General

Spotlight oder die Macht des investigativen Journalismus

Von Rim Ben Fraj, Tlaxcala, 08.04.2016, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. 

“Gott nein zu sagen fällt schwer“, erklärt das Opfer eines „pädophilen“ Priesters, in einem Interview durch eine Journalistin des Ermittlungsteams Spotlight des Boston Globe,
nach dem der Film von Tom Mc Carthy betitelt ist. Dieser kam am 27.
Januar dieses Jahres in den US-Kinos heraus und kann nun weltweit
gesehen werden.


Ein tadelloser Hollywoodfilm, der so wahrheitsgetreu  wie möglich die langzeitige Recherche rekonstruiert,
die von diesen Journalisten über dieses so heikle Thema geführt wurde.
Es ging um den dreißigjährigen Schutz, den der Kardinal und Erzbischof
von Boston, Bernard Law den Priestern seiner Diözese gewährleistete, die
sich die sich des sexuellen Missbrauchs an Kindern schuldig gemacht
hatten. 2003 erhielten die Journalisten für ihre Recherchearbeit den
Pulitzerpreis. Der Film über sie hat schon 9 Preise gewonnen. Der erste
davon war der Oscar für den besten Film. Mit Sicherheit wird er noch
andere Preise gewinnen, vor allem beim kommenden Festival von Cannes.

Es ist allgemein bekannt, dass Religion und Sexualität sind
Tabuthemen und haben wie bekannt nichts miteinander zu tun. Und jedes
Mal, wenn sie sich treffen, knallt es.

Die „zivilisierte“ Welt, die so geschockt von der primitiven Barbarei des „heiligen Krieges der Ehe“ (jihad an-nikah)
des „Islamischen Staates“ ist, hat aber ihre Probleme, wenn es darum
geht, den eigenen Gräueln ins Gesicht zu sehen, wie beispielsweise denen
der zu Unrecht als „pädophil“ bezeichneten Priester. Etymologisch
betrachtet ist ein Pädophiler eine Person, die „Kinder liebt“; aber
diese Priester, die Jungen und Mädchen missbrauchen, indem sie sie
sexuell belästigen, durch Penetration vergewaltigen und dabei oft auch
noch foltern, tun dies sicher nicht aus Liebe zu den Kindern, sondern
weil sie einfach wissen, dass sie die Schwächsten und Verwundbarsten
ausnutzen können. Diese Raubmenschen sind nichts anderes als
Pädokriminelle, Punkt. Der Verein der Überlebenden von Kindermissbrauch durch Priester SNAP
zählt heute über mehr als 12.000 Mitglieder in 56 Ländern: das gibt
eine Ahnung vom Ausmaß des Phänomens, das auf keinen Fall marginal ist.

Genauso wie der Islamische Staat die jungen Araber manipuliert, um
sie für den Heiligen Krieg zu rekrutieren, nutzen diese Priester die
Ärmsten und Ausgeschlossensten der Gesellschaft aus. „Wenn man in
Boston arm ist, spielt die Religion eine entscheidende Rolle in unserem
Leben … Die Priester suchen ihre Opfer unter den Ärmsten und
Verwundbarsten aus, um auf Nummer sicher zu gehen, dass sie auch
schweigen.“    

Die Offenbarungen des Boston Globe haben seit Januar 2002
einen Schnellballeffekt erzeugt und zu Offenbarungen ähnlicher
Verbrechen in der ganzen Welt geführt. Der Kindermissbrauch betrifft
nicht nur die katholische Kirche, sondern alle Kirchen und im
Allgemeinen Organisationen, in denen Kinder unter der Autorität von
Erwachsenen gruppiert werden.

Wie der aktuelle Skandal zeigt, der die katholische Kirche in
Frankreich mit dem Fall des Kardinals und Bischofs von Lyon, Mgr.
Barbarin, erschüttert, hat sich die hohe Hierarchie meistens genauso
verhalten wie die in Boston. Sie hat die Regeln der Omertà, des Gesetzes des Schweigens der sizilianischen Mafia angewendet. Der Boston Globe hat dieses Schweigen gebrochen und den Weg gewiesen.


http://tlaxcala-int.org/upload/gal_13183.jpg


Eine Lektion in Journalismus

Spotlight sollte zu den Lehrprogrammen aller Journalistenschulen und Ausbildungen für Bürgermedien gehören. Erstens sind die Spotlight-Journalisten
weder Supermen noch Superwomen, sondern ganz normale BostonerInnen und
BaseballliebhaberInnen. Außerdem sind sie extrem fleißige Leute mit
einem 15-Stundentag. Die Cafés, in die sie gehen, besuchen sie nur, wenn
sie sich mit ihren Zeugen treffen. Sie wollen nur Eines: die Wahrheit
finden. Und dabei vergessen sie nie die Pflicht, den Schutz ihrer
Quellen zu pflegen, und dies angefangen von den Opfern, die sich bereit
erklären zu sprechen und denen sie eine wahrhaftige Empathie
entgegenbringen. Und sie sind geduldig, sie nehmen sich die Zeit, die
sie brauchen und passen sich an die Zeitlichkeit ihrer Zeugen an. Sie
sind sich dessen bewusst, dass die frühzeitige Veröffentlichung der
teilweisen Ermittlungsergebnisse alle ihre Bemühungen zwecks Ermittlung
des ganzen Ausmaßes der Affäre zunichtemachen könnte. Auf diese Weise
dehnte sich die ursprüngliche Recherche über einen kriminellen Priester
auf 7, dann 13, dann 90 alleine in der Diözese von Boston aus, die
insgesamt mehr 1.000 Opfer missbrauchten.

Durch die Veröffentlichung der eigenen Offenbarungen in mehr als 600 Artikeln in einem einzigen Jahr, hat der Boston Globe
gezeigt, dass die Macht dieser vierten Gewalt der Medien auch auf
andere Aspekte als auf Scoop, Buzz, Skandal um jeden Preis
zurückzugeführt werden kann, und zwar auf die Worte der Schwächsten, der
Stimmlosen. Und auf diese Weise ist es dem Boston Globe
gelungen, einen Kampf gegen diese furchtbare zweite Macht, die
katholische Kirche in Boston zu gewinnen. Denn in Boston ist praktisch
jeder Zweite ein Katholik. Aber dieser Kampf betrifft nicht nur die
Katholiken.

Überall, wo die Armen in Ignoranz überleben, werden ihre Kinder zu
auserkorenen Opfern räuberischer, machtdurstiger Unmenschen, die sie
missbrauchen und sie im Namen einer höheren Instanz, im Allgemeinen
eines Gottes, zum Schweigen bringen. Die Lehre aus Boston erhebt sich
somit zu einer universalen Lehre.