General

Ruecratie=Macht der Strasse im Land der Aufrechten

© Ricus Jacometti

Ein Mädchen beim Schulunterricht
in ihrer Muttersprache – keine Selbstverständlichkeit

Katja Schurter / 02. Jun
2016 –
 Armut, hohe
AnalphabetInnenrate und eine Zivilgesellschaft, die für ihre Rechte kämpft:
Burkina Faso – ein Land mit Widersprüchen.

Red. Katja
Schurter ist verantwortliche Redaktorin des Magazins «Solidarität» von Solidar
Suisse / Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH.
Thomas
Sankara, Präsident von 1983 bis 1987, gab dem damaligen Obervolta den Namen
«Land der Aufrechten». Diesem stolzen Titel wurden die Burkinabè in den letzten
eineinhalb Jahren mehr als gerecht: Im Oktober 2014 verjagten sie Präsident
Blaise Compaoré, weil er sich nach 27 Jahren autokratischem Regime mit einer
Verfassungsänderung im Amt halten wollte. Nach einem Putschversuch im letzten
September versammelten sich die Menschen sofort in der Hauptstadt und die
«Ruecratie» – die Macht der Strasse – verbreitete sich in Windeseile im ganzen
Land. Sogar die ärmsten KleinhändlerInnen, für deren entgangene Einkünfte
niemand aufkommt, beteiligten sich am Generalstreik. Nach einer Woche Protest
und Unsicherheit war der Spuk vorbei – das Land kehrte zu einer zivilen
Regierung zurück und erkor im November 2015 in einer demokratischen Wahl Roch
Marc Kaboré zum neuen Präsidenten. All dies ist Ausdruck einer Kultur von
zivilem Ungehorsam und hohem moralischen Anspruch an die Politik. «Die grosse
Siegerin dieser Wahlen ist die Demokratie. Man muss die Reife der burkinischen
Bevölkerung loben», resümiert Solidar-Landeskoordinator Dieudonné Zaongo.
Solidar Suisse hat zur Beteiligung in den Gemeinden beigetragen, indem die
Bevölkerung informiert und ermutigt wurde, sich ins Wahlregister einzutragen.
Im Vergleich zu 2012 hat sich die Zahl der registrierten WählerInnen im Plateau
Centrale um 27 Prozent erhöht.
Ein
Schulunterricht, den die Kinder verstehen
Burkina Faso
ist eines der ärmsten Länder der Welt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt
von weniger als 1,25 Dollar pro Tag und 65 Prozent sind AnalphabetInnen. Das
Problem: Die meisten Schulkinder verstehen die offizielle Schulsprache nicht.
Denn obwohl in Burkina Faso 49 verschiedene Sprachen gesprochen werden, findet
der Schulunterricht meist auf Französisch statt – in der alten Kolonialsprache.
Um dies zu ändern, hat Solidar Suisse 1994 die mehrsprachige Bildung initiiert,
in der parallel in einer Landessprache und in Französisch unterrichtet wird.
Eine Erfolgsgeschichte: Die Resultate der ersten Pilotprojekte waren so
positiv, dass Solidar das Modell von der Primarschule auf Kindergarten sowie
Sekundarschule ausweitete und im ganzen Land verbreitete. 2007 wurde die
mehrsprachige Grundbildung im burkinischen Bildungsgesetz verankert. Dieses
Solidar-Bildungsprojekt gilt als einer der erfolgreichsten Reformansätze im
afrikanischen Kontext. Der Durchbruch steht nun kurz bevor. Zwar haben bis Ende
2015 erst 220 öffentliche Primarschulen, das heisst zwei Prozent, die
mehrsprachige Bildung übernommen. Doch mit der Integration der mehrsprachigen
Bildung in die LehrerInnenausbildung im Jahr 2014 und der Versiebenfachung des
