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Tagebuch spiritueller Einkehrtage in einem afrikanischen Gefängnis


von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein beeindruckender Text eines Entwicklungshelfers aus Frankreich, der anonym bleiben möchte. Er berichtet in diesem Tagebuch über seine spirituelle Einkehr in einem afrikanischen Frauengefängnis. Ich habe mich entschieden diesen Text ins Deutsche zu übersetzen, weil er zwei Dimensionen vereint, die wir in der weiblichen Religionsgeschichte öfters antreffen: Mystik und Haft. Durch die spirituelle Einkehr können die Häftlinge Vergebung finden. Dies gilt für die Schuldigen, aber auch für die Unschuldigen. Bei der zweiten Kategorie denke ich vor allem an politisch verfolgte Frauen und an zu Unrecht des Ehebruchs bezichtigte Frauen, die in Wirklichkeit Opfer sexueller Gewalt sind. Vergebung kommt immer dem Menschen zugute, der vergibt. Versöhnung kommt auch immer dem Menschen zugute, der verzieht. Es handelt sich um ein Thema, das viel zu wenig in der Gesellschaft angesprochen wird. Aber das Frauengefängnis ist immer der Spiegel der eigenen Gesellschaft. Denn die Frau ist der Spiegel und Pfeiler jeder Gesellschaft. Das Tagebuch dieser Einkehr hat auch eine interreligiöse Valenz. Denn dieser Ansatz kann auch auf andere Religionen übertragen werden. Dankbarkeit, Vergebung, Dialog und Liebe sind die ethischen Pfeiler aller Weltreligionen. 
Das französische Original finden Sie hier:
http://www.promosaik.com/cms/wp-content/uploads/diaire.pdf
Bevor ich durch das
doppelte, von bewaffneten Männern und Frauen bewachte Tor gehe, muss ich meine
Identitätskarte gegen ein Namensschild austauschen, das ich an meinen Pullover
heften muss. Die Wache im Dienst trägt eine dunkelgrüne Uniform und einen
Gürtel mit den Farben des Gefängnisses: grün, gelb und rot. Sie erkennt mich
und fragt mich mit einem Willkommenslächeln:  
– Bruder, wie geht es
dir heute? 
– Sehr gut, bin heute
den letzten Tag hier, um an den spirituellen Exerzitien teilzunehmen.  
– Haben Sie einen
Rosenkranz für mich?
– Ich habe nur einen
Fingerrosenkranz; aber meine Kollegin kann Ihnen ihren Rosenkranz leihen.
Nun befinde ich mich
im großen Hof, in dem sich das Frauengefängnis (mit 350 Insassinnen), der
U-Haft-Block (mit 300 Frauen), die Wohnungen der Wächter, eine Grundschule, die
Kirchen und die Moschee, Felder, ein Stall, eine Hundehütte … befinden. Mit uns
sind zwei Kinder eingetreten, die in die Grundschule gehen. Sie gehen so korrekt,
wie es Kinder können, jeder auf einer Seite des Weges, in ihren weißen und
blauen Uniformen. Ich fange an, das Kind zu grüßen. Es antwortet mir mit einem
schönen Lächeln… sein Name ist … Als ich seinen Mitschüler nach seinem Namen
frage, sieht er mich kurz an und geht weiter, als gäbe es mich gar nicht. Er erinnert
mich daran, dass jeder Empfang und jedes Lächeln ein Privileg sind und somit
ein Geschenk und keine Pflicht. Wenn mir ein Nachbar seine Haustür und sein
Herz öffnet, tut er mir einen unschätzbaren, unverdienten Gefallen. Auch in ein
Hochsicherheitsgefängnis einzutreten ist ein Privileg, das ich woanders nicht
bekommen hätte.  
Hier nimmt die Gefängnisverwaltung
ihre Rehabilitierungsfunktion für die Insassinnen sehr ernst: es gibt
Werkstätten, wo sie nähen, stricken, sticken, kochen, Keramikprodukte oder
Juwelen herstellen. Die Kurse sind auf Grundschul-, Oberschul- und
Universitätsniveau. Es werden künstlerische und sportliche Tätigkeiten
organisiert. Es ist beeindruckend, die Bedeutung zu sehen, die dem spirituellen
Leben der Insassinnen beigemessen wird: ein Dutzend spiritueller Betreuerinnen
und ein Pastor sind hier angestellt. Einige von ihnen sind auch Wachen, die auf
diese Weise den 650 Insassinnen nützlicher sein möchten.  
