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Willkommen im Ghetto der „israelischen Araber“

Sayed Kashua سيد قشوع סייד קשוע 
Übersetzt von  Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس
Herausgegeben von  Milena Rampoldi میلنا رامپلدی  –  Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي

Warum kommen diese Schießereien in Euren Gemeinden immer wieder vor?, werde ich manchmal gefragt. Das ist, was geschieht, antworte ich, wenn der Staat eure Existenz ignoriert und Gewalt durch Kriminelle angewendet wird, um Streitigkeiten beizulegen. 
Im Kopf, ganz sicher im Kopf – die Blutlache ist auf der linken Seite des Kopfes. Wie viele Kugeln? Kamen sie von hinten oder von vorne? Der halbe Schädel ist weggeblasen, das Gehirn quillt heraus. Offensichtlich ein großes Loch hier, man kann es sehen. Sie drehten den Körper um. Es gibt Bilder von ihm, wie er auf dem Rücken liegt und andere, wie er auf der Seite liegt. Drehten sie ihn mit ihren Füßen um?
Es ist spürbar kalt. Man sieht es in den Augen – im gefrorenen Blick der Bewohner von Arara. Kälte ist ein Gefühl und hat nichts mit der Temperatur im Winter zu tun.  Es macht keinen Unterschied, ob man die Temperatur mit Celsius oder Fahrenheit misst. Deshalb werden die Nächte der Kindheit in Tira immer die kältesten sein.  Mit dem Elektroheizer, der an Tagen ohne Stromausfall ein wenig Wärme spendet, den gestreiften oder geblümten Wolldecken und den dünnen Matratzen mit der Standardstickerei. 
Jeder erkennt sie, wenn nicht von zu Hause, dann aus dem Haus der Eltern oder Großeltern. Sie erkennen die Armut, die Glasflasche mit Limonade, den weißen Zucker, unser Geschirr und die Flecken von schwarzem Kaffee, der über den Dallah floss– ja so wird das Gefäß genannt, denn es ist kein Finjan. Finjan ist das kleine, normalerweise angemalte Glas, aus dem der Kaffee getrunken wird. Aber geh dich mit den “yefei blorit veto’ar”, den hübschen, gefälligen  Sabras streiten. 
Zeigen sie auch die jüdischen teilweise verschmierten Körper? Ich weiß es nicht mehr. Ich bin nicht auf dem Laufenden, was die ethischen Standards betrifft. Vielleicht wird es zur Abschreckung gemacht, zur Demütigung oder als Zeichen von Sieg und Heldentum. Auf jeden Fall ist der Tod dort, ein wenig verschmiert. So muss man nur noch die leere Stelle füllen und das Puzzle im Gedanken vollständig ergänzen.
„Allah yerhamo“, wie sie sagen, möge Allah ihm gnädig sein. 
Welchen Unterschied macht ein anderes Bild eines Körpers, das in einer Blutlache liegt, für ein Volk, das dauernd nichts anderes als Gräuelbilder konsumiert? Man muss ihre Sprache sprechen: die Sprache eines Staates im Staat, der dazugehört, aber nicht verspürt wird, wie man so sagt. Es ist dasselbe Land und man fühlt seine Existenz, wenn es über seine Grenzen fließt, die im Gegensatz zu denen des Mutterlandes sehr aufmerksam gekennzeichnet sind.
Palästinensische Bürger Israels Israel demonstrieren in der arabischen Stadt Ramle am 26. November 
2015 gegen häusliche Gewalt und die steigende Zahl von Frauenmorden 
(Activestills)
Die beste Definition eines Staates gemäß meines Verständnisses von Max Weber ist die einer Körperschaft mit Gewaltmonopol. Welches Gewaltmonopol herrscht in den arabischen Gemeinden des Landes? Es gibt nur Gewalt, die niemandem gehört. Und diese Gewalt hat keine andere Wahl als  über Ghettogrenzen hinaus zu fließen. Und dann kann sie vom Mutterstaat als national, religiös, als eine Mentalität und eine Kultur ausgelegt werden –  und all das, um keine Verantwortung zu übernehmen. 
