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Die “islamische” Variante des Nihilismus

By Milena Rampoldi,
ProMosaik, 30.06.2016.

Gott ist tot. So heißt es im Aphorismus
125 von Friedrich Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft. Die Konsequenz:
eine Theologie ohne Gott und Gläubige ohne Gott.
Das Alles trifft sehr wohl auf die
Philosophie des Abendlandes zu, dachte ich in meinen Jugendjahren. Und das Werk
von Karl Löwith „Von Hegel zu Nietzsche“ überzeugte mich noch mehr davon. Ich
dachte, der Tod Gottes  wäre ein
typisches Problem des Abendlandes.
Aber heute, nach dem zigsten
terroristischen Anschlag auf Zivilisten in der Türkei denke ich daran, wie auch
Allah tot ist. Und er bleibt tot. Und sie haben ihn getötet.
Die Konsequenz: eine islamische
Theologie und Gläubige ohne Allah.
Genauso lässt sich meiner Meinung nach der
selbstbenannte „Islamische Staat“, das sogenannte syrisch-irakische Sunnistan
des islamischen Atheismus und Nihilismus  am besten erklären. Denn positiv-theologische
Erklärungen des Phänomens bleiben aus. Und das Phänomen ganz von der
islamischen Religion loszulösen wäre irrational und verantwortungslos, denn die
Kämpfer des Islamischen Staates nennen sich Muslime, berufen sich auf den Islam
und den Koran und halten sich sogar für bessere Muslime, die den Maßstab des
Islam festlegen.
Eine Theologie ohne Gott bedeutet in
einem monotheistischen Kontext ohne Zweifel eine Theologie ohne Schöpfer und
somit ohne Leben, denn im Monotheismus und somit auch im Islam ist Allah der
Schöpfer (haliq) und die Quelle des Lebens. Und diese IS-Theologie ohne
Gott widerspricht vehement einem der wichtigsten Grundsätze des Islam, der wie
folgt lautet:
Sure 5, Vers 32: 
„(…) Wenn jemand einen Menschen tötet (…), so ist es, als hätte er die
ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so
ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“
Wenn nun der Islam Leben
und Glaube an Allah, den Schöpfer des Lebens bedeutet, so bedeutet der
Anti-Islam den Nihilismus und die Tötung der Idee Allahs,  des Spenders des Lebens und des Einzigen,
Alleinigen Schöpfers, “im Namen dessen” gelesen und gesprochen werden soll.
“Iqra” (lese) und “qul” (sage) sind zwei zentrale, monotheistische Aufrufe an
alle Muslime im Namen des Lebens und des Islam als Unterordnung der Weltordnung
Allahs.
Wer hingegen willkürlich tötet,
verstößt gegen Allahs Weltordnung und unterwirft sich dem Vakuum, das er in die
Welt geschossen hat. Die Selbsttötung ist in dieser nihilistischen
Weltanschauung als das logische Ergebnis der Tötung Allahs zu sehen. Und der
Tötung Allahs folgt die vollständige Manipulierung und nekrophile Auslegung von
Allahs Botschaft des Lebens und des Lichtes.
Der Jihad im Namen der
Selbstverteidigung wird in einen sadistischen Angriffskrieg verwandelt, in denen
alle Mittel Recht sind, um jegliche Zivilisten jeglicher Religion und Kultur
einfach aus der Welt zu schaffen, weil die Tatsache, dass man sich dafür in die
Luft sprengt und ins Paradies des Nihilismus katapultiert wird, schon
Begründung genug ist. Und je unschuldiger der Getötete, desto besser. Denn es
geht diesen Killern einer selbsternannten „Takfirsekte“ darum, sich selbst als „die“
Muslime über die anderen, „üblichen“ Muslime, die nach dem Prinzip des
Monotheismus und des bescheidenen Lebens die Anderen mit „Salam“ begrüßen,
ohne sich als Anti-Helden eines verdrehten Islams zu inszenieren, zu stellen.
