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Denkpause nach dem nächtlichen Putschversuch in der Türkei


Von Milena
Rampoldi, ProMosaik 15.07.2016.
Wenn es einen
Putschversuch im Lande gibt, wissen die Menschen nie, worum es wirklich geht
und was gerade wirklich passiert und ob das nicht alles nur ein Albtraum ist.
Es bricht Panik aus, weil es eine vermeintliche Bedrohung gibt. Menschen rufen sich gegenseitig an und fragen nach. Diese Bedrohung
wird auch immer realistischer, weil man sie am Laptop, im Fernsehen oder in den
sozialen Medien sieht. Oder man ist gerade mitten auf der Straße und wird von
Militärflugzeugen überflogen und hört Panzer und Geschosse.
Es melden sich Menschen
aus aller Welt bei einem, die nachfragen, anrufen, schreiben und wissen
möchten, wie der Putsch so ist, wie das denn alles sein kann. Man erhält
E-Mails, in deren Betreff man liest: Putsch? Die Menschen wollen wissen, was es
mit der Nachrichtensperre an sich hat, welche sozialen Medien wann abgeschaltet
werden und welcher türkische Sender noch Pressefreiheit hat. Denn alle denken,
es geht um Islam gegen Pressefreiheit, Islam gegen Demokratie, Islam gegen
laizistisches Militär.
Es kommen Fragen wie: „Du
bist aber nicht mitten drin oder?“ oder Ratschläge wie: “Pass auf dich auf…
Lass nicht die mutige Kommentatorin raushängen.. Halt Dich am besten aus der
Politik im Lande raus.“ 
Sich aus einem Putsch
rauszuhalten, klingt aber nach einem Biedermeierparadoxon, denn jeder von uns ist
Teil der Geschichte, und Geschichte ist eben Politik, Macht, Kampf um
Ressourcen und Militärtechnologie. Und dies gilt auch für ein Volk mit einer
vorübergehenden Ausgangssperre, um nicht abgeschossen zu werden, und nicht um
der Meinungsfreiheit willen.
Aber alles hat am Ende
immer mit dem Islam zu tun, denn alles mündet irgendwie in den großen,
inklusiven Ozean des Islam, der alles in sich aufnimmt, so sieht es der Westen.
Der afghanische US-Bürger, der mit seiner komplexen Identität als Schwuler
nicht zurechtkommt, dann HIV bekommt und sich rächt, indem er in einem
Schwulenclub Latinos abschießt, ist Muslim, am besten noch vom Islamischen
Staat, also kein Muslim der Biedermeierzeit, sondern der Geist einer aktiven
Terrorzelle aus dem irakischen Sunnistan von ISIS im Ausland. Der tunesisch-französische
LKW-Fahrer, der anstatt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu singen, in
Nizza in eine Menge rast: auch hier hat die Sache mit dem Islam zu tun und mit
seinen möglichen Verbindung zu islamistischen Terrorzellen der ersten, zweiten oder dritten
eingebürgerten Generation im alten Kolonialstaat Frankreich.
Die islamische Gemeinde
Frankreichs ist entsetzt und entschuldigt sich zwischen den Zeilen für etwas,
mit dem sie gar nichts zu tun hat. Wäre es ein nicht-muslimischer Franzose gewesen, hätte sich wohl eher die nationale Vertretung der LKW-Fahrer für dessen Tat entschuldigt.
Und hier wieder. Die Menschen im Westen denken,
es geht um Demokratie gegen Islam und Islam gegen Demokratie. Wer dann wer ist,
ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Fronten sich verhärten und die
Mauern am Ende der Sackgassen stehen bleiben. Teile und herrsche!
