kooperation mit SARC möglich. Wie läuft die Zusammenarbeit ab, welche Herausforderungen ergeben sich vor Ort? 
SARC ist eine sehr große Organisation mit vielen Mitarbeitern und Freiwilligen, aber die meisten von ihnen haben keine Erfahrungen. Wenn es Probleme gibt, müssen wir uns selbst damit befassen und können die Aufgaben nicht abgeben, denn niemand von SARC würde sich darum kümmern. Aber wir schulen die Mitarbeiter dahingehend und haben allgemeine Regeln aufgestellt.

Viele Staaten haben versprochen, mehr Geld für Flüchtlinge in Lagern zur Verfügung zu stellen. Gibt es Anzeichen dafür, dass die internationale Hilfe jetzt besser und umfangreicher erfolgt? 
Syrien ist ein Land, das jeden Tag mehr und mehr Hilfe benötigt. Täglich verlieren Kinder irgendwo im Land ihre Schulen. Die meisten Betroffenen haben keinerlei Zugang zu Gesundheitsversorgung oder ärztlicher Hilfe. Die Träume der Kinder zerplatzen jeden Tag.   

Welche Herausforderungen und Probleme ergeben sich im Umgang mit den Kindern vor Ort? 
Je mehr wir vor Ort unternehmen, desto mehr Kinder kommen dazu, die ebenfalls unsere Hilfe benötigen. Aber unsere Ressourcen sind leider begrenzt – wir können nicht allen helfen. Wir tun jeden Tag unser Bestes, um immer mehr Kindern helfen zu können.  
Eine Freiwillige und Kinder sind zu sehen
Die Kinder sind durch die Ereignisse traumatisiert
Was geht in den Köpfen der Kinder vor? Gibt es bestimmte psychische Muster? 
KRIEG! Die Kinder sind tagtäglich damit konfrontiert, dementsprechend dreht sich bei ihnen auch gedanklich alles darum. Können Sie sich vorstellen, dass ein Kind die Art der Waffe an ihrem Geräusch erkennt? Können Sie sich vorstellen, dass ein Kind alle Arten von Raketen, Panzern und Kriegsmaschinen kennt und unterscheiden kann? Die Kinder hier können das. Das Problem liegt nicht bei den Kindern selbst, sie sind normal, sie sind Kinder. Aber sie gucken sich die Verhaltensweisen aus ihrer Umgebung ab. Kinder, die aus ihren Heimatregionen fliehen mussten, spielen oft Kriegsspiele in ihren Camps. Das größte Problem ist, dass sie alle eine erschreckende Gemeinsamkeit haben: eine aussichtslose Zukunft.  

Wie kann man sich den Tagesablauf eines Kindes in Syrien vorstellen? 
Im Grund genommen ist das ganz einfach: Die Jungen gehen meist zur Arbeit, die Mädchen kümmern sich um den Haushalt – sie putzen, sie waschen, sie kochen. Der Alltag der Kinder sieht aus wie der eines berufstätigen Erwachsenen.

Wie gehen die Kinder untereinander und miteinander um? Sind im Umgang miteinander Besonderheiten festzustellen im Vergleich zu anderen Kindern in ihrem Alter?  Wie gesagt, die Kinder leben wie Erwachsene, und dementsprechend verhalten sie sich auch so. Sie leiden wie Erwachsene, sie werden mit denselben Katastrophen konfrontiert und sie trauern um ihre Angehörigen. Und wissen Sie, was das schlimmste ist? Es gibt nur 62 Psychiater im ganzen Land. Das Desaster wird noch kommen…   

Welche Vorstellungen haben die Kinder von ihrer Zukunft? Glauben sie daran, dass sie bald wieder in ihre Heimatregionen zurück können? 
Die Kinder arbeiten zwar wie Erwachsene, aber sie träumen immer noch wie Kinder. Manche von ihnen möchten Arzt werden, um Leben zu retten, und andere träumen von einem eigenen Haus und einem Auto, wenn sie groß sind. Aber sie alle haben die Hoffnung, irgendwann zurückkehren zu können, um zu gucken, was von ihrem Zuhause, ihren Betten, ihrem Spielzeug noch übrig ist.
Was war bis jetzt das Erlebnis, was Sie am meisten beeindruckt hat? 
Fatima, neun Jahre alt, und ihr Bruder Hamzeh, sieben Jahre alt. Zwei völlig entkräftete Kinder, beide an Kinderlähmung erkrankt. Das Lachen in ihren Gesichtern und die strahlenden Augen, als wir sie bei uns aufgenommen haben – das werde ich nie vergessen!  

Wie gehen Sie selbst und die Mitarbeiter von terre des hommes Italien mit der Situation und den Erlebnissen vor Ort um? 
Wir versuchen stetig, uns aufzutanken, uns seelisch zu erholen. Zweimal im Monat organisieren wir eine Selbsthilfegruppe. Und wir achten darauf, dass jeder seinen Anspruch auf regelmäßige Erholung wahrnimmt.   

Was ist für die Helfer im Moment die größte Bedrohung? 
Einmal schlug eine Rakete weniger als 20 Meter von unserem Büro in Damaskus entfernt ein. Momentan arbeite ich in Sweida, auf dem Weg dahin muss ich eine Straße entlang, von der die bewaffneten Truppen lediglich drei Kilometer entfernt sind.
Ein Mädchen hat eine Frisbee Scheibe und einen Ball in der Hand, Kinder spielen im Hintergrund.
Abstand vom Kriegsalltag: Kinder spielen in der terre des hommes Einrichtung
Was ist für Sie persönlich der bislang größte Erfolg des Projektes? 
Die organisierte psychologische Unterstützung, die wir als erste internationale Organisation gemeinsam mit SARC anbieten. Dazu sind wir die erste Organisation, die psychologische Unterstützung für Mütter in Lattakia, Tartous und Sweida leisten. Und wir haben ein System entwickelt, das allen Bedürftigen gesundheitliche Versorgung und Bildungsmaßnahmen zugänglich macht. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft, vor allem von Europa?  
Der Krieg muss aufhören, und die Menschen müssen versorgt werden. Wir brauchen mehr Unterstützung, wir brauchen Menschen, die mit uns daran glauben, dass der Schutz von Kindern der wichtigste Schlüssel zu einer friedlichen Welt in der Zukunft ist.

28/07/2016