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ProMosaik im Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Metscher über Marxismus

Von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein
wichtiges Interview mit dem Literaturwissenschaftler und Philosophen Prof. Dr. Thomas
Metscher zu verschiedenen Themen und Gedankengängen rund um den Marxismus im
weitesten Sinne. Ich möchte mich nochmal herzlichst bei Prof. Metscher für
seine Zeit bedanken.
Quelle: www.rotes-salzburg.at
Milena Rampoldi: Wie fanden Sie den Weg
zum Marxismus? Was bedeutet der Marxismus heute, nach Ihrer langen Karriere,
für Sie?
Thomas Metscher: Das ist eine lange Geschichte. Ich
bin auf einem anderen Weg zum Marxismus gekommen als viele andere meiner
sozialen Schicht und Generation. Ich hatte das Glück, einen bürgerlichen
anti-faschistischen Vater gehabt zu haben. Mein Vater erlebte, im Gegensatz zum
Normalfall im deutschen Bürgertum/Kleinbürgertum, das Kriegsende politisch
bewusst als Hitlergegner. Er begrüßte ostentativ die Rote Armee als Befreier.
Er hasste Hitler und den Faschismus, wie er jede Form des Militarismus
verabscheute. In diesem Sinne wurde ich erzogen. Er lehrte mich, den
Antisemitismus als große Schuld Deutschlands und der deutschen Geschichte zu
sehen, er dachte im Sinne von Lessings Nathan
der Weise
, den er oft zitierte. Er war links, doch bürgerlich links, nicht
sozialistisch. Er orientierte sich an Tucholsky, Ossietzky, die Weltbühne, die große realistische
Literatur des 19. Jahrhunderts, vor allem Tolstoi, Fontane, Galsworthy, von den
Modernen Leonhard Frank, den er mich lieben lehrte, Heinrich und Thomas Mann,
auch Bertolt Brecht. So hatte ich einen guten Ausgangspunkt – der des in
Deutschland so seltenen kritischen Bürgers mit weltbürgerlicher, nicht
nationaler Gesinnung. Auf dieser Grundlage durchlebte eine graduelle
Entwicklung. Prägend wurde, auch langfristig prägend, dass ich nach dem
Kriegsende für einige Jahre in der sowjetischen Besatzungszone lebte, der
späteren DDR. Mit dieser Zeit verbinden mich beste Erinnerungen. Ich fühlte ich
mich zuhause auch in der Schule wie nie in späteren Jahren, hatte meine erste
Veröffentlichung als Vierzehnjähriger mit einem Antikriegsgedicht, gewann einen
Schulpreis im Russischunterricht, eine Schwimm-Meisterschaft im schulischen
Wettbewerb. Erst Ende der vierziger Jahre siedelten wir, aus beruflichen, nicht
politischen Gründen, nach Westberlin über. Politisch vertrat damals bis zum
Ende seines Lebens den Standpunkt Walter Ulbrichts in der Deutschlandpolitik.
In der Entwicklung Westdeutschlands und der Adenauer-Politik entdeckte er die
Kontinuitätslinie mit dem alten Deutschland, das Bündnis von Kapital und
Politik. Er nahm wahr, dass dieser Schoß noch fruchtbar war – und wie hat er,
blickt man von heute zurück, recht behalten!
Mein nächster Politisierungsschub erfolgte
während meiner Studienzeit in Westberlin. Es war der Widerstand gegen
Wiederaufrüstung und atomares Wettrüsten, dem ich mich anschloss. Entscheidend
wurde der Antiatomkongress von 1958, auf dem ich dem Philosophen Günther Anders
begegnete, Wolf Haug kennenlernte. Ich war beteiligt an der Gründung des Argument, wo dann auch meine erste
theoretische Publikation erfolgte, im Anschluss an Anders die „Notizen zu einer
Ontologie der atomaren Situation“. Die Lektüre von Marx, Lukács, Brecht gab mir
eine Grundlage, auch in meinem literaturwissenschaftlichen Studium, alles im
Selbststudium, denn gelehrt wurde dies nicht. Der Weg führte nun in gerader
Linie zum Marxismus, schließlich auch im Sinne der politischen Organisation. Zu
diesem Zeitpunkt war ich kritisch, doch nie feindlich gegenüber dem, was sich
der ‚reale Sozialismus’ nannte. Die DDR betrachtete ich als das bessere
Deutschland von den Möglichkeiten her – als Grundlage einer wahrhaft
demokratischen, in jedem Fall antimilitaristischen Entwicklung. Entscheidend
wurde für mich die Erkenntnis des organischen Zusammenhangs von Faschismus und
Kapitalismus, die sich mir graduell erschloss – die Erkenntnis, dass der
Faschismus eine Form bürgerlicher Herrschaft ist, sich faschistische
Herrschaftsformen notwendig aus bestimmten
Entwicklungen des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen, der imperialistischen
Phase ergeben. Dies war im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre der Fall,
und es ist wieder die heutige Situation. Faschismus bedeutet diktatorische
Herrschaft der reaktionärsten und aggressivsten Fraktionen des imperialistischen
Kapitals. Faschismus ist, über das Moment des Anti-Rationalismus, der
Gegnerschaft zu Aufklärung und Sozialismus hinaus, an keine besondere
ideologischen Inhalte gebunden. Er hat ideologisch funktionalen Charakter. Ich
sage dies so deutlich, weil diese Frage im heutigen Europa brandaktuell ist.