Der nihilistische Antiislam
ohne Allah ist aber ein Teil von uns, ein Teil einer muslimischen Gesellschaft,
zu der alle Muslime gehören, da diese nihilistischen Töter Allahs zur Umma
gehören, ob wir es nun wollen oder nicht. Wir sind somit als Muslime als Erste verantwortlich
dafür, die Ursachen dieses Problemkomplexes zu ermitteln und zu beseitigen. Und
wir sind verantwortlich dafür, weil wir an Allah, ar-rahman ar-rahim ar-ghafur
glauben.
Und Ursachen für diese
Symptome eines selbsternannten Kalifats von Gottesmördern gibt es
bedauerlicherweise sehr viele und sehr diversifizierte: einerseits sind es die
geopolitischen, wirtschaftlichen und soziologischen Bedingungen der Länder, für
die sich diese Menschen „ihrer Überzeugung nach“einsetzen, um den Menschen vor
Ort zu einer gerechten und muslimisch ausgerichteten Weltordnung zu verschaffen.
Geopolitisch ist die gesamte Nahostregion das traurige Ergebnis eines post- und
neokolonialistischen Aufteilungsplans, der Millionen Menschen in die Armut, Enteignung,
Unsicherheit und in die ethnische und sektarische Spaltung getrieben hat. Denn
mit Allah stirbt auch die multikulturelle und tolerante Umma, die Anerkennung
der Diversität nach Koran 5.48, wo es heißt:
„O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem
weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen
gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiß, der Geehrteste von euch bei
Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiß, Allah ist Allwissend und
Allkundig.“
Andererseits sind weder der
Marxismus noch der Neoliberalismus die geeignete wirtschaftliche Lösung für die
Region, da der Islam seine eigenen wirtschaftlichen Lösungen hat. Des Weiteren
erzeugen der zionistische Kolonialismus und sein US-Verbündeter, der dem
Apartheidstaat Israel mit allen Mitteln zur Straffreiheit verhilft, extreme
Frustrationen in der muslimischen Welt des Nahen Ostens, die an sich schon in
einer tiefen Existenzkrise steckt.
Chancengleichheit für alle,
Berufschancen für Jugendliche, Frauenempowerment, Bildung für alle sind eine
Utopie in einer Region, die sich bereits aufgegeben hat und das Wort
„inschallah“ nur noch im Fatalismus ertrinken lässt. Aber es gibt auch eine
dynamische Auslegung des Begriffs „inschallah“, die diesen Menschen ihr
Selbstbewusstsein zurückgeben kann. Denn meiner Meinung nach ist der Begriff
„inschallah“ auf der Grundlage des Verses 11 der Sure al-Rad auszulegen, in der
es heißt:
“…Allah ändert nicht den Zustand eines
Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist..” In diesem Sinne bedeutet
der Islam Dynamik, Auseinandersetzung mit den Problemen, Optimismus und auch
seelischer Kampf für das Gute und die Gerechtigkeit, das Leben und die
Barmherzigkeit.
Der Westen destabilisiert
fortlaufend die Region. Westliche Geheimdienste, islamophobe Gruppierungen und
westlicher Kulturkolonialismus werden dafür verantwortlich gemacht. Diese
Situation rechtfertigt im Kopf dieser „verirrten“ Menschen den Krieg gegen
alles und alle: die Muslime müssen sterben, weil sie sich des Tafkir schuldig
gemacht haben, die Menschen im Westen müssen sterben, weil sie auf der Seite
der Kolonialisten stehen und die muslimische Welt zu dem gemacht haben, was sie
nun ist.
Wo bleibt die Lösung? Im
Verständnis der Psychologie des Terroristen und in der Bekämpfung des externen Neokolonialismus
und der Verbindung zwischen Militarismus und Kapital und des Nihilismus und der
Radikalisierung junger Menschen in den muslimischen Gesellschaften, in denen
sie sich selbst in einem Vakuum sehen, in dem Allah, der Schöpfer allen Lebens
nicht mehr vorkommt.
Es braucht dringend ein
sozio-pädagogisches Programm des Dialogs, das weltweit umgesetzt wird, um
Muslime und Nicht-Muslime zusammenzubringen und der Radikalisierung junger
Muslime vorzubeugen. Radikalisierung sollte man vielleicht mehr als
Vakuumisierung und Nihilismus bezeichnen. Leider hat jede Religion auch ihren Nihilismus.
