General

Tunesien, Januar 2016: ein Volk unter Hausarrest




Rym Ben Fradj ريم بن فرج



Übersetzt von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی



Herausgegeben von 
Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي



Im
Januar 1984* war ich noch nicht geboren. Und in der Schule hat man uns
nichts davon erzählt. Aber glücklicherweise hat uns der „Vater der
Nation“ einen Geschichtsunterricht erteilt, indem er die Tage vom Januar
84 aufleben ließ, an denen Hunderte von Bürgern durch dieselben
Unsicherheitskräfte niedergemetzelt wurden, die seit einer Woche in
allen Ecken des in Vergessenheit geratenen, tiefen Teils des Landes
schießen und mit Knüppeln um sich schlagen. Er hat für seine Ansprache
genau dasselbe Büro gewählt – oder vielleicht hat man es für ihn
ausgesucht – um sich am Freitagabend ans Volk zu wenden, aus welchem
sich damals der „größte Kämpfer“ (Mudschahid Al Akhbar, wie der Despot
Bourguiba offiziell genannt wurde) an seine unruhigen Kinder gewandt
hatte*.
 


Links Habib Bourguiba, rechts Béji Caid Essebsi

Habib Bourguiba ist bereits in Béji Caïd Essghrir (der Kleine)
auferstanden (wie Victor Hugo Napoleon III. „Napoleon den Kleinen“
nannte), indem er versucht hat auch ein wenig vom Charisma seines
verstorbenen Chefs ins Leben zu rufen. Leider ist er unfähig, die
Menschen zu überzeugen. Und was noch schlimmer ist: aufgrund seines
Alters (89 Jahre) ist unser Dinosaurier nicht mehr in der Lage, sich an
die Behauptungen zu erinnern, die er kurz davor von sich gegeben hat.
Das Ergebnis ist eine leere Ansprache, die sich dauernd wiederholt,  und
voller Lügen und interner Parteigeschichten ist, um die sich das arme
Volk, das jeden Abend in den Fernsehstudios von Bullenpolitikern und
Politikerbullen, die sich als seine Retter vom Terrorismus präsentieren,
bedroht wird, gar nicht kümmert. Sie sagen alle, dass sie die Gewalt
bisher nicht nutzen wollten, aber dass sie dazu gezwungen seien, falls
„es“ so weitergeht. „Es“, das ist die Intifada für ARBEIT, GERECHTIGKEIT
UND WÜRDE, die am 17. Januar in Kasserine ihren Anfang genommen hat.

 „Die Polizei spricht jeden Abend um 20 Uhr zu Euch“: ein Pariser Plakat vom Mai 1968 wird für Tunesien wiederverwertet

Zwischen 20 und 5 Uhr wegen der Sperrstunde zum Hausarrest gezwungen,
werden wir somit zum Zappen verdonnert: Man hat die Wahl zwischen
Burhan Bsaies, Mariem Belkadhi und Mohamed Boughalleb, den drei
Chef-Manipulatoren. Sie sind dort, in den Studios, um das Gerede der
eingeladenen Bullen zu unterstützen und zu rechtfertigen. Und hinzu
ziehen sie die berühmte „unsichtbare Hand“ hervor, die die Fäden der
Aufstände zieht, die die Stabilität (?) und den Wohlstand (?) des Landes
bedrohen. Und so werden die Arbeitslosen mit oder ohne Studienabschluss
in diabolische Marionetten und kleine Dämonen verwandelt werden, die
man zertreten muss. Es ist alles so grob, dass man sich fragt, ob sie
auch wirklich so doof sind, um uns auch wirklich für doof zu halten. 

Wir kennen dieses Gerede auswendig, seit der Ben Ali-Ära, während der
ersten Atemzüge der tunesischen Revolution und überall in der Welt,
jedes Mal wenn sich  Menschen gegen die Ungerechtigkeit auflehnen.

Wir sind ein Volk unter Hausarrest: nicht nur darf die Mehrheit
von uns nicht einmal das Land verlassen, aber wir können nicht mal
unsere Häuser verlassen und sind verurteilt, die TV-Propaganda der
Ausgangssperre zu schlucken, und dann noch in unseren Kühlschränken, die
wir nicht gestohlen haben**, nachzusehen, ob es noch etwas zum Essen
gibt.

Wer
plünderte Läden im Januar 2011? Ein kleiner Rückblick für diejenige,
die anfällig für Amnesie sind: ein Bild von Polizisten an der Arbeit
A.d.Ü.
*Im
Januar 1984 beschloss die damalige Regierung, unter Druck der Weltbank,
die Mehl- und Brotpreise zu erhöhen, was zu einem Aufstand führte. Nach
5 Tagen und mehreren Hunderten Toten wurde die Erhöhung wieder
zurückgenommen.

** Die offizielle Propaganda machte ein großes Hallo über einen
Demonstranten, der verhaftet wurde, weil er einen Kühlschrank gestohlen
hätte.