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Die Mena Studie: demografischer Wandel als Chance

Syrische Flüchtlinge (Quelle: prezi.com)

Von
Milena Rampoldi, ProMosaik. Im Anschluss zu meinem Interview mit Berlin Institut über
allgemeinere Fragen möchte ich Ihnen nun ein zweites spezifischeres Interview
über die Studie MENA mit den Autoren von MENA vorstellen. Sie befasst sich mit
dem Thema der demografischen Veränderungen im Nahen Osten und Nordafrika und
deren Einfluss auf Europa. Die Studie wurde von
von
Ruth Müller, Stephan Sievert und Reiner Klingholz
verfasst. Es ist derzeitig wohl eher eine Herausforderung, die MENA-Region als
Chance für Europa zu sehen, aber dieser Herausforderung sollten wir uns
stellen. Migration ist eine Chance. Und dies sollte kein Slogan bleiben,
sondern zum sozio-politischen Engagement uns aller für eine multikulturelle und
multireligiöse Gesellschaft im Namen des Respektes für Unterschiede und
Diversität werden. Das sollte auch in der Flüchtlingspolitik und in der Arbeit
mit Flüchtlingen gelten. Denn Flüchtlinge sind eine Chance für uns und für sie. 
MR:
Welche Hauptziele verfolgt die Studie MENA?

