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Vor oder hinter den Kameras: iranische Frauen setzen sich auf der Leinwand durch

von Tlaxcala, 21.04.2016.
Rim Ben Fraj ريم بن فرج 
Übersetzt von  Milena Rampoldi میلنا رامپلدی
Herausgegeben von  Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي

Vom 7. bis 9. April 2016 fand in verschiedenen Kinos Tunesiens die vierte Ausgabe  der Tage des iranischen Films statt, eine Tradition, die sich in den letzten Jahren Schritt für Schritt etablierte. Auf dem Programm fanden sich viele neue und ältere Spiel- und Dokumentarfilme und nicht zuletzt der bekannte, in Cannes ausgezeichnete Film Nahid. Die weibliche Stimme und der weibliche Blick bestimmen immer mehr den iranischen Film. Dieser spiegelt eine Gesellschaft im stetigen Wandel wieder, wo die Frauen an den Universitäten und in zahlreichen Branchen wie Erziehung, Medizin oder Justiz in der Überzahl sind. Eine soziale Wirklichkeit, die mit dem geltenden islamischen Gesetz der Scharia in Konflikt tritt, die tagtäglich beweist, ein zu enger Käfig zu sein. Und noch einmal bietet uns das Kino einen Vorgeschmack der zukünftigen Revolutionen, die Ungeahntes bringen werden.

Nahid, ein roter Fleck inmitten eines grauen Ozeans
Nahid, der erste Langfilm der iranischen Regisseurin Ida Panahandeh, wurde in La Marsaausgestrahlt, wo er leider nicht die ausreichende Anerkennung von Seiten des Publikums erhielt. Dieser Film hat hingegen einem tunesischen, vor allem weiblichen Publikum, viel zu sagen.  
Nahid ist nun 32. Als sie 20 war, wurde sie mit ihrem Cousin Ahmad verheiratet, in der Hoffnung, er könnte dadurch von seiner Heroinsucht wegkommen. Dies geschah aber nicht. Nach 10 Jahren lassen sie sich scheiden. Das iranische Gesetz gewährt im Allgemeinen dem Vater das Sorgerecht für die Kinder, aber Ahmad lässt den Sohn Amir Reza, unter der Bedingung, dass sie nicht wieder heiraten darf, bei Nahid. Sie kämpft ums Überleben. Da die Call Centers noch nicht nach Bandar-e Anzali gekommen sind, arbeitet sie als Schreibkraft im Cybershop einer Freundin.
Es sieht so aus, als könnte sich alles ändern, als sie Masoud, den Eigentümer eines Strandhotels, kennenlernt. Er ist Witwer und hat eine kleine, rothaarige Tochter. Wie können sie aber ihre Beziehung legalisieren, ohne dass Nahid ihren Sohn verliert? Die Lösung besteht in der Schließung einer schiitischen, erneuerbaren Zeitehe eines Monats. Masouds Familie wird im Glauben gelassen, das Paar wäre wirklich verheiratet, und vor Ahmads Familie wird die Verbindung geheim gehalten. Leider wird der Strand von Bandar-e Anzali videoüberwacht – der Iran ist ein modernes Land. So kommt Ahmad zufällig dahinter, dass „seine“ Nahid einen anderen hat. Es bricht ein Skandal aus, dem ein Melodrama folgt, das die drei Familien involviert.

