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(I)NTACT e.V.: Die Genitalverstümmelung von Frauen ist eine strukturelle Gewalt

von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Anbei mein Interview zum Thema der weiblichen Genitalverstümmlung mit Christa Müller, Gründerin und Vorsitzende von (I)NTACT e.V. Möchte mich erneut herzlichst bei Frau Müller für Ihre Zeit bedanken. Für ProMosaik stellt der Kampf gegen FGM einen Kampf der gesamten Gesellschaft für das Wohl der gesamten Gesellschaft dar. Keine Religion darf FGM rechtfertigen. Denn in keiner Religion gibt es FGM. FGM kennt keine Religion. Das Beispiel von (I)INTACT zeigt, wie FGM auch wirklich aus der Welt geschaffen werden kann.


Milena Rampoldi: Welches ist das Hauptziel von Intact?
Christa Müller: Das Hauptziel von (I)NTACT e.V. ist es, die weibliche Genitalverstümmelung in möglichst vielen Ländern vollständig abzuschaffen.

MR: Was bedeutet Genitalverstümmelung und wie schwer sind die Folgen?
CM: Die weibliche Genitalverstümmelung wird in verschiedenen Formen praktiziert. Die
Operation wird in den meisten Fällen ohne Narkose und unter mangelhaften
hygienischen Bedingungen durchgeführt. Am häufigsten werden mehr oder weniger
große Teile der Klitoris und die inneren Schamlippen teilweise oder vollständig
entfernt (Exzision). Bei der sogenannten Infibulation werden außerdem noch Teile
der äußeren Schamlippen weggeschnitten und die verbleibenden Reste mit einer
Naht oder Dornen bis auf eine reiskorngroße Öffnung verschlossen.
Die Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit sind oft gravierend.
Geschätzte fünf Prozent der Mädchen sterben durch den Eingriff.

MR: ProMosaik sieht die Genitalverstümmelung als eine Folter, die Frauen
Frauen zufügen, weil es zur Tradition gehört. Sie widerspricht vollkommen den monotheistischen Religionen. Wie sehen Sie das?
CM: Die Genitalverstümmelung von Frauen ist eine strukturelle Gewalt. Es wäre also
verkürzt, diese Tradition als eine Folter anzusehen, die von Frauen an Frauen verübt
wird. Die Mütter und Großmütter, die ihre Töchter und Enkelinnen beschneiden
lassen, tun dies, um den Erfordernissen ihrer Gesellschaft zu entsprechen. Sie
wollen das Beste für ihre Mädchen. Das ist in diesen Gesellschaften immer noch die
Ehe. Unverheiratete Frauen haben kaum Chancen, für sich selbst zu sorgen. Wenn
die Ehe aber nur für beschnittene Mädchen möglich ist, ist damit auch die
Genitalverstümmelung der Mädchen existentiell. Wenn sich etwas ändern soll,
müssten Männer unversehrte Frauen heiraten und die Familien der Männer müssten
die unversehrten Schwiegertöchter und Schwägerinnen auch akzeptieren. Die
gesamte Gesellschaft ist gefordert. Außerdem müssten Frauen unabhängig von einer
Ehe ihr Leben leben dürfen.
Keine der monotheistischen Religionen fordert die weibliche Beschneidung. Der
Brauch wurde bereits vor der Entstehung der monotheistischen Religionen
durchgeführt. Man hat bei archäologischen Ausgrabungen schon Mumien
beschnittener Frauen gefunden. Dennoch spielt Religion eine große Rolle. Die
überwiegende Mehrheit der diese Tradition praktizierenden Menschen sind Muslime.
Der Brauch wird auch von Christen und Anhängern von Naturreligionen durchgeführt.
Grundsätzlich gilt im Islam das Gebot der Unversehrtheit für alle Menschen. Aber die
weibliche Genitalverstümmelung wird dennoch von vielen Gläubigen als ein religiöser
Akt aufgefasst, der die rituelle Reinheit von Frauen herstellt. Die von Mädchen und
Frauen verlangte Keuschheit soll über die Verringerung der weiblichen Libido erreicht
werden. Es geht also stets um die Kontrolle der weiblichen Sexualität mit äußerst
drastischen Mitteln. Es wäre sehr förderlich, wenn die religiösen Autoritäten des
Islam die Durchführung der weiblichen Genitalverstümmelung überall und bis ins
kleinste Dorf explizit ablehnen würden.

