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Lager für Europa


Quelle: The Guardian
von German Foreign Policy, Berlin-Athen, 07.06.2016.
Beschlüsse griechischer
Asylentscheider stellen in zunehmendem Maß den EU-Abschiebepakt mit Ankara in
Frage. Wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl berichtet, stufen griechische
Stellen bei der Entscheidung, ob Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die
Türkei zurückgeschoben werden dürfen, das Nachbarland immer öfter nicht als
“sicheren Drittstaat” ein. Bereits zuvor hatten deutsche Medien
konstatiert, die griechische Asylbehörde entscheide Anträge trotz massiven
Drucks aus Brüssel “und einigen europäischen Hauptstädten”
“meist im Sinne der Migranten”. Gleichzeitig geben jedoch immer mehr
Flüchtlinge auf und nehmen an Programmen zur angeblich “freiwilligen”
Rückkehr in die Armuts- und Kriegsgebiete ein, denen sie unter erheblichen Risiken
entflohen sind. Ursache sind zum einen die Lebensbedingungen in den
griechischen Flüchtlingslagern, die eine menschenwürdige Existenz kaum zulassen
und viele in die Resignation treiben; hinzu kommt, dass eine Weiterreise in die
west- und nordeuropäischen Wohlstandszentren inzwischen beinahe ausgeschlossen
scheint. Dies liegt nicht zuletzt an bürokratischen Schikanen und an der
Nichterfüllung von Verpflichtungen zur Übernahme von Flüchtlingen – gerade auch
auf Seiten der Bundesrepublik.
Der Geist des
Abkommens
Die Tätigkeit der griechischen Asylentscheider ist
von offiziellen Stellen in Deutschland wie auch in Brüssel seit dem
Inkrafttreten des Abschiebepakts mit der Türkei am 20. März sehr skeptisch
begleitet worden. Bereits Anfang April wurde berichtet, “dem Vernehmen
nach” werde “die griechische Asylbehörde derzeit aus Brüssel und
einigen europäischen Hauptstädten unter starken Druck gesetzt, Anträge rasch
abschlägig zu bescheiden und dabei zur Not einige Schritte des vorgesehenen Procedere
zu überspringen”.[1] Wer jedoch die Leiterin der Behörde, Maria
Stavropoulou, kenne, “wird das nicht für aussichtsreich halten”, hieß
es weiter: “Auf Einmischungsversuche in die Arbeit der Asylbehörde
reagiert deren Direktorin unmissverständlich.” Zwar könne der griechische
Innenminister “sie natürlich zum Rücktritt drängen”; doch machten die
Mitarbeiter der Asylbehörde ebenfalls nicht den Eindruck, sich gegen ihren
Willen von außen steuern zu lassen. Vergangene Woche wurde nun gemeldet, die
griechischen Beamten entschieden “meist im Sinne der Migranten” –
“und damit anders, als es der Geist des Flüchtlingsabkommens
vorsieht”.[2] So seien “nur etwa 30 Prozent der Asylanträge von
Syrern … in erster Instanz abgelehnt” worden. Darüber hinaus dauerten
die Verfahren länger, als man es in Berlin und Brüssel wünsche: Stavropoulou
weise “immer wieder” darauf hin, “dass die nötigen Ressourcen
und der Zeitaufwand für ein angemessenes Asylverfahren größer seien als
gemeinhin vermutet”. Zudem herrsche Personalmangel. Letzteres stimmt, ist
allerdings auf den Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst zurückzuführen, den
Athen auf Druck Berlins und Brüssels verhängen musste, um zu sparen.
Kein sicherer
Drittstaat
In den vergangenen Tagen sind nun mehrere
Abschiebebeschlüsse, die in der ersten Instanz gefällt worden waren, von dem
dreiköpfigen Asylkomitee, bei dem Berufung eingelegt werden kann,
zurückgewiesen worden. Die Entscheidungen des Komitees seien “im
Zusammenhang mit der Frage” gefällt worden, “ob die Türkei ein
‘sicherer Drittstaat’ ist”, teilt die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl
mit. Alles in allem gebe es “mittlerweile zehn veröffentlichte
Entscheidungen der 2. Asylinstanz, in denen festgestellt wurde, dass die Türkei
kein ‘sicherer Drittstaat’ für syrische Flüchtlinge ist”. Darüber hinaus
lägen “zahlreiche weitere positive Entscheidungen vor, die bislang jedoch
noch nicht zugestellt wurden”.[3] In der vergangenen Woche wurde zudem in
einem Fall ein Eilantrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) eingereicht. Es handelt sich um den Fall eines schwulen Syrers, der noch
in der Türkei von Kämpfern des “Islamischen Staats” (IS/Daesh)
verfolgt und bedroht wurde. Sein Asylantrag sei nach seiner Befragung durch das
European Asylum Support Office (EASO), an das auch deutsche Beamte entsandt
worden sind [4], für unzulässig erklärt worden, berichtet Pro Asyl. Der
Flüchtling ist zur Zeit auf Lesbos inhaftiert.