Durch die fehlende Anwendung des Gesetzes ist die Gewalt zu einem Teil der Lebensroutine geworden. Und ohne die   geeignete Fähigkeit, sich auf die staatlichen  Institutionen zu verlassen, ist kriminelle Gewalt eine Lösungsmöglichkeit für Konflikte geworden. Mit andern Worten erzwingen die Starken die Lösungen der Schwachen. 100 bewaffnete Leute in einer Stadt von 50 000 Einwohnern reichen aus, um das Leben der Einwohner zur Hölle zu machen; Furcht wird zum Alltag, und das Leben ohne persönliche Sicherheit ist nicht mehr lebenswert. 
Wir werden ihnen ein paar Mal auf den Kopf schlagen, um die Waffen zu beschlagnahmen und das Gesetz durchzusetzen. Wäre ich ein Soziologe, würde ich behaupten, dass dies sinnlos wäre. Es könnte die Situation mildern, aber es ist zweifelhaft, ob es hilft, wenn das ganze Konzept, die ganze Politik unverändert bleibt. Es wird nichts nutzen, solange das Entwicklungsministerium von  Negev und Galiläa keine Anzeigen veröffentlicht, um die arabische Familien  zu ermutigten, Häuser in meinen Gemeinden zu kaufen wie es die jüdischen Familien tun. Es wird nichts nutzen, solange die Regierungsministerien damit beschäftigt sein werden, das Land innerhalb  und außerhalb der Grünen Linie zu judaisieren. Es wird auch nichts bringen, solange die Bürger in Araber und Juden aufgeteilt werden.
„Warum geschieht dies immer wieder in Ihren Gemeinden?“ Ich erinnere mich an den rothaarigen TV-Direktor, der mich  nach einem neuen Mordfall fragte, über den in den israelischen Medien berichtet wurde – weil Mordfälle die einzigen Vorfälle in arabischen  Gemeinden  sind, die manchmal israelische Medien  erreichen.
Ich überwand meine Trauer und antwortete ihm: „Das ist so… denn, wenn Sie das Dorf von Beit Zayit 20 Jahre lang absperren, sodass jeder, der dort geboren wird, auch gezwungen ist, dort zu leben, dann garantiere ich Ihnen, dass dies auch bei Ihnen geschehen wird. Ich garantiere Ihnen, dass Brüder anfangen werden,  wegen eines Quadratmeters Land  auf einander zu schießen.
Die Lage ist beängstigend. Die Angst beherrscht so die Bevölkerung, dass  arabisch-sprachige Zeitungen und Nachrichtenportale im Internet solche Fälle von Gewalt zurückhalten und  die Namen der Verdächtigen, die auf Grund von Mord  verhaftet worden sind, nicht erwähnen werden – selbst wenn die Namen schon auf hebräischen Medien erschienen sind. Die Lage ist aber aus gutem Grund beängstigend. Die Leute lernen das zu entziffern, was nicht in den Nachrichten steht und die Gründe zwischen den Linien, in denen jeder lebt, zu lesen.
„Wohin?“ schrie mich ein alter Freund aus Wadi Ara diese Woche an, als ich ihn drängte, sich von dort zu entfernen. „Wohin soll ich denn gehen?  Wohin werden die Kinder zur Schule gehen? Wer will uns denn schon? Die Leute in Afula?“ sagt er spöttisch.
„Vielleicht nach …“  beginne ich zu antworten; aber er hielt mich an, als ich versuchte, ihm Haifa vorzuschlagen. 
„Tu mir einen Gefallen, schlag mir nicht Haifa vor“, sagte er. „Haifa wird auch noch drankommen. Und woher sollte ich denn das Geld für den Umzug nehmen? Wo würde ich einen Job bekommen?“

Es ist dasselbe Land und dasselbe Elend, das die arabischen Einheimischen überall im Lande heimsucht. Aber an diesen Orten haben die Leute wenigstens die Illusion, dass ihr Schicksal nicht schon bei der Geburt besiegelt ist und sie mit Bildung und Arbeit in der Lage sein werden, dem Inferno zu entkommen. Das ist eine fast unmögliche Illusion für die Araber in Israel, die erzogen wurden, um zu verstehen, dass sie keine andere Alternative haben, als in ihrem Heimatdorf zu leben. Das Problem besteht jetzt seit fast sieben Jahrzehnten. Das Land ist dasselbe geblieben, aber das Dorf ist kein Dorf mehr.“