Seit dem Zeitpunkt, als ich den Marxismus als
‚Antwort’ auf viele mich tief bedrängende Fragen – politische wie theoretische
– entdeckte, habe ich mich mit diesem kritisch fragend auseinandergesetzt. Ich
habe nicht nur rezipiert, sondern auch produziert, geschrieben, weitergedacht, Stellung
genommen, zunächst im Argument, dann
darüber hinaus, schließlich auch im Rahmen der Deutschen Kommunistischen
Partei, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Der Marxismus, dies gehört zu
den zentralen Ergebnissen dieser jahrzehntelangen Bemühungen in und an der
Arbeit mit ihm, ist für mich keine abgeschlossene Theorie, kann und wird es nie
sein – und wenn er es ist, gibt er sich selbst auf.
MR: Was
heißt, Ihrer Auffassung nach, überhaupt Marxismus?
TM: Marxismus. wie sich der Begriff in Verlauf
meiner vielfältigen Erfahrungen herausgebildet hat, ist einerseits enger,
andererseits weiter als er von vielen anderen verstanden wird, die den Begriff
gebrauchen. Betrachten wir die weltgeschichtliche Lage unter dem Gesichtspunkt
der Geschichte des Sozialismus und sozialistischer Hoffnungen, so wird nicht zu
leugnen sein, dass wir uns gegenwärtig auf einem Tiefpunkt befinden. In eine
solchen Lage stellt sich die Versuchung ein, den Marxismus zu einem
Messianismus zu machen, Kommunismus zur ‚Hypothese’, die durch einen
‚Glaubenssprung’ zu gewinnen sei. Der Marxismus wird so zur Quasi-Religion.
Solche Gedanken finde ich gerade bei Autoren, die heute medialen Kredit
genießen: bei Zizek, Badiou, und selbst Haug spricht in Anschluss an Benjamin
und Derrida von einem ‚Messianismus ohne Messias’, womit er den Marxismu meint.
Mir kommen solche Autoren wie Leute vor, die im Dunkeln singen, um sich Mut zu
machen. Mut braucht es in Zeiten der Niederlage, und sicherlich braucht es
Hoffnung, um der Verzweiflung zu entgegen. Es gibt aber auch den falschen Mut
und die trügerische Hoffnung. So führt, meine ich, der Weg, dem Marxismus einen
Anstrich von Religion zu geben, gar zu einer profanen Religion zu machen, in
die Sackgasse und macht die Niederlage unumkehrbar. Zukunftsfähig ist der
Marxismus nur, wenn er jede Gestalt der Religionsförmigkeit ablegt. Fundamental
für ihn ist gerade die Trennung von Wissen und Glauben. Er ist kein
Messianismus, welcher Form auch immer. Er ist Wissen, und zwar kritisches Wissen und verhält sich
kritisch gegenüber jeder Ideologie. Ohne das Moment des Kritischen wird er zur
Ideologie. Seine Fundamentalkategorie ist die Dialektik als Lehre, jede gewordene Gestalt des Lebens als bewegt,
Teil eines Prozesses und damit veränderlich, den Erkenntnisprozess selbst als
unendlichen Prozess aufzufassen. Das Wissen des Marxismus ist somit relativ, unabschließbar, begrenzt, in
dem Rahmen, der menschlichem Wissen jeweils historisch gesetzt ist.
Marxismus, möchte ich formulieren, ist eine politische Weltanschauungsform, in der,
gemäß dem Postulat der Einheit von Theorie und Praxis, politische Bewegung und
konzeptive Weltanschauung zusammentreten
. Sein Ziel ist, im Sinne der
elften Feuerbachthese, die Interpretation
und die Veränderung
der Welt.
