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Reportage in Kasserine, Tunesien: „Niemand kann den Zorn des Hungers stillen“




Henda Chennaoui هندة الشناوي



Übersetzt von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی



Herausgegeben von 
Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي



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Die Revolution der Jugendlichen wird von den Alten konfisziert!“
steht auf einem Blatt Papier, das ein junger Mann schweigend inmitten
Hunderter von Diplomen trägt, die von den Arbeitslosen von Kasserine
hochgehalten werden. Es ist Mittwoch, der 20. Januar 2016, vier Tage nach dem Tode von Ridha Yahyaoui, dem „Märtyrer der Arbeitslosigkeit“.
Fast 1500 Menschen skandieren in den Gärten des Gouvernorats mit einer
Stimme die Parole: „Arbeit, Freiheit und Würde!“ Diese Atmosphäre
erinnert an den Dezember 2010, als die Jugendlichen von Kasserine durch
ihre Entschlossenheit und ihren Mut das Feuer des Aufstandes erneut
entzündeten.

Das Sit-in der jungen
Arbeitslosen von Kasserine geht trotz der Polizeirepression vor dem Sitz
des Gouvernorats weiter. Mittwochmorgen besetzen immer noch Hunderte
junger Leute die Orte. Die 34jährige Wahida Zidi aus Foussana hat ihr
Psychologiestudium an der 9. April-Fakultät in Tunis abgeschlossen. Nach
6 Jahren prekärer Arbeit in einem Call-Center in Tunis ist sie in der
Hoffnung, eine ordentliche Arbeit zu finden, in ihre Heimatstadt
zurückgekehrt. Auf den Treppen des großen Gebäudes, das vom Gouverneur
und den Beamten verlassen wurde, hämmert Wahida:

„Wir geben unsere
Rechte nicht auf! Die Entscheider, die uns mit Versprechen täuschen, die
sie nicht halten! Es reicht! Die Verantwortlichen, die sich taub
stellen! Es reicht! Wir müssen solidarisch und entschlossen hier
bleiben, bis sie hören, was wir zu sagen haben! “



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Während
wir versuchen, unserer Stimme Gehör zu verschaffen, hat sich der
Gouverneur hinter den Streitkräften versteckt, hinter diesen Polizisten
aus Stahl, die eine Mauer der Apartheid aufgebaut haben“,
kommentiert der dreißigjährige Wajdi Khadraoui, ohne Abschluss und seit der Revolution arbeitslos, ironisch.


„Wir werden diese
Mauer zum Einsturz bringen. Wir werden ihre Türen abreißen und die
Schlüssel beschlagnahmen. Unser Kampf richtet sich nicht mehr gegen den
Gouverneur, der für den Tod von Ridha Yahyaoui und unsere Armut
verantwortlich ist, sondern auch gegen die zentrale Regierung, die zur
fortlaufenden Verarmung der marginalisierten Regionen führt“, so Wajdi.


Er weist darauf hin,
dass die positive Diskriminierung gegenüber den benachteiligten
Regionen, die in der neuen Verfassung verankert ist, nicht auf der
Tagesordnung der Regierung steht. „Unser Sit-in betrifft nicht
ausschließlich die Arbeitslosen, sondern die gesamte Region bzw. das
ganze Land! Wir wollen konkrete wirtschaftliche Reformen, eine neue
Entwicklungspolitik und die umgehende Veröffentlichung der
Korruptionsakten
“, erklärt der junge Mann, umgeben von seinen Genossen.

Am Vorabend haben zwei Jugendliche versucht, sich vom Dach des Gouvernorats das Leben zu nehmen. „Wir
waren vollkommen entsetzt und gleichzeitig auch wütend, weil die
Sicherheitskräfte sich gar nicht rührten, um die beiden
Selbstmordgefährdeten zu retten. Gleich danach haben sie uns mit
Tränengas beschossen und mit Knüppeln angegriffen, um uns zu
zerstreuen“,
bezeugt Yamina Ferchichi, 29, mit einem
Gewerbeabschluss aus dem Jahre 2012. Mit anderen fünf Jugendlichen hat
Yamina Dienstagnacht dem Ausgehverbot und der polizeilichen Repression
getrotzt, um das Sit-in fortzusetzen. „Wir lehnen uns gegen die
fünfjährige Abwesenheit des Staates auf. Wir werden hier nicht mehr
weggehen, bevor wir keinen konkreten politischen Willen wahrnehmen, die
Korruption, Vetternwirtschaft und Inkompetenz der regionalen
Verantwortlichen zu beenden“,
setzt Rafik Rezgui, 34, ein Teilnehmer am Sit-in mit Diplom in Französisch, fort.

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Der Sicherheitsdienst improvisiert eine Sitzung inmitten des Sit-ins.

„Wir werden
versuchen, uns zu organisieren, um das Sit-in und das Gebäude zu
sichern. Die Behörden erklären in den Medien, dass wir durch Randalierer
infiltriert sind. Dem ist aber nicht so. Die Demos sind friedlich. Das
Sit-in wird von den Arbeitslosen und ihren Familien organisiert. Und wir
wissen genau, wer hier seit 2011 immer dieselben Randalierer sind,“
erklärt Wajdi.

In der Stadtmitte
besetzen die Einwohner der Märtyrer-Viertel von Ennour und Ezouhour
weiterhin die Straße. Die Jüngsten markieren ihr Territorium durch
verbrannte Reifen und Steine. Es herrscht Spannung. Offensichtlich wird
eine erneute gewalttätige Straßenschlacht erwartet. Die Polizeiwagen
rasen in voller Geschwindigkeit vorbei. Die Menge der Aufständischen
läuft zur Hauptkreuzung des Ennour-Viertels zusammen. „Niemand kann den Zorn des Hungers stillen! Es ist Schluss mit Gehorsam. Wir haben keine Angst vor der Polizei“, erklärt ein Junge des Ennour -Viertels trotzend und fügt hinzu: „Wir schlagen nur die Polizeiangriffe zurück. Denn Ridha Yahyaoui ist nicht vergebens gestorben. Wir springen für ihn ein.“

In einer Entfernung von 300 Kilometern entfachen die betäubenden „Sofortmaßnahmenaus Tunis nur noch den Zorn der in Vergessenheit geratenen Bewohner von Kasserine. „Die
Entlassung des ersten Delegierten reicht nicht aus. Die Treffen
zwischen dem Gouverneur und den lokalen Abgeordneten hinter
verschlossenen Türen bringen gar nichts. Die Geldspritzen und andere
improvisierte Subventionen führen ohne konkrete Reformen und ohne einen
wahren Entwicklungsplan zu nichts. Wir wollen Entscheider, die
nachdenken und nach wahren Lösungen suchen“,
erklärt Sami Mnasri, der schon im Januar 2011 auf die Barrikaden gegangen war. 

Fotos: Rabii Gharsalli, Nawaat
Video: Mohamed Ali Mansali, Nawaat