Die Islamfeindlichkeit als politisches Instrument
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von Roberto Savio, Tlaxcala, 17. Mai 2016. Erstveröffentlichung auf
OtherNews. Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. Als 2006 die blasphemischen Islamkarikaturen von einer dänischen Zeitschrift veröffentlicht wurden und 205 Tote verursachten, stattete der damalige Generalsekretär der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), Ekmeleddin Ihsanoglu, dem Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Gemeinschaft Javier Solana einen Besuch ab.
Somit basierte der offizielle Standpunkt der EU auf
der Behauptung, es gäbe keine Islamfeindlichkeit im absoluten Sinne, da es sich hierbei nur um einen isolierten Einzelfall handelte. Bisher war dieser mehr oder weniger der Standpunkt der europäischen Institutionen.
Jetzt erleben wir aber eine wahrhaftige Verhandlung
der Realität. Seit drei Jahren finden in Deutschland, vor allem in Dresden (unter der Leitung eines Mannes mit Vorstrafenregister), wöchentliche Massenproteste der PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) statt.
2011 wurde das Massaker von 77 Menschen in Oslo durch
Anders Behring Breivik als die Aktion eines wahnsinnigen Einzeltäters verurteilt. Derzeitig werden allein in Deutschland mehr als 20 islamfeindliche Straftaten pro Tag verübt.
Der Kongress der AfD (Alternative für Deutschland),
einer ausländerfeindlichen und nationalistischen Partei, die in nur zwei Jahren in acht Landesregierungen der Bundesrepublik vertreten ist, fand am 30. April mit wenig Resonanz in den Medien statt. Der Kongress wurde direkt nach den deutschen Wahlen im März, aus den die AfD wahrscheinlich als drittstärkste politische Kraft ans Tageslicht trat, abgehalten.
Einige Wochen vor dem AfD-Kongress erlangten die
fremdenfeindlichen Kräfte der Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ) die Mehrheit der Stimmen in den Präsidentschaftswahlen. Dies geschah, nachdem die Nationalisten der Slowakischen Nationalpartei (SNS) in die neue slowakische Regierung gelangt waren und in Polen die ultra-konservative rechte Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) an die Macht gekommen war.
Eine ununterbrochene Kette von Wahlsiegen der
rechtsextremen Parteien in den letzten Jahren in Schweden, Finnland, Dänemark, Niederlande, Deutschland, Frankreich, Schweiz, Österreich, Ungarn, Italien und Griechenland wurde mit allgemeiner Gleichgültigkeit aufgenommen. Im Gegenteil: der AfD-Kongress bestätigte nur noch, dass eine fremdenfeindliche, nationalistische und populistische Masse in Europa an die Macht gekommen war.
Der Ton des Kongresses wäre bis vor wenigen Jahren
unvorstellbar gewesen. Eine der Resolutionen erklärte, der Islam wäre inkompatibel mit Europa, woraus die Ausweisung aller Muslime als Deutschland folgte. Die Tatsache, dass 87% der Muslime schon seit 15 Jahren in Deutschland leben, perfekt in die Gesellschaft integrierte deutsche Bürger sind und verfassungsrechtliche geschützte Rechte aufweisen, ist ein Hindernis, das die AfD mit Hilfe einer Verfassungsreform überbrücken möchte.
Auf die Frage eines Journalisten in der
Pressekonferenz, wie ein solcher plötzlicher Ausschluss von Millionen von Menschen aus dem Arbeitsmarkt möglich wäre, kam folgende Antwort: Hitler hat es mit 6 Millionen Juden getan, die noch viel integrierter waren und mehr Macht hatten, und es geschah nichts.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Hitler die
Juden unvereinbar mit Europa erklärte und ihnen ihre Bürgerrechte raubte, um sie dann in Konzentrationslager zu deportieren (die AfD wäre barmherzig, weil sie sie nur ausweisen würde). Führt der AfD-Vorschlag nicht zu einem deja vu?
Und nur einen Tag vor dem AfD-Kongress war die
Islamfeindlichkeit das Hauptthema einer erfolgreichen Konferenz des Genfer Zentrums für den Fortschritt der Menschenrechte und den globalen Dialog und die Pakistanmission vor den Vereinten Nationen. Bekannte Redner wie Idriss Jazairy aus Tunis, Uhsanoglu aus der Türkei und Tehmina Janjua aus Pakistan ergriffen das Wort in einer Konferenz, an der verschiedene Staaten teilnahmen, um das Thema der Religion anzugehen.
Es wurden verschiedene Bemühungen unternommen, um
aufzuzeigen, dass der Koran nicht die Gewalt predigt und der Islamische Staat nichts anderes als eine Abweichung vom wahren Islam ist. In der Tat wären alle muslimischen Podiumssprecher, worunter Sufis und Sunniten, durch den IS als Abtrünnige bezeichnet und somit schnell zum Tod verurteilt worden. Kein Vertreter des Wahabismus oder des Salafismus (die puritanische Schule des Islam) war anwesend.