Der erste Unterschied
zwischen dem weiblichen und männlichen Hochsicherheitsgefängnis, der mich
schwer betroffen hat, besteht darin, dass wir hier jenseits der Mauern und
Bäume, die Häuser der Nachbarn und die Stadt in der Ferne sehen können, weil
sich das Grundstück auf einem Hang befindet. Die Trakte sind klein, niedrig,
nahe aneinander und von einem Rasen getrennt. Wir lassen unsere Handys und
Taschen am Empfang zurück, werden aber nicht durchsucht wie im Männergefängnis.
Wir müssen drei oder vier Blöcke auf einem Bürgersteig aus Zement entlanggehen,
der jeden Morgen mit viel Wasser gewaschen wird, um dann am Ende des Hofes die
Klassenräume zu erreichen. Diese sind auf einer Seite von einem kleinen, mit
Gemüse und Heilkräutern bestellten Feld umgeben, während sich auf der anderen
Seite ein Volleyballfeld befindet. Wie ein Schiedsrichter kontrolliert uns die
Wache von oben von seinem Kontrollpunkt aus Wellblech. Auch die Affen blicken
auf uns. Aber oft kommen sie uns viel näher und bieten den Gästen Abwechslung,
wenn sie auf den Dächern mit ihren Jungen spielen. Mandela sagte einmal, dass
die schlimmste Prüfung für ihn im Gefängnis darin bestand, keine Kinder sehen
zu können. Hier gibt es ungefähr fünfzig Kinder. Und eines ist am Weihnachtstag
geboren. Ihr Gelächter, ihre Spiele, ihr Lächeln vermenschlichen diese Orte. Wenn
sie vier Jahre alt sind, müssen sie sich von ihren Müttern trennen und zu
Verwandten oder in ein Kinderheim ziehen. Einige Mütter überlassen ihr Kind
lieber der Großmutter, weil die Kinder hier „böse Sachen“ hören. Außerhalb des
Gefängnisses gibt es einen schönen Kindergarten, und abends kommen sie nach „Hause“,
wo ihre Mütter sie in zwei Schlafsälen empfangen. Während einer Messe befinde
ich mich hinter einem Mädchen, das in der Luft unsichtbare Dinge fängt und
diese auf die Seite wirft. Es ist vollkommen in seine Phantasiewelt vertieft. Es
ist „bei sich zu Hause“ wie die Nomadenkinder, die sich jeden Tag von einem Ort
zum anderen verlegten, aber immer dieselben Sachen in denselben
Himmelsrichtungen vorfanden.
Um den spirituellen
Einkehrmonat im weiblichen Gefängnis einzuleiten, ist die JVA-Regionalleiterin
persönlich gekommen, um den Insassinnen zu erklären, wie sie auf diese Idee
gekommen war. Während einer Studienreise nach Schweden hatte sie ein „Gefängniskloster“
besucht und sich gedacht: „Wenn dies in Schweden möglich ist, warum sollte es
denn nicht auch in unserem Lande möglich sein?“ Nach ihrer Rückkehr hat sie den
nationalen, katholischen Gefängniskaplan eingeladen, um ihm mitzuteilen, dass
sie als Protestantin nichts vom Klosterleben wusste und es somit seine Aufgabe
wäre, die Initiative ins Leben zu rufen. Als sie einer der spirituellen
Betreuerinnen der fünf Gefängnisse der Hauptstadt davon erzählte, machte sich
diese sofort an die Arbeit und kontaktierte Psychologen, Pastoren und unser
spirituelles Zentrum des Heiligen Ignatius. Und sehr schnell wurde eine spirituelle
Einkehr von einem Monat für 53 Katholiken organisiert, die zu lebenslänglicher
Haft oder zum Tode verurteilt wurden. Der Traum bestand darin, sie in einen
einzigen Trakt zu versammeln, um dann dort ihr „Klosterleben“ über einen
Zeitraum von 2 Jahren organisieren zu können. Nach dieser positiven Erfahrung
ging sie auch auf die Bitte der Frauen ein. 36 protestantische und katholische
Insassinnen werden einen Monat lang von allen Arbeiten befreit und treffen sich
jeden Tag von 8.30 und 15.30 Uhr im Saal.
Nach der Abreise der
Leiterin frage ich die Frauen, ob sie wissen, was ein Kloster ist. Die
Katholikinnen sind nicht mehr informiert als die Protestantinnen. Ich erkläre
ihnen, dass es sich um eine Gruppe von Männern oder Frauen handelt, die sich
dazu entscheiden, auf den Grundlagen des Evangeliums zusammenzuarbeiten: sie
geben sich eine Regel, wählen einen Leiter, dem sie sich zum Gehorsam
verpflichten, sprechen die Gelübde der Armut, Keuschheit und Standhaftigkeit
aus, verlassen ihre Umgebung nicht, es sei denn, sie werden versetzt, tragen
eine Uniform, schlafen in Zellen oder Schlafräumen… Am Ende frage ich sie,
welcher Unterschied zwischen einem Kloster und einem Gefängnis besteht. Alle
geben zu, dass sie auch geschriebenen und ungeschriebenen Regeln folgen müssen,
den Leitern zum Gehorsam verpflichtet sind, eine hässliche Uniform tragen müssen,
die einem Nachthemd gleicht, zu dreißig zusammen schlafen müssen, wobei es dann
auch Zellen für die Ungehorsamen gibt, die mit der Isolation bestraft werden.