Als konzeptive Weltanschauung beruht der Marxismus
auf drei Säulen: Wissenschaft,
Philosophie Kunst
– dieser Gesichtspunkt ist es, der gegenüber den üblichen,
auch traditionellen Marxismusauffassungen eine entschiedene Erweiterung vorschlägt.
Wissenschaft und Philosophie werden gewöhnlich im Zusammenhang gesehen, ich
schlage eine methodische und kategoriale Trennung vor. Die wissenschaftliche Grundlage des Marxismus bilden Ökonomie, Politik,
Geschichte, Rechts- und Gesellschaftswissenschaften, in einem weiteren Sinn
auch Geistes- und Naturwissenschaften –, wobei ihr jeweiliger Anteil dem
untersuchten Gegenstandsfeld entsprechend variiert. Sprechen wir von der philosophischen Grundlage des Marxismus,
so ist neben dem auf die Antike zurückgehenden Materialismus (Demokrit, Epikur,
Lukrez) vor allem die Hegelsche Philosophie zu nennen, und mit ihr die
Tradition dialektischen Denkens; in einem weiteren Sinn dann auch
nominalistische, empiristische und naturphilosophische Strömungen (wie sie die
philosophische Wissenschaftslehre eines Francis Bacon repräsentiert). Als
dritte Säule aber, auf dem der Marxismus in seiner entwickelten Gestalt
fundiert, ist die Kunst zu nennen,
vor allem die Literatur, doch auch die anderen Künste. Es ist dies die hier
entscheidende Ergänzung des Marxismus als weltanschauliches Konzept, die ich
vorschlage. Zur Orientierung und als Hinweis auf das Gemeinte seien hier die
Namen Brecht, Neruda, Scholochow, Seghers, Hikmet, Ritsos, Hacks, Weiss, Ngugi
wa T’hiong’o, Picasso, Guttuso, Sitte, Schostakowitsch, Eisler genannt – sie
sollen paradigmatisch das Feld bezeichnen, das der trockene Begriff ‚Marxismus
in der Kunst’ benennt. Es umfasst einen nicht unbedeutenden Anteil der
Gegenwartskunst, weit mehr als die Kunst in den ehemals sozialistischen Ländern,
geschweige denn Kunst im Umkreis marxistischer politischer Organisationen.
Marxistische Kunst, verstanden als eine solche, deren weltanschauliche
Grundlage und politische Orientierung der Marxismus ist, besitzt eine
erstaunliche Weite und Vielfalt. Sie bildet eine distinkte Dimension in der Welt-Kunst
der Gegenwart. Wenn also vom Reichtum und den Potentialen des Marxismus gesprochen
werden soll, wird nicht nur von Wissenschaft und Philosophie, sondern auch von
den Künsten zu sprechen sein.
Im Zentrum freilich des Marxismus als
Weltanschauung steht die Wissenschaft. Ihr Kernbereich ist, mit Engels’
Begriff, der wissenschaftliche
Sozialismus
. Dieser ist keine Ideologie, er stellt nicht den Anspruch
absoluten Wissens (als Kriterium von Ideologien kann gelten, dass diese mit einem
absoluten Wahrheitsanspruch auftreten), sondern ist ein Corpus
wissenschaftlichen Wissens, das sich der Möglichkeiten und Grenzen solchen
Wissens bewusst ist und dieses Bewusstsein im Begriff der Kritik reflektiert: als Kritik
der politischen Ökonomie
, Kritik der
Ideologie und des gesellschaftlichen Bewusstseins
, Kritik der Ethik, der Kultur und der Künste usf. Positives Wissen
auf allen diesen Feldern ist aus der Kritik zu gewinnen.