Es ist aber offensichtlich, dass die
Islamfeindlichkeit nichts mit Religion zu tun hat. In der Tat haben der Koran und das Evangelium vieles gemeinsam. Die Religionskriege waren selten eine Angelegenheit der Bürger, sondern wurden immer von Königen und Führern verursacht. Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), der 20% der europäischen Bevölkerung das Leben kostete, verursachte eine Zerstörung, von der der IS nur träumen kann und wurde von Kaiser Ferdinand von Böhmen erklärt.
Die Protestanten und Katholiken lebten friedlich
zusammen. Und das galt auch für die Juden, Muslime und Christen in Spanien, bis Isabel und Ferdinand die Juden und Muslime aus Spanien auswiesen. Und als religiöse Führer wie der puritanische Christ Girolamo Savonarola in Florenz Anhänger gewannen, griff der Papst sofort ein, um ihn zu verurteilen. Und dies taten auch Könige und Prinzen.
Es ist an der Zeit, dass wir anerkennen, dass der
Islam von einer internen Krise des Westens heimgesucht wurde. Aber auch der Islam leidet unter einer internen Krise, die die Welt aber nicht kennt. Es gibt verschiedene Schulen im Islam, worunter die Hauptunterscheidung die zwischen Sunniten und Schiiten ist. Aber die Streitigkeiten innerhalb des Islam wurden immer von Königen, Imamen und muslimischen Geistlichen verursacht, die die Religion als Machtwerkzeug nutzten.
Eines der islamfeindlichen Argumente besagt, dass
die Christen die arabische Welt verlassen, weil sie vom muslimischen Fanatismus verfolgt werden. Nichtsdestotrotz denkt niemand darüber nach, warum die Christen über Generationen bis heute dort gelebt haben… Es ist nicht klar, wer diesen internen Kampf gewinnen wird, aber zweifelsohne werden es nicht der IS und auch nicht der Wahabismus sein, obwohl Saudi Arabien Hunderte von Millionen Dollar in aller Welt investiert haben, um Moscheen mit radikalen Imamen zu besetzen. Der Islam wird bleiben, weil er eine Religion mit verschiedenen Strömungen ist, die lernen werden zusammenzuleben. Aber niemand weiß, wie lange sie brauchen werden, um dorthin zu kommen.
Aber kommen wir auf unsere Zeit zurück. Der Westen
befindet sich in einer schweren internen Krise, eine Krise der Demokratie: Es ist eine soziale und wirtschaftliche Krise, einher mit der Unfähigkeit des politischen Systems, mit dieser Krise umzugehen. Es muss anerkannt werden, dass das seit dem Ende des 2. Weltkrieges aufgebaute System bis zur Wirtschaftskrise von 2008, die auf die Derivatenblase der USA und dann der Blase der europäischen Staatsschulden zurückzuführen ist, standgehalten hat.
Zahlreiche Historiker bestätigen, dass die
Geschichte von Habgier und Angst bestimmt ist. Seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 durchlebt die Welt einen wilden Kapitalismus, in dem Habgier als positiver Kraftstoff für das Wachstum gilt. Und in weniger als 20 Jahren führte die Habgier zur Renaissance der sozialen Ungleichheit, die die industrielle Revolution begleitete. Die Zahlen sind klar und bekannt: 200 Menschen besitzen den Reichtum von 2,2 Millionen Menschen. Die Mittelklasse hat sich reduziert: den Angaben der Weltbank zufolge fiel sie in Europa um 3% und in den USA um 7%.
In Brasilien, wo 40 Millionen Menschen auf die
Mittelklasse fielen, gehen nun Millionen auf die Straße, aus Angst vor der Verarmung. Zur Habsucht kommt die Angst hinzu. Die Angst unterstützt den Aufstieg von Donald Trump in den USA (und der Gerechtigkeit willen, auch den von Bernie Sanders). Überall haben die Menschen Angst, ihre bekannte Welt zu verlieren, in der sie sich bequem und sicher fühlten.
Die Botschaft des rechtsradikalen Flügels ist die
eines besseren Gestern: wir kehren zu einem reinen und geordneten Europa zurück. Wir befreien uns von den Bürokraten in Brüssel, die uns das Leben unmöglich machen. Nationalismus und Populismus sind im Aufmarsch. Wir befreien uns vom Euro, wir holen uns unsere Währungssouveränität zurück und werfen alle Ausländer raus, die unsere bekannte Welt gerade zerstören. Das derzeitige politische System ist voller Korruption, es wird den Bedürfnissen der Bürger nicht gerecht. Es hat sich in einen Mechanismus der Reproduktion einer Kaste verwandelt. Wir befreien uns von den traditionellen Parteien, die ein Instrument der finanziellen und wirtschaftlichen Interessen sind.
In diesem Rahmen finden es der Nationalismus und der
Populismus sehr bequem, die Ausländerfeindlichkeit dazu zu nehmen, die sich nun in Islamfeindlichkeit verwandelt hat. Es ist kein Zufall, dass die Universität Tel Aviv mitteilt, dass die antisemitischen Vorfälle in diesem Jahr auf dem niedrigsten Stand der letzten zehn Jahre sind. Und es ist auch kein Zufall, dass die Islamfeindlichkeit aus Frankreich stammt, wo die größte muslimische Gemeinde Europas lebt.