Sie leben unter Frauen, obwohl einige Wachen Männer sind, und verlassen das
Gefängnis nur, um sich ins Krankenhaus oder Gericht zu begeben. Aber eine
kleinere dicke Frau weist darauf hin, dass sie nicht freiwillig hier sind – und
alle schweigen als Zeichen ihres Einverständnisses. Ihre Nachbarin fügt hinzu,
dass sie nicht hier eingesperrt sind, weil sie sich dazu entschieden haben,
Jesus zu folgen, sondern wohl eher weil sie ihm nicht gefolgt sind.
Ich frage sie: „Wo ist
es eurer Meinung nach einfacher, heilig zu sein:
  im Gefängnis oder draußen?“. Darauf antwortet
die Hälfte der Frauen im Chor: „Im Gefängnis.“ Da stelle ich ihnen eine andere
Frage: „Was bedeutet für euch dieser schwierige Satz: ‘Man ist nicht frei, weil
man tut, was man möchte, sondern weil man möchte, was man tut?’”. Ich bin
überrascht darüber, wie rasch die Antwort kommt: „Sie haben mich in die Nähwerkstatt
zum Arbeiten geschickt; ich hätte Widerwillen hingehen können, aber es gab für
mich keine andere Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen, und nun bin ich stolz
darauf, Designerin zu sein. Auch im Gefängnis kann man wachsen.“ Eine
Großmutter erzählt, dass sie als junge Frau fünf Freundinnen hatte. Sie sind
alle an AIDS, in Unfällen, infolge eines Mordes oder an Krankheit verstorben. Wäre
sie draußen gewesen, hätte sie in noch größere Verbrechen hineingezogen werden
können. Hier wurde ihr hingegen die Möglichkeit gegeben, den Sinn ihres Lebens
wiederzufinden. Ich sehe sie mit Bewunderung an: wie kann sie denn nach einer
jahrelangen Misshandlung im Gefängnis so etwas ohne jegliche Bitterkeit sagen?
Eine andere Frau vertraute mir an: „Ich bin am Flughafen erwischt worden,
während ich im Transitbereich war, nachdem ich aus Asien zurückgekehrt war, wo
ich meine Schwester beerdigt hatte. Nach einer Wartezeit von Stunden zeigten
sie mir den offenen Koffer mit den Drogen: das bedeutete für mich
lebenslängliche Haft. Ich bin seit vier Jahren hier, aber ich bin nicht
eingesperrt, denn ich bin in meinem Herzen viel freier als viele, die „draußen“
sind. Hier habe ich viel gelernt: Nähen, Theologie, ich habe an vielen
Seminaren teilgenommen, habe mich selbst kennengelernt, habe gelernt, mich
selbst zu schätzen; ich habe nicht viel, besser gesagt fast nichts, aber ich
werde nicht von dieser Welt so nackt gehen, wie ich in diese Welt gekommen bin.
Ich habe weder elegante noch passende Kleider, aber die wahre Schönheit einer
Frau und ihre Würde kommen nicht von ihrer Kleidung. Als ich endlich in
Berufung gehen und in mein Land zurückkehren kann, werde ich mit meinen Kindern
das teilen können, was das Leben mich hier gelehrt hat. Es sind keine
verlorenen Jahre“. Ich fühlte mich so klein und privilegiert vor einer solchen
weisen Frau mit ihren weichen Gesichtszügen, die mir mit ihrer süßen Stimme das
anbietet, was ihr die Gefängnisuniversität im Fach Philo-Sophie beigebracht hat!
Da fällt mir ein Satz von G. Thibon ein, den ich mir als junger Mann einprägte:
„Das Leid ist kein Flachland. Es erniedrigt einige und erhebt andere“.