Das bedeutet: der Marxismus als wissenschaftlicheTheorie
ist ein überliefertes Corpus von Wissen, das der ständigen Überprüfung, der
Revision des Fehlerhaften, der Weiterentwicklung im Licht neuer Erfahrungen und
Erkenntnisse bedarf. Dies ist nicht mit Relativismus zu verwechseln, und es hat
mit Revisionismus nicht das Geringste zu tun. Im Marxismus gibt es einen
substantiellen Kern theoretischen Wissens, das den Test kritischer Überprüfung
bestanden hat. Die Aufgabe solchen Wissens, aus welchen Gründen auch immer
(meist sind es opportunistische), ist das, was man berechtigt als
‚Revisionismus’ kritisiert und ggf. auch organisatorisch bekämpft. Zum
substantiellen Kern dieses Wissen gehören beispielsweise die Erkenntnisse der
Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, seine ideologietheoretischen Funde,
die Einsicht, dass alle bisherige Geschichte seit dem Ausgang der
Urgesellschaft eine Geschichte von Klassengesellschaften ist, die Grunderkenntnisse
(bei allen internen Differenzen) der von Lenin und Luxemburg entwickelten
Imperialismustheorie, Grunderkenntnisse im Bereich der Kultur, der Ästhetik und
der Künste, und vieles mehr. Doch selbst auf diesen Feldern gibt es historisch
Neues, das theoretisch verarbeitet werden muss und zu Veränderungen,
Erweiterungen der Theorie führen kann. Die Fundamentalkategorie der
marxistischen Theorie, sagte ich, ist die Dialektik,
und die Dialektik als Methode erfordert und befähigt uns, eine sich verändernde
Wirklichkeit im Zustand ihrer Veränderungen wie auch das Wissen über diese Veränderungen zu erfassen. Kraft der Dialektik
kann es gelingen, die unerhörte Zunahme menschlichen Wissens, die sich in
unserer Gegenwart vollzieht, dem Corpus marxistischen Denkens einzuverleiben.
Für einen so verstandenen Marxismus habe ich den Begriff eines integrativen Marxismus geprägt; integrativ bezogen auf die Fähigkeit der Integration
wissenschaftlichen wie kulturellen Wissens. Ein so verstandener Marxismus besitzt
ein Zukunftspotential, das ihn über jede andere mit ihm konkurrierende
wissenschaftliche Weltanschauung hinaus hebt.
Ein Beispiel für eine legitime und notwendige
(also nichtrevisionistische) Korrektur überlieferter Theorie ist die Utopie. Die kritische Einstellung von
Marx und Engels zur Utopie (in der Gestalt des utopischen Sozialismus) ist
bekannt. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft war in
der historischen Lage, in der sich Marx und Engel befanden, ein notwendiger
Schritt. Heute befinden wir uns in einer anderen historischen Lage, in der
einer universalen Gefährdung. Sie erfordert utopisches Denken, um Perspektiven
zielorientierten Handelns zu gewinnen. Mein Vorschlag lautet deshalb, die
Utopie in den Marxismus zurück zu holen, nicht gegen dessen wissenschaftliche
Orientierung, sondern im Sinne ihrer Erweiterung: Utopie als Denken des
historisch Möglichen
; und über das zu befinden, was historisch möglich ist,
liegt durchaus im Rahmen möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Jean Ziegler
hat es in seinen wichtigen Büchern zum Problem des Welthungers überzeugend
gezeigt.
Der Marxismus ist in seiner ideellen Substanz
eine Theorie der Befreiung. Es geht
ihm, mit Marx, um das Umwerfen aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ –
um die Emanzipation des Menschen in voller Diesseitigkeit. Als Mangel ist zu
konstatieren, dass die Ausarbeitung einer politischen
Ethik
immer noch fehlt. Lukács plante, als Krönung seines großen Werks, im
Alter eine Ethik zu schreiben, hat es aber am Ende nicht mehr tun können. Dabei
ist die Ethik für den Marxismus so zentral wie es die Utopie im erläuterten
Sinn ist – an deren Seite sie tritt. Sie gibt der Kritik herrschender
Verhältnisse einen normativen Horizont. Im Konnex mit der Utopie verweist sie
auf eine mögliche Welt, die wir uns wünschen. Es ist eine Welt, so Brecht in An die Nachgeborenen, einer Dichtung von
epochalem Rang, „wo der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“. In solcher Welt
herrscht das Ethos der Freundlichkeit und Solidarität. Begriffsgeschichtlich lässt
sich eine Linie zum plebejisch-christlichen Liebesgebot ziehen, zum Gedanken der
Würde, die jedem Menschen zukommt qua
Mensch
– kraft seiner materiellen Verfasstheit. Shakespeare hat diesen
Gedanken in den Sturmszenen des Lear
in einer Weise Ausdruck verliehen, die in die Grundlegung eines marxistischen
Ethik gehört – vielleicht schreibe ich selbst noch einmal etwas dazu. An
solcher Stelle wird die enge Verbindung des Marxismus mit den humanistischen
Kunsttraditionen fassbar, wie nicht zuletzt auch mit dem Gedanken des Friedens
– einer von Angst und Not befreiten Welt. Unabweisbar ist die enge Verbindung
von Marxismus und Aufklärung, die Erkenntnis, dass der Marxismus ein Humanismus
ist, die Zerstörung dieses Kerns ihn in seinen Wurzeln zerstört.
MR: Welchen Einfluss hatte Ihr
Auslandsaufenthalt in Belfast auf Ihr Weltbild und Ihre Art, die Welt zu sehen
und zu interpretieren?