Zwei weitere Phänomene begünstigten die Nutzung der
Islamfeindlichkeit als politisches Instrument. Das erste war die Gründung des IS im Jahre 2014 mit Attentaten, die Europa in Angst und Schrecken versetzten. Das zweite war die Flüchtlingskrise, die als beispiellose Masseninvasion Europas gesehen wird. Die Islamfeindlichkeit unterstützte, einher mit Nationalismus und Populismus, wesentlich die Verschiebung des Kontinenten nach Rechts.
Aber nur die Flüchtlingswelle und den IS zur
Verantwortung zu ziehen, wäre eine oberflächliche Auslegung der Lage. Vergessen wir nicht, dass die anti-europäische Regierung in Ungarn 2010 gewählt wurde, als es weder den IS noch die Flüchtlingskrise gab. Vor 2014, waren Populismus und Nationalismus, geschürt durch Angst und Habgier, verantwortlich für diese steigende Flut.
Im Jahre 2015 fiel die Regierung in Polen, einem
Land, in dem die Europäische Union wie in keinem anderen Subventionen verteilt hat, in die Hände der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit dem Motto: Isolieren wir uns von allem, was sich in Europa abspielt. Schließlich kommt Brexit, das Referendum über den Austritt der Briten aus Europa, das von der Partei für die Unabhängigkeit der Vereinigten Königreiches (UKIP), einer vor allem nationalistischen und antieuropäischen politischen Kraft ins Leben gerufen wurde, in der die Islamfeindlichkeit kaum Bedeutung hat… Denn sonst wäre der neue Londoner Bürgermeister wohl kaum ein Muslim.
Aber nun sind wir auf den Islam fixiert, der zu
einem bequemen Sündenbock wird. Denn es gibt ja den IS und die Flüchtlingskrise. Die Tatsache, dass die Flüchtlinge von den Kriegen fliehen, die wir angezettelt haben, vergessen wir dabei vollkommen. Eine Fokussierung auf die Zukunft und die Art und Weise, auf die man die Einwanderungspolitik gestalten kann, ist im Moment politisch unmöglich. Nach dem vollen Erfolg der FPÖ in Österreich erklärte die sozialistisch-demokratische Regierungskoalition, dass sie der Rechten nicht erlauben wird, die Flagge der nationalen Integrität zu manipulieren und einen Grenzzaun zu Italien zu errichten.
Trotzdem ist es eine Tatsache, dass wir nicht ins
Europa der Vergangenheit zurückkehren können. Im Jahre 1800 machte die europäische Bevölkerung 24% der Weltbevölkerung aus. Aber am Ende dieses Jahrhunderts wird sie nur 4% der Weltbevölkerung ausmachen. Als England 1839 China zwang, seine Opiumexporte zu akzeptieren, lebten in England 19 Millionen Menschen gegen 354 Millionen in China. Heute hat das Vereinigte Königreich nur noch eine weiße Bevölkerung von 41,5 Millionen, während die Einwohner Chinas 1.600 Millionen sind.
Europa wird in drei Jahrzehnten 50 Millionen
Einwohner verlieren. Das Rentensystem ist kollabiert und kann nicht ersetzt werden. Können wir uns 50 Millionen christliche Einwanderer vorstellen? Aber bis vor wenigen Jahren beklagte sich ja noch keiner über die 20 Millionen Muslime, die in Europa leben. Wie können wir ohne Einwanderungspolitik ignorieren, dass die Gesamtanzahl der Menschen, die außerhalb ihrer Heimat leben nun 240 Millionen sind und ein Fünftel des größten Landes der Welt ausmachen? Wie können wir die Menschen auswählen und aufnehmen, die wir brauchen?
Wir sind dabei, das alles zu vergessen. Europa kehrt
sogar der Charta der Menschenrechte, der europäischen Verfassung und der verkündeten Identität den Rücken, um mit dem nicht so empfehlenswerten und immer autokratischeren türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu verhandeln und eine Vereinbarung zu treffen, die 1 Million Syrer gegen 6 Millionen Euro eintauscht und 70 Millionen Türken das Tor nach Europa öffnet.
Der Westen spielt genau dasselbe Spiel wie der Islamische
Staat, der vom Religionskrieg träumt und die Muslime in Europa und den USA zwingt, sich zwischen Abtrünnigkeit und dem Westen zu entscheiden, obwohl dieser sie ablehnt oder sich dem Kampf für die Renaissance des Islam und dem Krieg gegen die Kreuzritter anzuschließen. Das ist seine Strategie.
Und die wachsende Welle des Nationalismus,
Populismus und nun der Islamfeindlichkeit, die das traditionelle politische System gelähmt hat, bedeutet nicht nur der Untergang der Demokratie.
Sie eröffnet auch den Weg hin zur Unsicherheit und Suche
nach dem starken Mann der Vergangenheit. |