Schließlich möchte ich
erörtern, wie der Monat ablaufen wird: in der ersten Woche verfolge ich das
Ziel, auf die folgende Frage zu antworten: „Wer bin ich? Wer war ich vor dem
Gefängnis? Wer bin ich im Gefängnis? Wer möchte ich sein?“ Die zweite Woche
fokussiert auf unsere Beziehungen. Gemäß dem Grundsatz und den Exerzitien behandeln
wir in der dritten Woche die Meditation über die Gottesliebe  und fokussieren auf die Frage: wie antworte
ich auf diese Liebe? Die letzte Woche ist was ganz Besonderes: im Saal wird die
Gruppe über das Leben Jesu meditieren. Außerhalb des Saals wird dann jeder in
die Lage versetzt, jeden Tag eine der sechs „spirituellen LeiterInnen“ zu
treffen. Diese sind drei Männer und drei Frauen aus dem spirituellen Zentrum
des Hl. Ignatius. Es sind Laienschwestern und –brüder, die eine dreijährige
Ausbildung durchlaufen und jahrelange Erfahrung in diesem Bereich haben. Sie begleiten
Einzelne und Gruppen in Pfarreien, Schulen, NROs und jetzt auch in
Haftanstalten.
Ich übernehme die
Organisation der letzten zwei Wochen. Wir beginnen mit einer Liturgie, in der
aus dem Buch Ezechiel gelesen wird. Wir versprechen, unsere Herzen aus Stein in
Herzen aus Fleisch zu verwandeln. Jeder legt vor der Ikone Jesu einen Stein ab,
der die Last in seinem Leben symbolisiert, von der er befreit werden will.
Diese Steine bleiben bis zum Abschluss der spirituellen Einkehr an dieser
Stelle; dann werden uns einige erzählen, welche Last diese Steine in ihrem
Leben darstellen. An der Wand steht ein Satz des Heiligen Paulus, der auf
vielfache Weise unserer Anschauung eines kleinen Gottes widerspricht, der
Belohnungen und Strafen verteilt: „Gott liebt uns nicht um unserer Handlungen
willen, sondern weil Er barmherzig ist“. Mir ist aufgefallen, was für ein Hoffnungsträger
dieser so bekannte Satz ist, wenn das Gedächtnis voller schlechter Handlungen
ist. Gott „bestraft“ uns, indem er uns größere Liebe erweist (Hosea, 11, 8-9).
Bei Simon wird der Frau nicht verziehen, weil sie viel geliebt hat. Sie hat
hingegen viel geliebt, weil sie aufgenommen, respektiert und ihr verziehen
wurde (Lukas 7:47 und 19:8). Wir haben die Menschen auch erlebt, wie sie sich sehr
gut in ein sehr einfaches, stilles, unbewegliches Gebet vertiefen, in dem jeder
mit sich selbst sein und die Quelle des Lebens finden kann, und in dem jeder
Atem uns wiederholt mitteilt, dass Gott uns in Seiner Liebe immer wieder
auserwählt. Wir sind zu zweit, manchmal in Begleitung einer Pastorin, und
beleben jeden Tag mit einer spirituellen Betreuerin des Gefängnisses.
Während eines
Gesprächs am Ende der vierten Woche habe ich mir die folgenden Notizen gemacht:
„Ich habe gelernt, in
Stille zu beten: in meinen Gesprächen habe ich viel gesagt, und nun weiß ich,
dass Gott mein Herz erhört.“
„Ich habe entdeckt,
dass wir auch Menschen verzeihen können, die schon tot sind. Über Jahre hatte
ich einen Zorn in mir, der so schwer war wie ein Stein.“
„Ich tue mich schwer,
meinen Zorn unter Kontrolle zu halten. Meine Betreuerin hat mir ein paar Tricks
beigebracht”.    
„Nun weiß ich, dass
Gott unermüdlich verzeiht und auch mir verzeiht!“
„Die Verzeihung
schenkt einem Menschen eine Freiheit, die ich seit langem nicht mehr erfahren
habe.“
„Ich bin im Gefängnis.
Das Schmerzvollste daran ist, dass ich nicht bei meinen Kindern sein kann. Aber
ich bleibe ihre Mutter.“
„Es war eine
einzigartige Gelegenheit, in der mir jemand zuhört, ich mein Herzen öffnen kann
und das äußern darf, was ich bisher noch niemandem gesagt habe.“
„Auch im Gefängnis
gibt es jeden Tag Gründe, um dankbar zu sein. Und wenn ich mich ans Danken
gewöhne, dann wird der Tag auch schöner“.
„Die Häftlinge haben
dieselbe Würde der Bäuerinnen, der Sängerinnen und der Wachen: denn sie
erhalten den Leib und das Blut Jesu“.
Zum Abschluss der spirituellen
Einkehr war ein kurzer Besuch bei der JVA-Leiterin vorgesehen. Sie blieb fast
drei Stunden mit uns! Groß, sportlich, direkt, hat sie unsere Freundinnen gefragt,
ob sie noch andere Erfahrungen dieser Einkehrtage mit den anderen teilen
wollten. Viele meldeten sich zu Wort.