TM: Ich war 10 Jahre lang in Belfast im Norden Irlands,
zunächst als Lektor, dann als Dozent für deutsche Literatur am German
Department der dortigen Universität tätigt. In dieser Zeit beschäftigte ich mich
intensiv mit der irischen Geschichte und mit der irischen Arbeiterbewegung. Ich
schrieb damals an meiner Dissertation über Sean O’Casey, den großen irischen
Dramatiker. Das hat mich stark geprägt. Ich fand hier nicht zuletzt einen neuen
politischen Zugang zum Marxismus. Irland, Englands erste Kolonie und auch die
erste Kolonie, die den Kampf gegen koloniale Unterdrückung aufnahm, wurde mir
Symbol antikolonialer Befreiung. So ist Irland meine zweite Heimat geworden,
fast wäre ich dort geblieben. Ich traf dort dann auch meine spätere Frau, eine
Irin. In die Ausbildung lebensgeschichtlich prägender Haltungen spielt immer
auch ein Moment des Emotionalen hinein. Übrigens promovierte meine Frau später
in Bremen mit einer Arbeit über den Republikanismus und Sozialismus in Irland, die
geschichtliche Bewegung zwischen dem Aufklärer Wolfe Tone und den Marxisten
James Connolly. Ihr daraus entstandenes Buch wird gerade in Irland neu
aufgelegt.
MR: Welchen Zusammenhang sehen Sie
zwischen Islam und Marxismus?
TM: Zunächst: es gibt die Differenz zwischen Marxismus und Religion. Der Islam ist
eine religiöse Ideologie, der Marxismus eine auf Wissenschaft, Philosophie und
Kunst beruhende diesseitige Weltanschauung. Traditionellen marxistischen
Auffassungen zufolge ist diese Differenz unüberbrückbar, der Marxismus ist wissenschaftlicher
Atheismus, sein Verhältnis zur Religion ein solches der Gegnerschaft –
höchstens noch das eines taktischen Arrangements. Ich halte diese Folgerung für
theoretisch falsch und politisch verheerend.
Gerade als wissenschaftliche Theorie, ich sagte
es, kann der Marxismus keinen Anspruch auf absolutes Wissen stellen. Tut er es,
macht er sich zur Quasi-Religion und wird in seinem falschen Anspruch zur
Ideologie. Denn ‚wissenschaftliches Wissen ist relativ’ bedeutet gerade: Es gibt Grenzen dieses Wissens, und diese
Grenzen lassen Raum für den individuellen Glauben, ja räumen diesem seinen
spezifischen Raum erst ein. Deshalb ist die Auffassung vom wissenschaftlichen
Atheismus ein hölzernes Eisen. Wissenschaft kann weder theistisch noch
atheistisch sein. Im Rahmen wissenschaftlichen Wissens ist für Gott so wenig
Platz wie für Nicht-Gott. Mit der Erledigung der Gottesbeweise durch Kant sind
auch die Nichtbeweise erledigt. Im Grunde also ist die Stellung des Marxismus
zu Menschen religiösen Glaubens von seinen theoretischen Prämissen her
eindeutig und klar. Der Marxismus ist keine Religion, und er sollte jede
Gestalt der Religionsförmigkeit ablegen, doch können religiöse Menschen sehr
wohl Marxisten sein – ja sie können, was oft geschieht, ihre politischen
Handlungsimpulse gerade auch aus ihrem Glauben beziehen.
Halten wir fest: der Marxismus ist seinem Wesen
nach eine emanzipatorische Theorie. Sein Ziel ist ein diesseitiges: reale
Befreiung, ein von Angst, Gewalt und Not befreites Dasein auf der Basis
menschlicher Gleichheit. Das bedeutet: Sozialismus
als reale Demokratie
. Für diesen Zweck sollten alle Kräfte, die sich diesem
Ziel verpflichten, zusammentreten. Angesichts der Übermacht des Gegners, und
das ist das imperialistische Kapital und seine politischen Agenturen, ist der
politische Zusammenschluss aller antiimperialistischen Kräfte die Vorbedingung,
den Kampf überhaupt führen zu können. Religionen als Institutionen sind nach
ihrer Funktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf zu beurteilen. Stellen
sie sich auf die Seite der antiimperialistischen Koalition, sollen sie als
gleichberechtigte Partner und Mitstreiter willkommen sein, stellen sie sich an
die Seite der Herrschenden, wie sie es in der Vergangenheit oft genug getan
haben, sind sie ohne Wenn und aber als Gegner zu betrachten und mit den Mitteln
zu bekämpfen, die eine besondere historische Lage erforderlich macht.