Und so hat jede Religion auch ihre Gottesmörder. Und dies gilt auch für den
Islam und die muslimische Gemeinde, vor allem in dieser schweren Zeit blinder
Gewalt gegen unschuldige Zivilisten.
Den Problemkomplex „IS“, „DAESH“
und seiner „Gottesmörder“ kann man nur durch den präventiven Dialog lösen. Zu
diesem präventiven Dialog gehört aber auch der überzeugte Kampf gegen den
Militarismus des Westens, der Verbindung zwischen Rüstungsindustrie, Kapital,
Zionismus, Neukolonialismus und Kriegen im Nahen Osten und der konstruktive
Kampf gegen die Islamfeindlichkeit durch den Dialog über den Islam zwischen
Menschen und gesellschaftlichen Gruppen.
Was aber nicht außer Acht
gelassen werden darf, ist, dass diese Aufgabe eine Aufgabe der gesamten
Gesellschaft weltweit ist, der Muslime und Nicht-Muslime. Denn nur durch
Verantwortung und das  Involvieren aller in
diesen Problemkomplex, der uns alle was angeht, können wir eine wahre,
nachhaltige Lösung für Nahost und für die Welt anstreben. Es wird ein
langwieriger und harter Prozess, aber wenn wir nicht damit anfangen, dieses
Vakuum mit Menschlichkeit und Leben zu füllen, werden immer neue Gottesmörder am
Horizont erscheinen und neue Namen annehmen.
Die praktische
Terrorismusbekämpfung der Nationalstaaten reicht nicht aus. Die Lösung des
Problems besteht nicht darin, Terroristen abzuknallen. Das ist nur das
Endergebnis dieser Manifestation des Vakuums und die Reaktion des Staates, wenn
sich Terrorist und Polizist in der Sackgasse vor der Mauer des Nihilismus ein
letztes Mal in die Augen sehen.
Es geht aber darum, die
selbsternannten Gotteskrieger davon abzuhalten, die Lebenskultur des Islam und
somit Allah zu töten und nicht nur darum, sie zu töten, nachdem ihr
Verirrungsprozess das verfehlte Ziel erreicht hat und sie vor dieser hohen Wand
in der Sackgasse verbluten.
Dafür braucht es aber eine
sozio-politisch engagierte Zivilgesellschaft. Sicherheit und Polizei,
Spezialeinheiten und Terrorismusbekämpfung, Militär, „Infiltration“ und
Training von Geheimdiensten und Terrorismusexperten vor Ort reichen nicht aus,
denn sie zerschlagen nur die Symptome. Denn wären sie ausreichend, gäbe es
keinen Terror mehr. Aber es gibt keinen erfolgreichen Krieg des Staates gegen die
Ursachen des Terrors, sondern nur gegen die sichtbaren Symptome, wenn wild
durch die Gegend geschossen wird und die ersten Täter und die ersten Opfer auf
dem Marmorboden des Flughafens liegen.  
Die Ursachen des
Terrorismus lassen sich nur durch Inklusion, Erziehung, Bildung,
wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Chancengleichheit und Empowerment der
Zivilgesellschaft als ganze beseitigen. Das Gegenteil des Nihilismus ist der Humanismus,
ein Humanismus, der sich in allen Religionen und Kulturen wiederfindet und
somit auch alle Vakuums mit Leben füllen kann, ein Leben, das im Islam von
Allah kommt und zu Allah zurückkehrt. Denn wie Johann Wolfgang Goethe so schön
sagte:
„Wenn Islam Gott ergeben heißt,
im Islam leben und sterben wir alle“.
Zum Abschluss möchte ich
noch den Lichtvers aus dem Koran (Sure 24:35) anführen, der für mich die Art
und Weise wiederspiegelt, wie Muslime durchs Leben und durch diese Welt, ohne
diametrale Gegenüberstellung zwischen Morgen- und Abendland, gehen sollten:
„Gott ist das Licht der
Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine
Lampe ist. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist, als wäre es ein
funkelnder Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum,
weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet, auch ohne dass das
Feuer es berührt hätte. Licht über Licht. Gott führt zu seinem Licht, wen Er
will, und Gott führt den Menschen die Gleichnisse an.
Und Gott weiß über alle Dinge Bescheid.”