Lucia (ein
Phantasiename) ist eine schüchterne junge Frau; in ihrem Leben ist alles schief
gelaufen. Ihr „Freund“, von dem sie dachte, er wäre ein Polizist, da er eine
Waffe besaß, entpuppte sich am Ende als Verbrecher. Sie wurde von den
Polizisten verhaftet, die ihn getötet hatten. Sie kam jung ins Gefängnis, und
ihre Familie hat sie zurückgewiesen: niemand besucht sie. Sie erklärt, dass den
Insassinnen ohne die Besuche oft Seife und Toilettenpapier fehlen. Sie hat kein
Geld, um sich flüssige Seife zu kaufen und verwendet anstatt dessen die normale
Seife. Unter diesen Bedingungen gelangt man in Versuchung, sich für sexuelle
Dienste bezahlen zu lassen. Sie möchte gerne in einen anderen Trakt verlegt
werden, um ein neues Leben anzufangen. Die Leiterin notiert sich das.
Eine fünfzigjährige
Frau wurde verhaftet, weil ihr Sohn zu Haus gestohlene Ware versteckt hatte. Er
ist frei, während sie seit Jahren sitzt. Sie hatte geschworen, ihn niemals
wiedersehen zu wollen. Nun hat sie begriffen, dass es schlimmer für sie ist als
für ihn, wenn sie ihm ihre Vergebung verwehrt. Sie hat lange genug all diese
Bitterkeit in ihrem Herzen herumgetragen. Nun will sie ihm nicht nur verzeihen,
sondern sich sogar mit ihm treffen und versöhnen. Dafür müsste sie aber genug
Zeit mit ihm verbringen. Die Leiterin notiert sich das.
Julie, die Frau mit
den blau lackierten Fußnägeln, hat den Laden einer Frau im Dorf ausgeraubt. Nun
möchte sie mit ihr sprechen und sie um Verzeihung bitten. Wie könnte sie sonst
eines Tages ins Dorf zurückzukehren und dort in Frieden leben können?
Dieselben Gefühle
bringt eine andere Frau zum Ausdruck, die in einem Moment des Zorns ihren Mann
erdolchte.
Eine Frau mit einem
afrikanischen Kopftuch erzählt, dass sie wegen Drogenhandel verhaftet wurde. Der
Bruder, der ihr sehr nahe stand, kam öfters vorbei… aber er kam nie zu Besuch.
Sie war sehr verärgert mit ihm. Nun will sie glauben, dass er seine Gründe hat
und bittet, ihn anrufen zu dürfen, um die Beziehung wieder aufzunehmen.
Eine junge Frau mit
vollen Wangen erklärt, dass sie im nächsten Jahr entlassen wird und vor ihrer
Entlassung einen Beruf erlernen möchte. Die Leiterin entgegnet, dass ein Jahr
nicht gerade ausreicht, um Näherin zu werden und sie daher (indische Gerichte)
kochen und Kuchen backen lernen wird …  
Esther trägt einen
diskreten Lippenstift. Auf ihrem Kleid stehen zwei scharlachrote Buchstaben
‘PP’ (diese stehen für die Gnade, die nur der Präsident der Republik gewähren
kann). Sie möchte der Leiterin erklären, dass es mehr öffentliche Telefonzellen
braucht, da man oft Schlange stehen muss, wenn man telefonieren möchte und man
dann erfolglos wieder weggehen muss, weil die Telefonzellen zu sehr überfüllt
sind… so verfällt man der Versuchung, sich ein verbotenes Handy zu holen. Alle
Tätigkeiten werden einige Mal am Tag unterbrochen, um die Insassinnen durchzuzählen.
Manchmal wird ein ganzer Trakt durchsucht: die Frauen müssen sich entkleiden.
Die Schlafräume, Betten und Taschen werden rücksichtslos durchgesehen und wenn
etwas Verbotenes gefunden wird, haben alle das Recht, der Schuldigen mit Plastikrohren
auf den Hintern zu klopfen. So wird die Schuldige auch noch von den
Mitinsassinnen herausgefordert!
Rachel ist eine junge
Frau um die 30. Welches Zusammentreffen verschiedener Umstände führte denn
dazu, dass sie zu einem Bandenchef wurde? Ich weiß es nicht. Ihr Gesicht ist
gezeichnet. Sie trägt kurze Haare und ist ungeschminkt. Sie ist nicht schön, hat
aber Persönlichkeit. Zu Beginn erzählt sie, sie habe alle Gefängnisverbote
schon gebrochen: sie raucht seit der Grundschule Gras und hat letzte Woche noch
geheim ein Handy genutzt und die elektrischen Kabel oberhalb der Zimmerdecke
abgekappt, um es aufzuladen, sie hat Sexualpartner. … Und sie fügt hinzu: „Da
wir nicht in die Läden gehen, bekommen wir das, was wir haben, von den Wachen“.