Um jedes Missverständnis zu vermeiden – es
handelt sich hier um einen Punkt, an dem leicht Missverständnisse entstehen
können, zudem um einen Punkt von großer politischer Bedeutung -: Der Marxismus
ist keine Ideologie, sein erstes Fundament ist die Wissenschaft. Seine Stellung
zu institutionalisierten Religionen ist von seiner Geschichte her kritisch, er
fasst diese als ideologische Formen und beurteilt sie nach ihrer
gesellschaftlichen Funktion. Der Islam wie die anderen Religionen werden danach
befragt, inwieweit sie zur menschlichen Emanzipation beitragen können. Dem
Islam kommt gegenwärtig angesichts seiner enormen humanen Potenzen, seiner
Dynamik und weltweiten Verbreitung eine sehr wesentliche Rolle für die
Gestaltung des Lebens auf unserem Planeten zu. Hat er emanzipatorische
Potentiale im oben erläuterten Sinn? Das ist hier die entscheidende Frage. Inwiefern
lassen sich Verbindungen zwischen dem Marxismus und dem Islam herstellen? Wenn
ja, wäre dies ein wichtiger Schritt nach vorn. Auf den ersten Blick fallen
große Unterschiede auf. Doch fehlen auf beiden Seiten die Kenntnisse
voneinander. Man sollte Möglichkeiten der Anknüpfung erkunden. Ich denke etwa
an den spanischen Islam vor der Reconquista als gesellschaftliches Modell der
Toleranz zwischen Ideologien und Religionen. In Andalusien lebten alle Menschen
frei ihre eigene Kultur, Voraussetzung war, dass sie das sie die staatliche
Ordnung, politisch und rechtlich akzeptierten. Auch die Philosophie erlebte
eine Blütezeit; ich erinnere an Blochs wegweisende Arbeit Avincenna und die aristotelische Linke. Hier erläutert er die arabische
Philosophie als Teil der Geschichte materialistischen Denkens. Nicht zu
vergessen ist: Aristoteles gelangte über arabische Vermittlung ins christliche
Mittelalter. Die Summa contra Gentiles
des Thomas von Aquin behandelt diesen Sachverhalt. Sie ist der Versuch, das
christliche Denken gegenüber dem nichtchristlichen, arabischen wie jüdischen zu
behaupten. Wir brauchen Studien darüber, über die Geschichte des Islam
politisch wie kulturell, seine Verknüpfung mit der nichtislamischen Welt, seine
kulturellen Potentiale; selbstverständlich kritische Studien, doch gerade auch
solche, die seine kulturellen Errungenschaften und emanzipatorischen Leistungen
ausarbeiten. In diesem Zusammenhang sei Goethes West-Östlicher Divan genannt. Hier feiert er Hafis, den persischen
Dichter des 14. Jahrhunderts, als seinen Bruder im Geiste, Verkünder eines
eudaimonischen Daseins, irdischer Glückseligkeit, der Vereinigung von
Lebensfreude und mystischer Vergeistigung. Hier steht die islamische Welt als
Gegenentwurf zur christlichen Askese. Hier finden wir Argumente gegen
religiösen Fundamentalismus jeder Art, gewinnen zugleich den Boden für die
literarische Völkerverständigung – Goethes Begriff der Weltliteratur.
Es sind dies Wege, historisches Bewusstsein auszubilden,
Gemeinsamkeit zu stiften, Grenzen abzubauen. Die Arbeit am Humanum der Weltkulturen kann nur als gemeinsame Aufgabe gelingen.
Sie hat einen zentralen Ort im marxistischen Begriff des Kulturellen.
MR: Wie kann der Marxismus heute zum
Kampf für die Menschenrechte und die Gerechtigkeit beitragen?
TM: Auch hier ist eine theoretische Vorklärung
vonnöten. Der Gedanke des Rechts (um Hegels Begriff zu verwenden) ­- die Frage
nach individuellem Recht, Völkerrecht, Menschenrechten – wurde im
traditionellen Marxismus nur allzu oft allein unter ideologischen
Gesichtspunkten, also kritisch gesehen, und in manchen Formen des Marxismus
wird er es heute noch. Selbstredend ist Recht in den Klassengesellschaften in
erster Linie Klassenrecht. Vergessen wurde und wird aber, dass das Recht darüber
hinaus eine zivilisatorische Errungenschaft ist, die über seinen
Klassencharakter hinaus weist – als Menschenrecht, Völkerrecht, individuelles
Recht, Rechtsstaatlichkeit, in der Form der Rechtgesellschaft,
wie ich sagen möchte. Allein die Stalinherrschaft sollte uns belehren, was es
bedeuten kann, wenn im Sozialismus elementare Rechtsgrundsätze verletzt werden.
