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Judith Gleitze von Borderline Europe: Hauptsache die Grenzen sind dicht



von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein wichtiges Interview mit Judith Gleitze, Leiterin des Büros von Borderline Europe in Palermo. Möchte mich herzlichst bei Frau Gleitze für Ihre Zeit bedanken. Die EU will dichte Grenzen, unabhängig von den menschlichen Kosten. Gleichzeitig verursachen Kriege, Waffenexporte und grenzenloser Reichtum im Westen die Flüchtlingsströme. Und ins Mittelmeer wird eine Grenze geschnitten. 

Milena Rampoldi: Italien ist geographisch ein Land an der „Grenze“
zwischen Europa und Afrika. Ist es aber nicht mehr ein Teil des
Mittelmeerraums, das Norden und Süden vereint? Wie sehen Sie das?

Judith Gleitze: Italien ist und
war natürlich ein Teil des Mittelmeerraums, doch leider gilt die Globalisierung
nur für Waren, nicht für Menschen. Konnten Tunesier*innen früher ohne ein Visum
nach Italien reisen so ist dies schon lange nicht mehr möglich, während wir
hier einfach die Fähre nach Tunis besteigen können. Die unsichtbare Grenze ist
auf dem Meer gezogen worden, inzwischen ist sie faktisch externalisiert in Richtung
nordafrikanische Staaten. Sprich: diese sind angehalten, für die EU die
Migrant*innen auf ihrer Flucht aufzuhalten. Dafür werden sie dann von der EU
bezahlt. Das kann mit einem Land wie Libyen natürlich nur in einem sehr
geringen Maße funktionieren. Die EU möchte am liebsten sofort Verträge mit
Libyen machen, so wie mit der Türkei, um die Flüchtenden aufzuhalten. Doch kann
man in Libyen wohl kaum von einer stabilen Regierung sprechen. Das jedoch
scheint den europäischen Regierungsoberhäuptern egal zu sein – Hauptsache die
Grenzen sind dicht. Somit kann sich also auch ein Aussengrenzland im
Mittelmeerraum als Mitgliedsstaat der EU diesem Grenzregime nicht entziehen.
 
MR: Wie kann man als Europäer diese Toten im
Mittelmeer noch verkraften und rechtfertigen. Menschen lassen sich nicht
aufhalten. Wie können wir diesen Menschen helfen?
JG: Das Sterben
kann man nicht rechtfertigen, es gibt keinerlei guten Grund dafür, so zu
handeln. Wir alle, die wir uns als Menschen fühlen, die auch die eigenen Rechte
verteidigt sehen wollen, dürfen nicht vor den Rechten anderer die Augen
verschließen, hier darf es keine zwei Maßstäbe geben. Als Deutsche,
Italiener*innen und viele andere Europäer*innen ihre Heimat verlassen mussten,
weil sie dort keinerlei Lebensgrundlage hatten, forderten auch sie die Aufnahme
in anderen Staaten, die ihnen eine Überlebenschance versprachen. Haben wir das
alles vergessen? Gar nicht zu reden von den Kriegen, die auf europäischen
Territorium stattgefunden haben. Haben wir es da nicht verurteilt, wenn man den
Flüchtenden nicht helfen wollte? Wir müssen unsere Mitmenschen davon
überzeugen, dass es keine Mehrklassen-Menschheit gibt, Mensch ist Mensch, jedeR
hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Nur wenn wir alle das so sehen,
kann sich die Gesellschaft ändern und öffnen.
MR: Welche sind die Ursachen der Flüchtlingskrise?
JG: Ursachen gibt
es viele, das ist eine sehr weit gefasste Frage. Von politischer Verfolgung in
Regimen, die zum Teil auch durch die westliche Welt gestützt werden über
Naturkatastrophen (die nicht in der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst sind,
obwohl der Klimawandel einen immer erheblicheren Teil der Fluchtursachen ausmacht)
über Bürgerkriege und  das schlichte
Überleben, das in der Heimat nicht möglich ist, alles dies sind Gründe zur
Flucht. Zu unterschätzen ist auch hier nicht, dass westliche Staaten oftmals
mit Schuld sind an sozioökonomisch entstandenen Fluchtgründen haben: nehmen wir
hier z.B. den Fischfang vor den Küsten Senegals, den Verkauf von
Billighühnerteilen nach Ghana – all dies macht die lokale Wirtschaft kaputt.
 