Sie fängt an zu schluchzen und kann nicht mehr weitersprechen. Sie steht auf
und verlässt, gefolgt von einer Wache, den Raum. Im Zimmer bleibt ein
fassungsloses Schweigen zurück. Danach kommentiert eine Frau: „Wenn Rachel Reue
zeigt, warum sollten es die anderen nicht können?“ Als Rachel zurückkommt, gibt
sie der Leiterin ein Paket mit Gras, ein Feuerzeug und ein Handy und setzt sich
erneut auf ihren Platz. Eine Frau bricht das Schweigen und wendet sich an die
Leiterin: „Man muss sie in einen anderen Trakt verlegen. Wie kann Rachel denn
ein neues Leben anfangen, wenn sie bei ihren Drogen- und Sexkunden
zurückbleibt?“ Es folgt ein großer Applaus. Auf Rachels Kleid stehen zwei große
rote Buchstaben SW. Ich dachte, sie stünden für Social Work, aber dem ist nicht
so. Sie ist im Gefängnis des Gefängnisses eingeschlossen, und zwar im
speziellen Trakt (Special Ward), wo man die „Härtefälle“ isoliert. Die Leiterin
macht sich Notizen. Nach einer kurzen Unterbrechung wendet sich eine Frau an
Rachel: „Es wird nicht einfach sein, meine Liebe. Ich bin auch da durch. Auch
ich hatte ein Handy, das alle zittern ließ, als es unerwartet klingelte. Da
sagte ich mir: „Auch wenn es im Haus einen Notfall geben sollte, wäre ich nicht
in der Lage zu helfen; ich kann auch warten, bis ich das öffentliche Telefon
erreiche wie alle anderen. „Ich rauchte“ und sagte mir: „Was kann ich bloß
meinen Kindern sagen, wenn ich selbst Sklavin der Droge bin?“ Du muss Geduld
aufbringen: es gibt Nächte, in denen du zu Hause anrufen möchtest. Es gibt
Momente, in denen du die Versuchung verspürst, eine zu rauchen. Und dann werden
sich deine Drogenkunden gegen dich auflehnen. Auch die Wachen, die dir die
Drogen verkauften, werden sich mit dir verfeinden. Sei stark und halte durch“.
Es folgen Applause. Eine Nachbarin meint schließlich: „Für Gott ist nichts
unmöglich!“
Nachdem die Frau
geduldig zugehört hatte, fragte sie am Ende, wer für Rachel betete – denn jede
Teilnehmerin hatte den Namen einer anderen erhalten, die sie im Geheimen in ihr
Gebet einschließen sollte. Eine Frau hält die Hand auf. Man fragt sie nach
ihrem Trakt. Es wird angeordnet, Rachel in ihren Trakt zu verlegen. Es folgt
ein langer Applaus. Jemand betet für andere Frauen des Spezialtrakts. Am Ende werden
fünf Härtefälle verlegt. Es folgen fröhliche und laute Kommentare. „Das
Gefängnis ist nicht nur ein Ort des Leids, meint die Frau, sondern auch ein Ort
der Rehabilitierung, um die Frauen darauf vorzubereiten, ihren Platz in der
Gesellschaft wiederzufinden. Es wird somit ein Versöhnungstag organisiert, an
dem die zehn Frauen, die dies angefragt haben, die notwendige Zeit zur
Verfügung haben sollen, um mit den Menschen zu sprechen, mit denen sie sich
versöhnen möchten. Dasselbe gilt auch für die Frauen, die einige Stunden mit
ihren eigenen minderjährigen Kindern verbringen möchten und dies in den Räumen
des Kindergartens tun können“. Es folgen afrikanische Jubelschreie! Dann spornt
sie die Frau an, körperliche Übungen zu machen, sehr gut auf die Auswahl der Freunde
zu achten, sich gegenseitig zu unterstützen, Gruppen für die Freizeit
zusammenzustellen, um Gartengemüse, Juwelen oder Joghurt für den Verkauf
herzustellen. Sie werden auch dazu angespornt, Botschafterinnen des Friedens
für die Anderen zu werden, die nicht an dieser spirituellen Einkehr teilgenommen
haben, und die Neuankömmlinge zu betreuen. Sie fügt hinzu, man sollte auch für die
Wachen eine spirituelle Einkehr organisieren … „Fragen Sie bei den
Katechetinnen nach, wer es am meisten nötig hat.“ Um uns nach diesen intensiven
und mühevollen Stunden auszuruhen, ruft die Leiterin uns auf, alle zusammen
laut zu schreien… wir erzeugen einen Lärmpegel, der meine Ohren vollkommen
überfordert!
Wie es sich gehört,
wird eine Woche nach dem Abschluss des Einkehrmonats ein großes Fest gefeiert.