Auf allen Ebenen und an vielen Orten erleben wir in der gegenwärtigen
bürgerlichen Gesellschaft, die sich so freiheitlich und demokratisch gibt,
einen Abbau von Rechtsstaatlichkeit – am fortgeschrittensten in den USA, im
europäischen Umfeld in der Türkei –, die Eleminierung fundamentaler Rechte. Der
emanzipatorische Kampf heute ist in weiten Teilen zu einem Kampf um den Erhalt  – perspektivisch den Ausbau – der
Rechtgesellschaft geworden.
Blicken wir auf Deutschland. Im zunehmenden Maß
zeigt sich, dass Deutschland zutiefst gespalten ist. Fraglos gibt es in großen
Teilen der Bevölkerung ein solides demokratisches und human-solidarisches
Bewusstsein. Auf der anderen Seite aber zieht der rechte Radikalismus in
Gestalt der AfD in die Parlamente ein. Wir haben einen öffentlich agierenden
Neofaschismus, der braune Pöbel fackelt die Unterkünfte von Flüchtlingen ab,
die Polizei ist unfähig (oder unwillens), diese zu schützen. Der sog.
Verfassungsschutz agiert in einem rechtsfreien Raum, seine Verbindung zum
rechten Untergrund kommt im NSU-Prozess scheibchenweis an den Tag. Einzelheiten
kann man nur ahnen, nicht wissen. Die Durchsetzung der Rechtsgesellschaft –
praktizierte Rechtstaatlichkeit – ist hier erst Forderung, nicht Realität.
Es geht also zunächst darum, in dieser finsteren
Zeit den Rechtsstaat zu verteidigen, demokratische und Rechtsverhältnisse
herzustellen, wo es sie nicht gibt. Unsere Kräfte und Möglichkeiten sind
gering. Es gibt viele Aufgabenfelder: die politische Arbeit, Arbeit an den
Schulen und Universitäten. An Universitäten ist die Lage für Marxisten desolat.
Die Inhalte der Ausbildung haben sich verändert – in Richtung der Verbürgerlichung
der Wissenschaft, die in den ideologisch neuesten Moden, zuletzt postmodern
drapiert, daherkommt. Die Professoren wurden entsprechend ausgewechselt. Heute
gibt es kaum mehr (wenn überhaupt) marxistische Lehre an den Universitäten. Die
Verhältnisse hier sind bedeutend schlimmer als beispielsweise in den USA, wo es
noch linke, auch marxistische Hochschullehrer gibt, nicht nur Berühmtheiten wie
der bewundernswerte Noam Chomsky, sondern auch andere mit unbekanntem Namen. Bei
uns wurde der akademische Augiasstall nach der sog. Wiedervereinigung – ich
ziehe es vor, von der Reconquista zu sprechen – von allem linken Unrat befreit.
MR: Wie können wir marxistische Ideale in
der westlichen Gesellschaft umsetzen?
TM: Durchsetzbar sind sie, wenn überhaupt, nur
langfristig, durch das, was ich eine demokratische
Revolution
nenne. Damit gemeint ist eine grundlegende Transformation der
Produktions- und Herrschaftsverhältnisse auf der Basis des Rechtsstaates.
Grundlage ist die Vergesellschaftung des monopolistischen Eigentums wie des
Finanzkapitals, die gesellschaftliche Kontrolle im Bereich der ökonomischen
Basisverhältnisse. In der Epoche des imperialistischen Kapitals ist dies ein
gewaltiges Unternehmen. Das imperialistische Kapital scheint so uneinnehmbar
wie die Stadt Rom in der Epoche des römischen Imperiums. Doch ist solche
Transformation im Rahmen unserer Verfassung – d.h. des Grundgesetzes – im
Prinzip möglich. Es gibt im Hier du Heute also eine legale Basis dafür; eine
demokratische Revolution ist keine romantische Spinnerei noch eine
anarchistische Gewalttat. Die Vergesellschaftung des imperialistischen Kapitals
wäre die erste Stufe eines solchen revolutionären Prozesses. Auf dieser
Grundlage hätte der demokratische Umbau des zivilgesellschaftlichen wie des
juristischen und staatlichen Bereichs zu erfolgen. Die Verwirklichung der
emanzipatorischen Ideale ist nur in einem langen Zeitraum über viele Stufen
hinweg denkbar.