Die Regisseurin Ida Panahandeh (links) mit der Schauspielerin Sareh Bayat

Die Regisseurin, Ida Panahandeh, ist 36. Ihre frühe Kindheit war von den TV-Bildern des Iran-Irakkrieges belastet. Ihr Vater stirbt 1988. Die Mutter bleibt mit 32 mit zwei Kindern und einer reichhaltigen Bibliothek alleine zurück. Ida verschlingt die Bücher von Balzac, Tolstoi und Zola. Ihre Mutter heiratet nicht wieder. Ida hat sich immer nach dem Grund gefragt und wie sie es geschafft hat, sich so für ihre Kinder aufzuopfern. Das Drehbuch, das Ida mit Arsalan Amiri, von dem sie sagt, dass er nicht nur ihr Mann und Ko-Drehbuchautor, sondern auch ihr bester Freund ist, geschrieben hat, inspiriert sich sehr stark an den eigenen Müttern.
Der Film spielt in der Hafenstadt Bandar-e Anzali, am Ufer des Kaspischen Meers, im Nordiran, wo eine türkischsprachige Azeri-Minderheit lebt. Die Stadt ist wegen ihrer Kaviarproduktion berühmt. Das Meer ist zwar eine Quelle des Reichtums, aber nicht der Öffnung, sondern im Gegenteil bedrohlich und gefährlich, wenigstens während der Wintersaison, in der der Film spielt.
Im gesamten Film dominiert der erdrückende Grauton in all seinen Nuancen. Die einzige einbrechende Farbe ist das Rot des Blutes von Nahid, Ahmad, Amir-Reza und des unwahrscheinlichen, roten Sofas, das sich Nahid aus einer Laune gönnt, die sie sich gar nicht erklären kann. Diese Farbe weist in der persischen Kultur einen starken symbolischen Wert auf: die Hochzeitskleider sind rot. Aber gleichzeitig verkörpert die rote Farbe auch Leid und Auflehnung.
Nahid ist keine Feministin aus New York oder La Marsa und auch nicht Ida, die Regisseurin. Sie stellt Millionen von Frauen wie uns dar: dreißig, prekär, die nicht wissen, wie sie ihre Miete oder die Schule ihrer Kinder bezahlen sollen. Sie greifen auf die alltägliche Überlebensstrategie zurück, die wir zu gut kennen und die aus Tausenden akrobatischer Kunststücke besteht. Eine der großen Wahrheiten dieses Films besteht darin, dass man, um würdig leben zu können, unabhängig sein muss und dass es Geld braucht, um unabhängig zu sein. Ohne Geld also keine Liebe. Und diese Wahrheit hat nichts damit zu tun, ob man im Iran oder an einem anderen Ort dieses Planeten lebt. Nahid könnte Tunesierin, Griechin, Polin oder sogar Amerikanerin sein. Und diesen Aspekt haben die europäischen Kritiker, von Cannes bis nach Stockholm, nicht erfassen wollen.

Von links nach rechts: der Schauspieler Navid Mohammadzadeh, die Schauspielerin Sareh Bayat, der Schauspieler Pejman Bazeghi und die Regisseurin Ida Panahandeh anlässlich des 68. Festivals in Cannes, am 17. Mai 2015. Foto: Andreas Rentz/Getty Images Europe
Nahid wurde für den Bereich Un certain regard 2005 in Cannes ausgewählt und wurde als „lobenswertes“ Zeugnis –ein herablassendes und unerträgliches Adjektiv – der Hölle, in der die armen iranischen Frauen leben, bezeichnet. Ida antwortet, dass der Iran die Frauen nicht mehr unterdrückt als andere Länder. Denn Frauen werden überall unterdrückt. Sie fügt hinzu, dass es im Iran für eine Frau einfacher ist, einen Film zu drehen, da das Regime Interesse daran hat, durch weibliche Filmproduktionen im Ausland ein gutes Bild des Landes zu vermitteln. Ida weist darauf hin, dass ihr Film vor allem ein Film über das Dilemma einer Frau zwischenwomanhood (Weiblichkeit) und motherhood (Mutterschaft) ist. Sie ist sehr enttäuscht von den westlichen Reaktionen auf ihren Film, die auf die „Situation der Frauen im Iran“ fokussieren und die technischen und ästhetischen Qualitäten des Films ignorieren: der Bildregisseur Morteza Gheidi, für den dieser der erste Langfilm war, wurde auch beim Internationalen Festival der Brüder Manaki in Mazedonien ausgezeichnet. Es handelt sich um einen mehr als verdienten „Kamera 300“-Preis, da alle Szenen des Films von einer rührenden Schönheit sind, vor allem die Szenen am Strand mit dem bewegten Meer im Hintergrund und die des Flusses, der die Stadt durchquert.

Als wir das Kino verließen, waren wir nur fünf ZuschauerInnen, und am Eingang des Einkaufszentrums Zéphyr konnten wir feststellen, dass bei uns, wie auch im Iran, eine ganze Gesellschaft versucht, den explosiven Widerspruch zwischen einer äußerlichen, technologischen Modernität und einer konservativen Ewiggestrigkeit zu leben. In dieser schizophrenen Gesellschaft leben wir, mit oder ohne Kopftuch, alle ein Doppelleben, genauso wie Nahid.  
Natürlich unterscheiden sich Tunesien und der Iran sehr voneinander: dort kämpfen die Menschen gegen eine geltende Scharia, die uns eine Minderheit auch hier aufzwingen wollte.  