Die Betreuerinnen und Teilnehmerinnen, fast die Hälfte des Gefängnisses und ein
Ehrengast, (ich glaube) ein koreanischer Pastor, der nie seine blaue Kappe vom
Kopf nahm, waren dabei. Der koreanische Pastor verteilte an alle Büchlein, um
jeden Tag die Bibel zu studieren. Die Frauen konnten von ihren Erfahrungen
sprechen, Gespräche führen, Predigten halten, singen, Gedichte rezitieren und
auch die Heilige Kommunion nach dem protestantischen Ritus empfangen. Drei
Teilnehmerinnen werden nach dem Abschluss der spirituellen Einkehr aus dem
Gefängnis entlassen.  
Rachel wird gebeten,
einige Gedanken über diese Erfahrung mit den anderen zu teilen. Heute trägt sie
ein neues Kleid, auf dem die roten Buchstaben SW mit einem kleinen grünen
Quadrat ersetzt wurden. Die Neuen oder die, die oft bestraft werden, tragen ein
rotes Quadrat, die älteren und disziplinierten ein blaues Quadrat und die
Zwischenkategorie ein grünes Quadrat.
Sie beginnt zögernd
mit ihrer Ansprache: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll… ich habe noch nie in
der Öffentlichkeit gesprochen… Diese Einkehr war für mich wesentlich. Zu Beginn
wollte ich gar nicht kommen, aber meine Freundin sagte mir: „Du hast ja nichts
zu verlieren“. So habe ich mich doch entschieden, zwei Tage daran teilzunehmen.
Ich bin im Gefängnis bekannt wegen meines rebellischen Verhaltens und konnte
nicht glauben, dass mein Herz „weich“ werden könnte. Nun fürchte ich mich vor
nichts mehr, da ich neu geboren bin. Ich kann es selbst kaum glauben …… Für
Gott ist nichts unmöglich. Ich wurde oft von den Wachen verprügelt. Das hat
mich aber nicht verändert. Aber für Gott ist nichts unmöglich. Ich weiß genau,
dass ich mit meinen Kräften alleine nicht standhaft bleiben kann. In der ersten
Einkehrwoche habe ich eines Morgens entschieden aufzuhören. ‘Was bringt mir das
schon?’ – dachte ich. Aber meine Freundin war hartnäckig: ‘Wenn du eine Woche
durchgehalten hast, dann kannst du auch noch eine Woche durchhalten!’. Ich habe
sehr viel mit meiner spirituellen Betreuerin gesprochen, die mir sagte: ‘Du
musst selbst entscheiden, was für ein Leben du führen und was für ein Mensch zu
sein möchtest’. Aber in meinem Trakt meinten andere Insassinnen: „Wenn man
einmal den Finger in der Druck gesteckt hat, dann kann man auch beide Hände in
den Dreck stecken“. Mit anderen Worten: „Wenn du kriminell bist, dann gibt es
keinen anderen Weg für dich.“ Ihre Stimme ist ein wenig ruhiger; zwei
spirituelle Betreuerinnen nähern sich, um sie anzuspornen. Sie fährt fort: „Ich
habe lange mit mir gerungen. Nur am letzten Einkehrtag habe ich mich Jesus
hingegeben. Ich zähle auf eure Gebete und auf eure Anspornung, weil der Teufel
eine wichtige Kundin verloren hat. Nun möchte ich meine Mutter sehen und mich
mit ihr versöhnen; ich habe ihr so viel Leid verursacht.“ Sie beendete ihre
Ansprache mit dem Gesang einer Hymne zusammen mit ihrer Freundin. Die Hymne
handelt von Angst, Zorn, Gefängnis, eigener Identität, Vergebung, Wachstum,
Vergangenheit, die man hinter sich lassen muss … und dann die Schlussfolgerung
(der Heilige Paulus hätte es in 1 Kor 15,10 nicht besser ausdrücken können):
„Ich bin der Gnade Gottes wegen der, der ich bin“. Vielen Zuhörinnen kommen die
Tränen. Die beiden spirituellen Betreuerinnen umarmen sich lange, und die Teilnehmerinnen
singen im Chor: ‘Was für eine Person bist du? Was für eine Mutter, Schwester,
Tochter, Insassin? Wer möchtest du sein? Für Gott bist du wertvoll. Kehr zu Ihm
zurück; dein Name ist nicht Diebin, Mördern, Räuberin, denn dein wahrer Name steht
auf Seiner Handfläche (Jesaja 49:16). Das Gefängnis ist nicht ein Ort der
Folter, sondern der Rehabilitierung.