staatlichen Budgets für mehrsprachige Bildung in den letzten fünf Jahren kommt
die flächendeckende Verbreitung Schritt für Schritt vorwärts. Gegenwärtig wird
die Expertise von Solidar auf den Staat übertragen, damit dieser die Ausweitung
selbständig vorantreiben kann, und wir ziehen uns sukzessive aus dem Bereich
der formellen Bildung zurück.
Unterstützung
erhalten jedoch weiterhin jene zwei Drittel der Jugendlichen, die keine
formelle Schulbildung genossen haben. Solidar bietet ihnen die Möglichkeit,
ihre Grundbildung nachzuholen, eine Berufsausbildung zu absolvieren und in
Praktika erste Berufserfahrungen zu sammeln. Den ambitioniertesten
TeilnehmerInnen stehen zudem Coachings offen, damit sie ihre Business-Ideen mit
Mikrokrediten finanzieren und den Schritt in die Selbständigkeit wagen können.
Damit wird auch ein Beitrag gegen die Jugendarbeitslosigkeit geleistet, die in
ländlichen Gebieten Burkina Fasos krasse 75 Prozent beträgt.
Klimawandel
trifft die ländliche Bevölkerung
Solidar
unterstützt auch Erwachsene: Zum Beispiel mit Alphabetisierungs- und
Französischkursen, denn viele Menschen haben nie die Schule besucht. 80 Prozent
der burkinischen Bevölkerung leben von der Landwirtschaft. Doch nur wer lesen,
schreiben und französisch sprechen kann, hat die Chance, am öffentlichen Leben
teilzuhaben sowie die eigenen Produkte auf Märkten zu verkaufen, auf denen
andere Sprachen als die eigene gesprochen werden.
Ein grosses
Problem für die Bäuerinnen und Bauern sind auch die Auswirkungen des
Klimawandels, die sich in Burkina Faso immer deutlicher zeigen, zum Beispiel in
zunehmender Trockenheit und einer kürzeren Regenzeit. Die von Solidar
vermittelten landwirtschaftlichen Techniken erlauben nun, das Wasser
zurückzuhalten oder Kompost herzustellen. So können die LandwirtInnen ihre
Produktion erhöhen.
Goldwirtschaft
fördert Kinderarbeit
Kinder müssen
häufig arbeiten. Vielen bleibt nur der Weg in die Minen, um ihre Familien zu
unterstützen – bis zu 50 Prozent der MinenarbeiterInnen sind laut Unicef
minderjährig. Das bedeutet: kein Schulbesuch, schlechte Gesundheit, tiefer
Lohn, keine Zukunftsperspektiven. Auch die Schweiz profitiert von der
Kinderarbeit, denn hier werden 70 Prozent der weltweiten Goldproduktion
veredelt. Der Goldabbau hat in Burkina Faso in den letzten Jahren einen
regelrechten Boom erlebt. Seit 2009 wird mehr Gold als Baumwolle exportiert,
2013 war es mit 80 Prozent das Hauptexportprodukt und machte 2014 bereits 20
Prozent des Bruttoinlandprodukts aus.
Demokratisierung
und Perspektiven für Jugendliche
Angesichts
von Kinderarbeit und Analphabetismus engagiert sich Solidar dafür, Perspektiven
für Kinder und Jugendliche zu schaffen.
Auch die
Fortsetzung des Demokratisierungsprozesses im Land ist ein wichtiges Anliegen,
besonders nach den Attentaten von islamischen Extremisten in Ouagadougou am 16.
Januar 2016: «Wir haben in Burkina Faso ein starkes historisches Fundament, das
Friedfertigkeit und Toleranz begünstigt», meint Dieudonné Zaongo. «Wenn wir die
verschiedenen aktuellen Herausforderungen anpacken und die Frage der inneren
Sicherheit nicht alles überlagern lassen, werden wir gestärkt aus dieser
schweren Zeit hervorgehen.»
Dieser
Beitrag ist erstmals in «Solidarität», dem
Magazin von Solidar Suisse, erschienen.