Lagerelend
Nicht nur das Haftlager Moria auf Lesbos, auch die
anderen griechischen Flüchtlingslager sind in einem Zustand, der ein
menschenwürdiges Leben in vielen Fällen kaum möglich erscheinen lässt. Dies
berichten Journalisten sowie Organisationen, die die Flüchtlinge vor Ort
unterstützen. Insgesamt sind zur Zeit – Stand: 20. Mai – 54.230 Schutzsuchende
offiziell in Griechenland registriert; während 8.592 auf den ägäischen Inseln
festsitzen, leben 45.638 auf dem griechischen Festland. Viele von ihnen wohnen
in massiv überfüllten Zelten ohne Elektrizität, die weder gegen Hitze noch
gegen Kälte Schutz bieten und teilweise wasserdurchlässig sind.[5] Die Mehrzahl
der Lager befindet sich fernab von größeren Ansiedlungen, was die Flüchtlinge
weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausschließt. Zahlreiche Flüchtlinge
beklagen eine völlig unzulängliche sanitäre Ausstattung der Lager sowie eine
unzureichende medizinische Versorgung; sogar in den Krankenhäusern gebe es zu
wenig Personal, zu wenig Betten und zu wenig Medikamente. Letzteres liegt
freilich daran, dass Athen auf Druck aus Berlin und Brüssel in den vergangenen Jahren
auch bei der Gesundheitsversorgung so drastisch kürzen musste, dass Experten
schon seit geraumer Zeit offen von einer schweren “Gesundheitskrise”
sprechen.[6]
37 von 17.209
Das Massenelend in den griechischen
Flüchtlingslagern ist ein Resultat nicht nur der miserablen Versorgung, sondern
auch der Tatsache, dass die EU-Staaten bestehende Regelungen zur Umverteilung
der Flüchtlinge und zum Familiennachzug nicht einhalten. Beides trifft auch auf
die Bundesrepublik zu. Laut EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos kämen unter
den aktuellen Bedingungen 70 Prozent der in Griechenland festsitzenden
Flüchtlinge für die Umverteilung in Frage, die die EU im vergangenen September
beschlossen hat. Demnach sollen zumindest 160.000 Flüchtlinge umverteilt
werden, 63.302 davon aus Griechenland, von denen wiederum Deutschland 17.209
aufzunehmen zugesagt hat. Bis zum Inkrafttreten des Abschiebepakts mit der
Türkei sind laut offiziellen Angaben der EU-Kommission 37 Flüchtlinge in die
Bundesrepublik geholt worden.
Bürokratisch
ausgehebelt
Ähnlich sieht es beim Familiennachzug aus.
Organisationen wie die Ökumenische Werkstatt NAOMI aus Thessaloniki, die
Flüchtlinge in Nordgriechenland unterstützt, berichten, unter den
Schutzsuchenden, die in den letzten Monaten die Reise aus der Türkei in die EU
angetreten hätten und nun in Griechenland feststeckten, befänden sich
überdurchschnittlich viele Frauen und Kinder. Sie hätten sich offenkundig auf
den gefahrvollen Weg gemacht, als die Familienzusammenführung für Flüchtlinge
in Deutschland in Frage gestellt worden sei, berichtet NAOMI-Mitarbeiterin
Dorothee Vakalis. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung den gesetzlich
geregelten Familiennachzug mit bürokratischen Schikanen systematisch und
umfassend untergräbt. So müssen Familienangehörige persönlich bei einer
deutschen Botschaft oder einem Konsulat ein Visum beantragen; der Postweg
genügt nicht. Die Wartezeit für einen Termin bei der deutschen Botschaft in
Beirut – einer der wenigen, die in Frage kommen – beträgt gegenwärtig 14 Monate.
Wer einen Termin bei diplomatischen Vertretungen in der Türkei oder Jordanien
erhalten hat, sieht sich mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert: Jordanien
verweigert Syren häufig die notwendige Einreisegenehmigung, während die Türkei
die Visumspflicht für Syrer eingeführt hat; türkische Visa wiederum erhält man
ebenfalls nur nach einer längeren Wartezeit, die es manchen Familienangehörigen
unmöglich macht, ihren Termin bei der entsprechenden deutschen Stelle
einzuhalten. Zudem verlangt das Auswärtige Amt, dass nur Syrer den Nachzug
beantragen dürfen, die im Besitz gültiger Reisepässe sind. Pässe zu beantragen
ist wiederum “nicht nur sehr teuer und meist gefährlich, sondern auch mit
weiteren langen Wartezeiten von bis zu acht Monaten verbunden”, berichtet
Pro Asyl.[7]
Die Lager wirken
Zermürbende bürokratische Schikanen und die
katastrophalen Lebensbedingungen in den griechischen Flüchtlingslagern führen
mittlerweile dazu, dass immer mehr Flüchtlinge aufgeben – und in die Armuts-
und Kriegsgebiete zurückkehren, denen sie mühsam entkommen sind. Wie die
International Organization for Migration (IOM) berichtet, hatten sich zum
Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan zu Jahresbeginn noch überhaupt nicht für
die IOM-Angebote zur “freiwilligen” Rückkehr interessiert. Das hat
sich mittlerweile geändert. Bis zum 3. Mai hat die IOM bereits 615 Afghanen
“Rückkehrhilfe” geleistet; insgesamt unterstützte sie 2.026
Flüchtlinge dabei, den Versuch aufzugeben, in den wohlhabenden Staaten West-
und Nordeuropas Schutz zu erhalten. Die Lager der EU verfehlen ihre Wirkung
nicht.
[1] Michael Martens: Kompromisslos. Frankfurter
Allgemeine Zeitung 05.04.2016.
[2] Moritz Eichhorn: Insel der versehrten Hoffnung. Frankfurter Allgemeine
Zeitung 31.05.2016.
[3] EU-Türkei-Deal: Berufungsinstanz stoppt Abschiebungen in die Türkei.
www.proasyl.de 01.06.2016.
[4] Abschiebung in die Türkei trotz Verfolgung durch IS? Klage vor dem EGMR
eingereicht. www.proasyl.de 03.06.2016.
[5] Pro Asyl: Vulnerable lives on hold. Refugees are hardly surviving the mass
camps in the Athes region. Frankfurt am Main, Mai 2016.
[6] The Greek health crisis. www.thelancet.com 11.07.2015.
[7] Familiennachzug verhindert: Familien auf Jahre getrennt. www.proasyl.de
08.04.2016.