  
Zehn Tage vorher, als
wir über den Kreuzweg Jesu meditierten, indem wir diesen mit unseren
Erfahrungen der Verhaftung, Haft beim Kommissariat und Verurteilung verglichen,
meinte eine der Frauen: „In zwei Jahrtausenden hat sich nichts geändert: die
Polizei und die Wachen schlagen immer noch auf uns ein, wie sie damals auf
Jesus eingeschlagen haben! Es ist davon auszugehen, dass sie nie damit aufhören
werden.“ Und nun spricht sie über ihre Erfahrung: „Es ist das erste Mal, dass
ich vor so vielen Menschen spreche, aber diese spirituellen Einkehrtage haben
mich verändert. Ich wagte es nicht, mich im Spiegel anzusehen und schämte mich vor
mir selbst. Ich habe auch während der religiösen Einkehrtage gekifft. Ich habe
abscheulich gehandelt … Heute weiß ich, dass Gott Seine Tochter nicht vergisst.
Ich weiß, dass Er noch mein Vater ist. Nun kann ich mich in den Spiegel
schauen, mir verzeihen und mit meinen Kindern sprechen; ich bin zwar im
Gefängnis, aber sie haben keine andere Mutter als mich“.  
Ich muss auch noch eine
kurze Rede halten und spreche zu den Frauen: „In dieser Zeit ward ihr meine
geistlichen Lehrerinnen. Ich verspüre Demut euch gegenüber, denn ich war noch
nie so weit vom Weg der Vergebung entfernt wie viele von euch. Hier habe ich
Wunder erlebt. Es ist leichter, einem Lahmen das Laufen beizubringen, als ein
Herz aus Stein in ein liebendes und vergebendes Herz zu verwandeln. Es ist
einfacher eine beträchtliche Summe zu spenden als jemanden um Verzeihung zu
bitten, der einen durch seine Klage hinter Gitter gebracht hat.“ Ich habe hier
denselben Hauch wie in Thibirine (algerische Ortschaft, in der sieben
Ordensleute während des algerischen Bürgerkrieges nach dem Putsch entführt und
ermordet wurden) verspürt: „Du ordnest uns die Regeln der Liebe zum Kreuz an.
Du befreist unsere Feinde von unseren offenen, betenden Händen. Du vertraust
der Vergebung, der Kraft deines Geistes der Wahrheit, um diesen in die
Geschichte (Algeriens) einzuführen (Bruder Christophe – einer der sieben
Opfer). Ich fühle mich wie ein Novize im spirituellen Leben, wenn ich mich mit
einigen dieser Frauen vergleiche, die verzeihen können, obwohl sie ungerecht
angeklagt wurden, demütigende Behandlungen seitens der Wachen erlitten haben,
ohne zu verbittern oder rachesüchtig zu werden, die mit abscheulichen
Erinnerungen leben müssen, weil sie ihren Vater oder ihren Rivalen ermordet
haben und von ihrer Vergangenheit erdrückt werden. Aber sie sind trotzdem in
der Lage, aus der Gegenwart das Beste zu machen und sich weiterzubilden… Wie
Papst Franziskus zu den mexikanischen Häftlingen
 sprach: ‘Wer durch die Hölle gegangen ist,
kann zu einem Propheten für die Gesellschaft werden.“
Die Feier endet mit der Übergabe der Kerze, die im
Dezember vom Männergefängnis erhalten wurde, an einen Religionslehrer des
großen Gefängnisses (mit 3.000 männlichen Häftlingen), wo nach Ostern
spirituelle Einkehrtage stattfinden werden. Jedem Gast werden zwei
Teilnehmerinnen zugeteilt, die mit ihm gemeinsam beten.
Wie vorhergesehen, endet der Tag mit einem Festmahl
außerhalb des Gefängnisses, in Begleitung aller Teilnehmerinnen.
Ich steige in einen Kleinbus, und die
Gefängnismauern entfernen sich von mir. Im Stadtzentrum beobachte ich zwei
Frauen mit Behinderung, die sich in Schubkarren zu ihrem Bettelplatz bringen
lassen. Sie können zwar nicht gehen, können sich aber überall frei bewegen.
Nach meiner Rückkehr in unser Viertel höre ich eine Kinderstimme: „Jetzt hau
ich dir aber eine!“. Das ist ein typischer Satz, den Mütter oft ihren frechen
Kindern sagen. Und ich sehe ein Mädchen, das die Waden seines Schwesterchens
mit einer leeren Plastiktüte schlägt. Das Schwesterchen lacht laut, da es weiß,
dass es nach fünf Schlägen selbst dran ist und die Rolle der Täterin übernehmen
darf. Wie viele Mädchen von hier werden eines Tages ins Gefängnis kommen,
entweder als mit Plastikstöcken bewaffneten Wachen oder als Insassinnen mit den
Spuren der erlittenen Schläge? Zu meiner Teetasse esse ich noch eine Scheibe
Brot: ein Traum für meine Schwestern in der Gefängniswelt!