MR: Wer Waffen verkauft, erntet Flüchtlinge. Wie sehen
Sie das?
JG: Dem kann ich
nur zustimmen. Eine kriegerische Auseinandersetzung, egal aus welchem Grund,
mit welchen Hintergründen, schafft immer Geflüchtete. Vor allem, wenn sich
fremde Staaten in einen Konflikt einmischen und somit die Auseinandersetzung
immer weiter vorantreiben.
MR: Welche sind Ihre Hauptaufgaben bei borderline-europe?
JG; Ich leite die
Außenstelle Italien in Sizilien. Neben einem Teil der Geschäftsführung des
Vereins borderline-europe e.V. mit Sitz in Berlin ist mein Büro hauptsächlich
zuständig für die Recherchen und die Informationsvermittlung zum Thema
Mittelmeerraum, speziell Italien. Wir arbeiten in einem Netzwerk von
Organisationen, um die Situation von Geflüchteten in Italien bekannter zu
machen und gemeinsam Strategien zu entwickeln. Aber das Wichtigste hierfür ist
eine Informationsgrundlage, die versuchen wir zu schaffen. Dazu dienen die
Homepage, Berichte über die Situation in Italien/Sizilien, Veranstaltungen,
Projekte zu diversen Schwerpunktthemen. Ohne eine lokale Netzwerkarbeit wäre
dies nicht möglich.
MR: Wie wichtig ist Flüchtlingsarbeit in Italien
und für Italien heute?
JG: Italien steht als Aussengrenzland auch weiterhin im
Mittelpunkt des Geschehens, daran hat auch die Situation auf der Balkanroute
nichts geändert. Die Europäische Union hat inzwischen ihre Werte und Normen
vergessen, das Bild des Geflüchteten als ein großes, unbekanntes
Sicherheitsproblem hat sich derzeit in den meisten europäischen Staaten
durchgesetzt, somit dann auch die Bekämpfung dieses „Sicherheitsproblems“.
Italien als Außengrenzland hat die unliebsame Aufgabe, darüber zu wachen, dass
hier niemand ungesehen hereinkommt. Derzeit finden jedoch gleichzeitig täglich
Seenotrettungen stand – letztendlich eine Heuchelei, wenn gleichzeitig die
Abschottung deklariert wird – warum schafft man dann nicht legale Einreisewege,
wenn doch sowieso gerettet wird? Italien wird, wie Griechenland auch, als Land
an der europäischen Außengrenze immer eine große Rolle spielen, solange sich
diese Politikverständnis nicht ändert. Daher muss natürlich auch hier genau
geschaut werden, was denn mit den Ankommenden passiert. Wo werden sie
hingebracht, was bedeutet das europäischen Abschottungssystem faktisch für sie?
Hier auf Sizilien heißt es für viele, dass sie nach einer strapaziösen Flucht,
die viele nicht überleben, und der Rettung auf See dann doch im Nichts landen,
angekommen und sofort illegalisiert, denn viele haben nicht einmal die Chance
auf eine Asylantragstellung, da sie  aus
einem angeblich sicheren Land kommen. Doch das ist ein klarer Rechtsbruch –
jeder Mensch hat das Recht auf die Stellung eines  Asylantrages, danach wird entschieden, ob sie
oder er bleiben kann. Das Unterbringungssystem in Italien ist seit Jahren dem
Notstand geschuldet, es gibt viele verschiedene Unterbringungstypen, es
herrscht das Chaos, und viele dieser Zentren bestehen ohne eine gesetzliche
Grundlage. Es gibt sehr viel zu tun, hier in Italien und überall.



Quelle des Bildes: Borderline Europe 


Ein wichtiger Bericht zur Situation in Sizilien von Februar 2016
http://www.borderline-europe.de/sites/default/files/readingtips/2016_02_12_borderline-europe_Sizilien.pdf