General

Kritik an Israel hat mit einem „neuen Antisemitismus“ nichts zu tun


Norman Finkelstein


Übersetzt von 
Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس



Herausgegeben von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی


“Wir
sehen Antisemitismus, gerichtet gegen einzelne Juden, und wir sehen
auch diesen Hass gegen den kollektiven Juden gerichtet, gegen den
jüdischen Staat”
Netanjahu, 26 January 2016
Die
Geschichte beweist, dass Israels Rechte von der internationalen
Gemeinschaft keineswegs beeinträchtigt, sondern wohl eher bevorzugt
wurden. Israel war nie das Opfer, sondern immer der Begünstigte eines
globalen Doppelstandards.

Deshalb kann die These, dass ein grundlegender Judenhass seinen
augenblicklichen Paria-Status erklärt, nicht aufrecht erhalten werden.
Wurde denn Israel ungerecht behandelt? Noch viel mehr Unschuldige (heißt
es) sind von Arabern in Syrien und Darfur getötet worden, während
Tibeter, Kashmiris und Kurden auch unter der bedrückenden Last
ausländischer Besatzungen gelitten haben. Trotzdem fokussiert die
öffentliche Meinung  auf Israels Sünden. Wie ist diese Diskrepanz 
anders zu erklären als durch den Antisemitismus?

Aber obgleich Südafrika auch seinen Paria-Status bejammert und in einem
gewissen technischen Sinn auch wirklich ungerechterweise hervorgehoben
wurde, so würde es lächerlich gewesen sein, zu behaupten, dass Rassismus
gegen Weiße das moralische Kalkül der internationalen Gemeinschaft
korrumpiert hätte. Das Apartheid-System verkörperte in seinem Wesen eine
so schamlos antiethische und abstoßende Weltanschauung für den
damaligen Zeitgeist, dass die Proteste seiner Anhänger  – außer bei
Ronald Reagan und Margaret Thatcher – auf taube Ohren fielen.

Weshalb sich ein besonderer lokaler Kampf in eine internationale,
aufsehenerregende Frage verwandelt, kann mathematisch nicht nachgewiesen
werden. Wie beweist man, dass das Leiden eines Volkes das schlimmste
ist? Aber mit Sicherheit weist der Kampf der Palästinenser an sich schon
ausreichende, entsetzliche Merkmale auf, sodass der Antisemitismus
nicht als wichtiger, erklärender, allumfassender Faktor herangezogen
werden muss. Wenn man den „Terrorismus“-Hintergrund- Lärm ausklammert,
ist es schwer, ein besseres Beispiel von Ungerechtigkeit zu finden.
„Welches Verbrechen begingen die Palästinenser?“, fragte meine
verstorbene Mutter rhetorisch (und sie hatte Einiges über das
menschliche Leid erfahren), „außer dass sie in Palästina geboren
wurden?“ (1)

Die lange Dauer des Konfliktes stellt diesen in eine „Elite“-Klasse:
datiert man seinen Anfang mit der Balfour-Erklärung, ist fast ein
Jahrhundert vergangen; mit der Nakba, sind es sieben Jahrzehnte, mit der
Besatzung des Westjordanlandes und Gazas fünf Jahrzehnte. Seine
verschiedenen Phasen und Facetten fassen die Palette menschlichen Elends
zusammen: ethnische Säuberung, ausländische Besatzung und Belagerung,
Massaker, Folter und Demütigung. Seine Ungleichheit verleiht dem
Konflikt eine biblische Resonanz: Ist es nicht David gegen Goliath, wenn
ein winziges, misshandeltes Volk gegen die regionale Supermacht,  die
von der Weltmacht unterstützt wird, kämpft? Die schiere Grausamkeit und 
Herzlosigkeit verwirrt und macht sprachlos.

In den letzten zehn Jahren hat Israel die volle Kraft seiner
High-Tech-Tötungsmaschine über dem „riesig großen Freiluftgefängnis“
(britischer Ministerpräsident Cameron) nicht weniger als acht Mal
losgelassen: „Operation Regenbogen“ (2004), „ Operation Tage der Buße“
(2004), „Operation Sommerregen“ (2006). „Operation Herbstwolken“ (2006),
„Operation heißer Winter“( 2006), „Operation Gegossenes Blei “
(2008-9), Operation Wolkensäule“, (2012), “Operation Fels in der
Brandung ” 2014.

http://tlaxcala-int.org/upload/gal_6816.jpg

Carlos Latuff

Die Unermesslichkeit des Leids macht das Gehabe von „Balance” während
Israels letzter „Operation“ in Gaza zum Spott: 550 palästinensische
Kinder wurden getötet, während ein israelisches Kind getötet wurde, 19
000 Häuser in Gaza wurden zerstört, während in Israel ein Haus zerstört
wurde.

Obgleich es nicht der einzige Inbegriff von menschlichem Leiden in
der heutigen Welt ist, qualifiziert sich Palästina sicher als ein
„würdiger“ Kandidat.

Während sich so viele in der Welt danach sehnen, dem „Frieden eine
Chance zu geben“, so wünscht sich Israel „dem Krieg eine Chance, und
noch eine Chance, und noch eine… zu geben“ (Gibt es denn einen Tag, an
dem Israel nicht über den nächsten Angriff auf Gaza, den Libanon oder
den Iran nachdenkt?).

Israel missachtet wissentlich den weltweit herrschenden Konsens einer
Zweistaatenlösung durch die Enteignung und Einverleibung der letzten
Teile des palästinensischen Landes. Israels jetziger Premierminister ist
ein widerlicher großmäuliger jüdischer Suprematist, während das
israelische Volk „schießt und weint“, „ sich zu Tode liebt und sich
selbst bis-zum-geht-nicht-mehr bemitleidet“ (2) (Gideon Levy, 22.2.15 in
Haaretz). Verstärkt Israels einzigartige Kriegstreiberei,
Unverschämtheit und selbstgerechte Arroganz nicht das Bild des
Konflikts, als ein Kampf zwischen pur Gutem und pur Bösem?

Wenn Palästina die emblematische Angelegenheit unseres Zeitalters
geworden ist, ist es nicht wegen eines „neuen Antisemitismus“, obgleich
sich zweifellos einige Antisemiten in die Reihen seiner Anhänger
eingeschlichen haben. Es ist wegen des Märtyrertum Palästinas und der
Niederträchtigkeit Israels, die beide so unrecht sind.

Noten
[1] Meine verstorbene Mutter war eine Überlebende des Warschauer
Ghettos, des Konzentrationslagers Maidanek und von zwei Lagern für
Zwangsarbeiter. Alle anderen Familienmitglieder wurden ausgerottet.

[2] Gideon Levy, “Yair Lapid, Israel’s New Propaganda Minister,” Haaretz (22. Februar 2015).