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Liebe Palästinenser: Wir brauchen beim derzeitigen Sachstand keinen Staat

Von Khalid Amayreh خالد العمايرة, Palinfo, 18. 3.2016, Übersetzt von Milena Rampoldi, herausgegeben von 
Fausto Giudice

Original: Dear Palestinians: We don’t need a state under existing circumstances 

Angesichts der aktuellen Lage empfiehlt der Autor der Palästinensischen Autonomiebehörde, das trügerische Streben nach einem palästinensischen Staat endgültig aufzugeben und sich für die Gründung eines demokratischen und einheitlichen Staates (zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer) zu entscheiden, in dem Juden und Araber, unabhängig von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit, gemeinsam in Frieden und Gleichheit leben.
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Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Errichtung eines zwergenhaften palästinensischen Staates unter den derzeitigen Bedingungen eine riesige historische Katastrophe für das palästinensische Volk und seine dauerhafte gerechte Sache wäre.
Eine solche Katastrophe würde ein viel größeres Ausmaß annehmen als die Nakba von 1948, als Israel gegründet wurde und der Großteil der Palästinenser ins Exil getrieben wurde.
Es gibt zahlreiche, überzeugende Gründe, die belegen, dass die Gründung eines palästinensischen Staates (oder Kleinstaates, einer Entität oder einer Konföderation von Bantustans) eher eine Lösung der Probleme des Zionismus herbeiführen würde als eine Lösung der Palästinafrage.

Wenn wir nämlich die Bedeutung der Politik als „Kunst des Möglichen“ verinnerlichen, so müssen wir auch akzeptieren, dass ein palästinensischer Staat, der in der aktuellen globalen, geopolitischen Lage gegründet würde, ein Staat ohne Staatlichkeit, eine verformte Entität ohne eine wahre Substanz, ohne Souveränität und ohne Zukunft wäre.
Es wäre ein Staat ohne Jerusalem, ohne die Rückführung der Flüchtlinge in  die Orte, aus denen sie 1948 mit Waffengewalt vertrieben wurden, ohne wirtschaftliche Überlebensfähigkeit und sogar ohne ausreichende Wasserressourcen.
Das heutige Israel befindet sich auf dem Höhepunkt seiner politischen, wirtschaftlichen und vor allem militärischen Macht. Israel ist eine Atommacht und kontrolliert mehr oder weniger die Politik und die Richtlinien der USA. Im Gegensatz dazu befinden sich die Palästinenser auf ihrem politischen und wirtschaftlichen Tiefpunkt. Denn in der Tat hängen die Palästinenser, ob nun im Westjordanland oder im Gazastreifen, virtuell von der Laune Israels ab. Unsere Wasserlieferungen kommen aus Israel. Unser Strom kommt aus Israel. Unsere Kraftstofflieferungen kommen aus Israel.
Ja, wir sind Geiseln der israelischen Kriminalität und Verdorbenheit, die Israel „guten Willen“ nennt.
Israel bezeichnet unser Überleben als Ausdruck seines „Großmuts“. Somit wäre jeglicher palästinensische Staat, der unter den aktuellen Bedingungen gegründet würde, ein grundsätzlich verformter, prekärer und fast vollkommen von Israel abhängiger Staat, um überhaupt überleben und bestehen zu können.
Wir wissen doch alle, dass Israel sich die Palästinensische Autonomiebehörde als eine Art „Palästinensischen Judenrat“ wünscht, der an erster Stelle gegenüber Israel verantwortlich ist und gegenüber Israel Rechenschaft ablegen muss. Dies nennt man euphemistisch die „Sicherheitskoordinierung“ zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel. Kurzum wäre jeglicher palästinensische Staat unter den derzeitigen Bedingungen ein Vasallenstaat, der vollkommen Israel untertänig wäre.
Es wäre untertrieben zu behaupten, dass die Beziehung zwischen Ramallah und Tel Aviv mehr gemeinsam hat mit der Beziehung zwischen Berlin und den verschiedenen Judenräten in der NS-Zeit als mit der Beziehung zwischen zwei normalen Entitäten, z.B. Staaten.
Es wäre somit ein großer historischer Wahnsinn seitens der Palästinenser, unter den derzeitigen Bedingungen weiterhin einen Staat anzustreben.
Die Palästinensische Autonomiebehörde hält weiterhin an einem Hoffnungsschimmer fest, der sich internationale Legitimität nennt. Aber tief in unseren Herzen wissen wir alle, dass die internationale Machtpolitik am Ende das sind, was zählt und nicht die Legitimität oder das internationale Gesetz. Der laufende syrische Holocaust ist wohl das augenfälligste Beispiel, das den moralischen Bankrott der Welt unter Beweis stellt.
Die USA und noch weniger Europa wären nie in der Lage und auch nicht dazu gewillt, Israel dazu zu bringen, einen Mindestmaß an Rechten für die Palästinenser zu erkennen, die für die Mehrheit unseres Volkes in der Heimat und in der Diaspora akzeptabel wären.
Letzten Endes waren die USA und Europa schon immer Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.
In der Tat hätte Israel nicht dieses Niveau an Arroganz, Unverschämtheit  und Unnachgiebigkeit erreicht, hätte es nicht unbegrenzte US-Lieferungen hochentwickelter Waffen an dieses aufmüpfige Gebilde gegeben.
Der Vorteil der Palästinenser besteht heutzutage in einem klaren demographischen Vorteil gegenüber Israel. Israel kennt diese Tatsache zu gut, aber entscheidet sich, diese aus politischen und psychologischen Gründen zu ignorieren, denn würde Israel sie offen anerkennen, so würde es implizit den Misserfolg des Zionismus anerkennen.
In der Tat können wir mit Sicherheit behaupten, dass Israel ein Apartheid-Staat par excellence ist, in dem eine jüdische Minderheit über eine systematisch verfolgte, nicht-jüdische Mehrheit herrscht.
Da braucht sich keiner zu wundern. Fakten sind Fakten.
2005 zeigte ein Bericht der US-Regierung auf, dass die palästinensische Bevölkerung in Israel und den besetzten Gebieten die jüdische Bevölkerung überschritt. Die folgende Tabelle zeigt die grundlegenden demographischen Daten bis 2004.
Jüdische, palästinensische Bevölkerungen und andere Minderheiten in Israel/Palästina gemäß dem Länderbericht 2004 des US-Außenministeriums   
Bevölkerung Prozentsatz*
Jüdische Bev. 5 200  000 48%
Palästinensische Bev. 5 337 185 49.3%
Andere Minderheiten 290 000 2.7%
Insgesamt 10  827 185 100%
* Gerundet auf die nächste Zahl.
Wenn man von der Genauigkeit der angeführten Daten ausgeht, kann man heute (2016) mit Sicherheit behaupten, dass die palästinensische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer (Israel selbst, Westjordanland, Gazastreifen und Ostjerusalem) die jüdische Bevölkerung um mindestens 300.000 Einheiten überschreitet.
Aus den Daten können wir auch ableiten, dass die Palästinenser innerhalb 2-3 Jahrzehnten eine klare und unbestreitbare Mehrheit innerhalb Palästinas des Völkerbundmandats haben werden.
Angesichts der aktuellen Lage empfiehlt der Autor, dass die Palästinensische Autonomiebehörde endgültig das trügerische Streben nach einem palästinensischen Staat aufgeben und sich für die Gründung eines demokratischen und einheitlichen Staates (zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer)  entscheiden soll, in dem Juden und Araber, unabhängig von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit, gemeinsam in Frieden und Gleichheit leben.