BI: Die Mena-Region ist eine der instabilsten der Welt. In unserer Studie sind
wir der Frage nachgegangen, warum dies so ist, welche Rolle demografische und gesellschaftliche
Veränderungen dabei spielen und was die Länder dagegen tun können.
Wie in vielen anderen Ländern sind auch in den meisten
Mena-Ländern die Fertilitätsraten in den vergangenen Jahren stark gesunken. Die
Bevölkerungen sind dadurch im Durchschnitt älter geworden. Bildeten bis vor
kurzem noch die Kinderjahrgänge die größte Bevölkerungsgruppe, sind jetzt in den
meisten Mena-Staaten die jungen Erwachsenen von 20 bis 30 Jahren besonders
stark vertreten. Darüber hinaus ist der Bildungsstand in den Mena-Ländern
deutlich gestiegen. Mehr als die Hälfte aller jungen Leute hat eine
weiterführende Schule besucht, ein Viertel sogar die Hochschule.
In unserer Studie konnten wir zeigen, dass im weltweiten
Durchschnitt eine wachsende Gruppe junger gebildeter Menschen zu politischer
Stabilisierung beiträgt. In der Mena-Region ist aber genau das Gegenteil der
Fall. Je gebildeter die Bevölkerungen dieser Länder, desto schlechter ist es tendenziell
um die politische Stabilität bestellt.
MR: Welche sind die Hauptpotentiale
und welche die Hauptdefizite der Region MENA?
BI: Das Hauptpotenzial der meisten Mena-Länder besteht
in einer großen Gruppe junger Menschen, die zumindest formal recht gut gebildet
sind. Dies ist eine große Chance, denn diese Menschen könnten in ihren Ländern
viel bewegen und sowohl zu einer wirtschaftlichen wie auch zu einer politischen
Stabilisierung beitragen.
Doch dazu haben sie bislang kaum Möglichkeiten. Für die
vielen jungen Leute gibt es kaum Arbeitsplätze. Es mangelt an mittelständischen
Unternehmen, die formale Beschäftigungsverhältnisse schaffen. Ein Unternehmen überhaupt
zu eröffnen, ist meistens mit großen Problemen verbunden. Die Infrastruktur ist
schlecht, Korruption und Vetternwirtschaft sind weit verbreitet und
Startkapital ist kaum verfügbar.
Hinzu kommt, dass die Schulen und Hochschulen häufig an
den Bedürfnissen der Arbeitgeber vorbei ausbilden. Viele junge Leute kommen
ohne jegliche Praxiserfahrung auf den Arbeitsmarkt. Es mangelt ihnen nicht nur
an Fachkenntnissen, sondern auch an den notwendigen Soft Skills – also den
Fähigkeiten, klar zu kommunizieren, kreative Ideen zu entwickeln oder mit
anderen zusammenzuarbeiten. Es wäre deshalb wichtig, in diesen Ländern ein
funktionierendes duales Berufsbildungssystem aufzubauen, wie wir es in
Deutschland kennen.
Statt für eine Berufsausbildung entscheiden sich die
Schulabsolventen lieber für ein Studium. Viele setzen dort die falschen
Akzente. Obwohl gerade Natur- oder Ingenieurswissenschaften in den Mena-Ländern
gefragt sind, ist ihr Anteil an den Studierenden gering. Stattdessen studieren
viele eine Sozial- oder Geisteswissenschaft und spekulieren auf einen Job im
öffentlichen Dienst. Doch diese Hoffnung wird immer häufiger enttäuscht. Denn die
ohnehin großen Verwaltungsapparate der Mena-Länder können längst nicht alle
jungen Leute aufnehmen. Aus diesen Gründen steigt in vielen Mena-Ländern mit wachsendem
Bildungsgrad sogar das Risiko, arbeitslos zu werden.
Besonders schlechte Chancen auf einen Job und ein
Einkommen haben Frauen – obwohl junge Frauen in den Mena-Ländern heute formal
meistens besser ausgebildet sind als gleichaltrige Männer. Die bestehenden
Rollenbilder, welche familiäre Aufgaben hauptsächlich bei der Frau verorten,
hindern viele Frauen daran, überhaupt ins Berufsleben einzusteigen. Frauen fällt
es schwerer als Männern, eine Arbeit zu finden und wenn sie einen Job haben,
werden sie dafür oft nicht adäquat entlohnt. Manche Berufe, etwa Anwältin oder
Bankkauffrau, können sie mancherorts gar nicht erst ergreifen. Könnten Frauen
ihre Fähigkeiten dagegen gleichberechtigt einsetzen, könnten sie als
Angestellte oder sogar Unternehmerinnen dazu beitragen, die Wirtschaft in die
Gänge zu bringen und damit Arbeitsplätze zu schaffen.
Nur wenn den Mena-Ländern gelingt, die Defizite in den
drei Bereichen Bildung, Unternehmertum und Geschlechtergerechtigkeit zu
beheben, können sie ihr großes Potenzial nutzen und damit einen
wirtschaftlichen Aufschwung und eine politische Stabilisierung einleiten.
MR: Warum ist die MENA-Region so
wichtig für Europa?
BI: Sowohl aus humanitären wie auch aus
sicherheitspolitischen und ökonomischen Erwägungen sollte uns an einer stabilen
Mena-Region gelegen sein. Denn wenn sich die Mena-Länder weiter wie bisher
entwickeln, dürfte das Chaos eher zu- als abnehmen. Dies würde für uns in
Europa wachsende Flüchtlingszahlen bedeuten. Darüber hinaus dürfte die Zahl der
frustrierten jungen Leute wachsen und damit auch die Zahl derer, die für
extremistisches Gedankengut besonders empfänglich sind.
Eine stabile, wirtschaftlich prosperierende Mena-Region
würde dagegen potenzielle Absatzmärkte für unsere Wirtschaft bedeuten und
möglicherweise sogar einen Pool für hierzulande dringend benötigte Fachkräfte
darstellen.
MR: Wie kann man aus der Demographie
einen Faktor für eine friedliche Entwicklung machen, anstatt ihn als Risiko für
die eigene Welt zu sehen?
BI: Eine wachsende Gruppe junger, gut gebildeter
Menschen hat weltweit für eine politische Stabilisierung gesorgt. Das zeigen
die Ergebnisse unserer Studie. Dies funktioniert aber nur, wenn Länder dafür
die richtigen Vorbereitungen treffen und für Bildung und Jobs sorgen. Als
besonders erfolgreich darin gilt Südkorea. Binnen weniger Jahrzehnte hat sich das
noch in den 1950er Jahren arme Entwicklungsland zu einem sogenannten Tigerstaat
und zu einer reichen Industrienation entwickelt. Von solchen Beispielen ließe
sich lernen.
MR: Wie hängen Demographie, Krieg
und Flüchtlingskrise zusammen?
BI: Je geringer die Chancen junger Menschen auf
Beschäftigung gegen einen fairen Lohn sind, desto größer ist die Gefahr von
Protesten und Gewalt gegen das bestehende Regime. Das haben wir im Arabischen
Frühling gesehen. Der Krieg in Syrien, aber auch das Aufkommen des Islamischen
Staats, dem ja eine Vielzahl vor allem junger, desillusionierter Leute angehört,
sind unter anderem die Folge einer großen Perspektivlosigkeit – und damit
indirekt auch die Flüchtlingskrise. Weil die Bevölkerungen in diesen Ländern
weiter wachsen, bleiben diese Probleme bestehen und dürften sich sogar
verschärfen. Dies birgt das Risiko weiterer Krisenherde und neuer Flüchtlingsströme.
MR: Warum sind Flüchtlinge ein Potential und keine
Gefahr für die europäischen Gastländer?
BI: Sofern es gelingt, die Flüchtlinge auf den hiesigen
Arbeitsmärkten zu integrieren, könnten sie sich als Segen erweisen. Denn gerade
in Deutschland mangelt es bereits heute an Fachkräften und dieser Mangel dürfte
sich angesichts der seit über 40 Jahren niedrigen Kinderzahlen weiter
verschärfen. Die Flüchtlinge könnten diese Lücke zumindest teilweise füllen
helfen. Wir dürfen aber nicht davon ausgehen, dass der Weg dahin einfach wird.
Im Gegenteil: Wir haben in der Mena-Studie auch festgestellt, dass es zwar
viele gut ausgebildete junge Leute in den Mena-Ländern gibt und einige von
ihnen vermutlich auch nach Deutschland gekommen sind, doch in Syrien, Libyen und
Irak zum Beispiel – also in den drei unsichersten Ländern der Region – gibt es
auch eine große Bevölkerungsschicht, die nicht einmal die Grundschule
abgeschlossen hat. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass wir viele
Flüchtlinge zumindest nachschulen, wenn nicht gar von Grund auf ausbilden
müssen.