Nach dem Putsch fordert
der türkische Präsident Erdogan die Menschen auf, auf die Straße zu gehen. Es
ist 0.37 Uhr. Sie jubeln wie nach einem Fußballspiel. Es folgt ein
Sondergebetsruf für den Zusammenhalt der Nation. Nun ist es wieder still hier
an der Mittelmeerküste in der Nähe von Alanya. Und es ist 3.18 Uhr. In Ankara und Istanbul ist es noch laut, wahrscheinlich die ganze Nacht noch. Eine Kollegin freut sich heute abend zum ersten Mal, doch am Stadtrand ihr Zimmer gemietet zu haben anstatt in unserer Nähe in der Istanbuler Altstadt. 
Der Westen guckt auf den
Destabilisierungsversuch und denkt sich irgendwie doch, dass vielleicht das
Militär wirklich den demokratischen Notstand zurecht ausrufen wollte, um die
islamische Diktatur im Natoland, das direkt an den IS grenzt, wegzufegen. Die Muslime hier freuen sich über
den Imageverlust der alten Militärelite, Türken wie Kurden. Aber die meisten möchten einfach nur
leben und diesem nihilistischen Schachspiel aus dem Wege gehen. Selbst das
Militär distanziert sich vom Putsch und erklärt ihn für illegal.
Der Kampf um die Macht
holt auch den genügsamsten Bürger ein. Jeder muss sich auf eine Seite stellen,
wissen, wo er hingehört, Farbe bekennen, genau wie nach einem Fußballspiel.
Und die ganze
militaristische Spieluhr singt nicht mehr. Man weiß am Ende nicht, was
geschehen ist, man weiß aber, dass es um Macht geht. Um sehr viel Macht. Und
man weiß, dass es die „Technologisierung“ der Militärmacht noch schwerer macht,
die Angst zu vergessen. Denn es fahren Panzer durch die Straßen, eine
Polizeistation wird gebombt …. Menschen sterben. Es wird an der Bosphorosbrücke
in Istanbul gekämpft. 
Und dies mitten in einem friedlichen Juli einer Türkei,
die sich gerade vom Islam
ohne Allah des Terroranschlags des Istanbuler Flughafens Atatürk
erholt hat
und hofft, es wird sie eine Zeit lang nicht mehr treffen oder wenigstens nicht so hart.
Alle hoffen auf ein Ende
des Bürgerkriegs in Syrien und auf ein Ende des Bürgerkriegs im eigenen Land. Alle
sind müde, sich jeden Tag fragen zu müssen, wer wann und warum auf wen schießt,
Autobomben hochgehen lässt oder sich selbst in die Luft sprengt, indem er sich auf Allah, den Gott des Lebens beruft und andere in den Tod reißt. Alle möchten
Sicherheit und Wohlstand für ihre Familien in diesem Vielvölkerstaat mit einer
toleranten und geduldigen Zivilbevölkerung, die noch nicht an ihrer Willkommenskultur zerbrochen ist.
Immer wenn man sich die Dinge
nicht rational erklären kann und auch nicht mal militaristisch oder kolonialistisch,
dann geht es um nihilistisches Denken zwecks Destabilisierung eines Landes mit muslimischer Bevölkerung und um paranoide Machtspiele.
Es geht um Resourcen um der Macht willen, nicht mal mehr um des Geldes willen.

Was mir heute
klar wurde, ist, wie froh die Türken jeglicher Herkunft darüber sind, endlich
alle auf einer Seite zu stehen, gegen das Militär und gegen die
Destabilisierung ihrer jungen Demokratie. Gehört die Spaltung zwischen
Kemalisten und Islamisten der Vergangenheit an? Möchten sie nun alle gemeinsam
keine militärische Willkür und keine Machtspiele gegen das Volk und den Staat?
Wollen sie alle die blinde Unterwürfigkeit gegenüber dem Militär über Bord
werfen, um eine langfristige soziale Ruhe im Lande zu erlangen? Das ist heute
Nacht meine Hoffnung in meiner Wahlheimat, vor allem für die neue Generation
der Kinder, die davon nichts oder wenig mitbekommen hat.