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Die Scheidung: ein echter Marathon für die iranischen Frauen
Um sich einen Eindruck vom diesem Kampf zu machen, ist es empfehlenswert, den immer noch aktuellen Dokumentarfilm „Scheidung auf Iranisch“ (1998) von Kim Longinotto und Ziba Mir-Hosseini anzusehen. Die beiden Regisseurinnen haben das Alltagsleben eines Familiengerichtes in Teheran aufgenommen. Der Vorsitzende ist ein lächelnder Mullah-Richter, vor den die Frauen treten, um die Scheidung von ihren armseligen Ehemännern zu fordern.
Alle diese Frauen sind in einer Logik der Forderung: sie wollen ihre Rechte geltend machen, verlangen die Zahlung der versprochenen und nie bezahlten Mitgift, fordern Ausgleichzahlungen, das Sorgerecht der Kinder; die Männer hingegen sind in einer Logik des Leugnens und der Böswilligkeit. Die Frauen wollen ihr Leben verändern, weil es unerträglich geworden ist, während die Männer alles so lassen möchten, wie es ist. Eine Frau wurde mit 14 mit einem Mann von 36 verheiratet, der seine vertragliche Verpflichtung nicht einhielt, sie weiterhin zur Schule gehen zu lassen; die andere ist mit einem Mann verheiratet, der nicht in der Lage ist, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen; eine wird von ihrem Mann verprügelt, der Mann der anderen geht fremd.
Scheidung auf Iranisch ist ein Werk angewandter, politischer Soziologie: es zeigt auf, dass alle diese Frauen, zusammen, die Akteurinnen eines wahren sozialen Wandels im heutigen Iran sind und dass alle diese Männer zusammen die wahren Agenten des gesellschaftlichen Konservatismus sind. Der Richter-Mullah mit der Geduld eines Zen-Mönchs verkörpert perfekt den Staat, der sich zwischen diesen beiden Polen bewegen und versuchen muss, so unbefangen und gerecht wie möglich zu sein. Aber auch der Staat befindet sich in einer Zwickmühle mit der Scharia, da diese in Konflikt mit der realen Gesellschaft steht.
Versprechen aus dem Norden: Mythos und Wirklichkeit

Eine Zeile Wirklichkeit (یک سطر واقعیت,) von Ali Vazirian, ein Film, der 2012 ins Kino kam, thematisiert eine andere Art von Kampf, den von Kasra und Forough, einem gleichberechtigten Journalistenpaar aus Teheran, das gerade versucht, eine Literaturzeitschrift zu retten, die wegen der verschärften Einschränkungen des Regimes, das bekannte Methoden anwendet, um die Kontrolle über die Medien nicht zu verlieren, dem Untergang geweiht ist. Der Film ist vom Anfang bis zum Ende in einer Spannung aus Scherenschnitten, Mahnungen von Gerichtsvollziehern, Drohungen nach dem Motto big brother is watching you und komischen Versprechungen. Kurzum: es ist schwer, in der Krise über Wasser zu bleiben. Am Ende strandet das Paar in Istanbul, wo es dann, nachdem es den Kontakt mit dem Iran abgebrochen hat, merkt, dass die Versprechen einer finanziellen Unterstützung seitens „Menschen guter Absicht“ aus Stockholm, die „iranische Blogger und Journalisten unterstützen wollten“, nur ein Betrug war. Am Ende stellt sich heraus, dass Forough, die realitätsbezogenere Person des Paares, Recht hatte, als sie diesem komischen Unterstützungsangebot, das aus dem schwedischen Himmel gefallen war, nicht traute.
Hossein Yari (Kasra) und Mehraveh Sharifinia (Forough)

Wir haben die Botschaft des Films so verstanden: natürlich ist der Kampf für die Ausdrucksfreiheit heute in unseren Ländern schwierig. Man könnte in Versuchung gelangen, alles hinzuschmeißen und das eigene Glück in Kanada oder Schweden zu versuchen: aber vertraut nicht allen wohlmeinenden Freunden aus dem Norden, die nur „Ihr Bestes“ wollen.  
Die Gesellschaft, die uns in diesen drei Filmen vor Augen geführt wird, ist eine Gesellschaft im Aufbruch und voller Konflikte. Und die dynamischsten Komponenten dieser Gesellschaft sind die Frauen und die Jugend. In diesem Sinne richten sich diese Filme an uns.