Das bedeutet aber auch, dass das Ringen um
Verfassung und Rechtsstaat ein Kampf um die Voraussetzung der Revolution ist.
Pointiert gesprochen: die Revolution hat mit diesem Kampf schon begonnen. Und
eines ist sicher: Kampf wird es geben, harten Kampf, denn niemand glaube, dass
das Kapital kampflos die Bühne der Weltgeschichte verlassen wird. Ist es, wie
Marx sagt, „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur
Welt gekommen (Kapital I, MEW 23, 788), so wird es auch in keiner anderen
Gestalt die Welt wieder verlassen, und nicht auszuschließen ist die
Möglichkeit, dass es die Menschheit in seinen Höllensturz hineinreißt.
Die Bedingungen für eine solche Umgestaltung
sind gegenwärtig schlecht, doch wäre Resignation die falscheste aller
Haltungen. Sie hieße aufzugeben, bevor der Kampf überhaupt begonnen hat. Geduld
ist die erste Tugend des Revolutionärs. Als Wissenschaftler und Marxisten
sollten wir gelernt haben, historisch zu denken. Es dauerte Jahrhunderte, bis
sich die bürgerliche Gesellschaft gegenüber der feudalen als weltgeschichtliche
Gesellschaftsform durchgesetzt hatte. Der Prozess lief über eine Reihe von
Revolutionen; er begann im 14. Jahrhundert und war endgültig erst im 19. und
20. abgeschlossen, ja noch heute gibt es ein Reihe von Monarchien und andere
modernde Reste des Feudalismus. Währen der Hoch-Zeiten Roms erschien deren
Bewohnern das Römische Reich für die Ewigkeit gemacht, seine Kaiser ließen sich
als Götter feiern, und doch verging es im Strudel der Geschichte und ließ nur die
bekannten und viel bestaunten Reste zurück. So sollten auch wir die Dimension
geschichtlicher Zeit für unseren Kampf wie unseren Begriff der Zukunft stärker in
unsere Überlegungen einbeziehen. Die Geschichte bewegt sich nicht geradlinig,
sondern verläuft in Spiralen. Und allgegenwärtig ist die Gefahr der
Katastrophe, der Rückfall in Barbarei ist ständige Möglichkeit. In Teilen der Welt
hat er heute schon begonnen.
MR: Erzählen Sie uns bitte etwas über die
Grundgedanken Ihres Buches Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur.
TM: Mein seit langem vergriffenes Buch gibt eine
Art Übersicht in Ausschnitten über die Entwicklung des Friedensgedanken in der
europäischen Literatur. Es nimmt ein Thema auf, über das in den traditionellen
Philologien wenig gearbeitet wurde; umso erstaunlicher, denn Krieg und Frieden
spielen in dieser Literatur eine bedeutende Rolle (und nicht nur in ihr, auch
in der anderer Kulturen, ich möchte allein an China erinnern). In meinem Buch
arbeite ich skizzenartig und setze Schwerpunkte. Ich gehe auf die Antike
zurück, auf Epos, Drama und Lyrik, frühe Artikulationen des Friedensgedankens
bei Homer, Euripides, Aristophanes, Vergil. Hier schon geht es nicht nur um
Krieg und idealisiertes Heldentum, sondern auch um die Schrecken des Kriegs
(man denke an Euripides’ trojanische Dramen), um die Notwendigkeit des Friedens,
in Vergils Vierter Ekloge bereits um die Utopie einer friedlichen Welt.
Kursorisch behandle ich die Tradition des christlichen Friedensgedanken, ein
weiterer Schwerpunkt ist Shakespeare. Ich ziehe dann die Linie über Humanismus,
Aufklärung, Klassik, Romantik zur Moderne. Das Buch schließt mit einer Studie
zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands
und einem Essay zu Picassos Guernica.
Damit werfe ich einen Blick über die Grenzen der Literatur hinaus ins
Nachbarland der Malerei.

In gewisser Weise war das Buch eine Entdeckung
für mich. Mir war, bevor ich es schrieb, nicht klar, in welch starkem Maß die
Kritik von Krieg und Gewalt und als Gegenbild der Gedanke des Friedens der
Literatur Europas eingeschrieben ist. Doch gilt dies auch für andere Literaturen.
So gibt es in der chinesischen Lyrik die Kontinuitätslinie einer gegen den
Krieg gerichteten Dichtung, die der europäischen um nichts nachsteht. Hier
erschließt sich Vergangenheit in Dimensionen, welche die Zukunft zur Utopie hin
öffnen. In ihr ist der Frieden ein bestimmendes Moment.