MR: In welchen Ländern arbeiten sie? Welche sind die erfolgreichsten
Strategien?
MC: (I)NTACT arbeitet in den westafrikanischen Ländern Benin, Togo, Burkina Faso,
Ghana, Senegal, Gambia.
(I)NTACT arbeitet stets mit ortsansässigen Partnerorganisationen zusammen. Diese
kennen sich mit den Gegebenheiten in ihren Heimatländern perfekt aus. Als kleiner
Verein kann (I)NTACT seine Strategien stets an die jeweiligen Erfordernisse
anpassen. Diese Flexibilität ist ein großer Vorteil.
Alle Menschen werden zunächst flächendeckend von Dorf zu Dorf und von Hof zu
Hof über die gravierenden gesundheitlichen Probleme aufgeklärt, die die weibliche
Genitalverstümmelung verursacht.
In traditionalistischen Gesellschaften fällt Männern, die als Hüter der Tradition und
religiöse Führer eine große Autorität besitzen, eine besondere Rolle zu. Sie müssen
erkennen, dass die Aufgabe des Brauches keine spirituellen Nachteile mit sich bringt.
Deshalb müssen sie unbedingt in die bewusstseinsbildenden Maßnahmen
einbezogen sein.
Die Beschneiderinnen verlieren Einkommen, wenn sie ihr Metier nicht mehr
ausführen. Diese Verluste können sie mit unserer Hilfe ausgleichen. Sie erhalten
eine Umschulung und kleine Kredite. Wichtig ist es auch, die Position der Frauen zu
stärken, indem sie Zugang zu Bildung haben und über ihre Rechte aufgeklärt
werden.
Die Nachhaltigkeit muss gewährleistet sein. Deshalb ist (I)NTACT mit verschiedenen
kleineren Projekten zur Kontrolle auch nach dem Ende der weiblichen
Genitalverstümmelung noch vor Ort.
Es ist wichtig, den „Beschneidungstourismus“ aus einer befreiten Region in noch
praktizierende Regionen zu verhindern. Deshalb sollte möglichst flächendeckend und
grenzüberschreitend gearbeitet werden.

MR: Was haben Sie bisher erreicht und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
CM: Die beiden benachbarten Länder Benin und Togo konnten bereits befreit werden.
Hier gibt es die Genitalverstümmelung nur noch in seltenen Ausnahmefällen. Ghana
wird das nächste Land sein, in dem die Mädchen nicht mehr verstümmelt werden.
Im mehreren Regionen von Burkina Faso und in Teilen des Senegals konnte
(I)NTACT die weibliche Beschneidung ebenfalls erfolgreich bekämpfen.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir das Land Burkina Faso bis spätestens
2025 von der Genitalverstümmelung befreien.

Vgl. über Benin:
http://www.intact-ev.de/files/Nachrichten/INTACT_NR09.pdf

 

MR: Wie wichtig ist die Sensibilisierung gegenüber dem Problem in Europa und warum?
CM: Europa muss die Einhaltung der Menschenrechte garantieren. Dazu gehört das
Recht auf körperliche Unversehrtheit für alle Menschen, d.h. auch für alle Mädchen
und Jungen, die hier in Europa leben. Wenn es uns gelingt, hier die Einstellung der
eingewanderten Menschen zu verändern, kann das auch positive Auswirkungen auf
die Menschen im Herkunftsland der Migranten in Europa haben.