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Das Leben von Freddie Gray: eine Studie über die Auswirkungen von Bleifarbe auf arme Schwarze

Von Terrence
McCoy
, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V.
BALTIMORE — Das Haus, in dem sich
das Leben von Freddie Gray für immer veränderte, befindet sich auf einer langen
Reihe verlassener Rohbauten in einem der ärmsten Viertel der Stadt. Der innere
Bereich jenes Hauses in der North Carey Street, überhäuft von Sofas und
Topfpflanzen, ist mit einer frischen Anstrichschicht bemalt, die das Wohnzimmer
glimmen lässt.


Wer war Freddie Gray aus Baltimore? Der
Tod des 25jährigen Freddie Gray aus Baltimore führt zu Demonstrationen und
Unruhen in der Stadt. Sehen Sie sich mal die Vergangenheit von Gray an und
gucken Sie sich das Video an, das seine Verhaftung kurz vor seinem Tod zeigt. (The
Washington Post)
Aber es war
nicht immer so. Als Gray zwischen 1992 und 1996 hier wohnte, lösten sich
Farbstücke von den Wänden und verschmutzten den Holzboden. Dies geht aus der
Klageschrift hervor, die 2008 vor das Bezirksgericht von Baltimore City
gebracht wurde. Von den vorderen Fensterbänken lösten sich weiße Farbstreifen.
Im vorderen
Raum war es noch schlimmer. Hier verbrachte Gray die meisten Nächte mit seiner
Mutter, wie er Jahre später in seiner Aussage bestätigte.
„Wo die
Treppen hochgehen, gab es ein großes Loch“, erinnerte sich Gray 2009. „Es gab
einige Wände, die gar nicht bemalt und abgeblättert waren. . . . Und wie von
den Fenstern war die Farbe auch von den Wänden abgeblättert.”
Bevor Freddie
Gray letzten Monat unter Polizeigewahrsam verletzt wurde, dann verstarb und es
überall in der Stadt zu Unruhen kam, war sein Leben von Misserfolgen in der
Schule, Problemen mit der Justiz und von der Unfähigkeit gekennzeichnet, sich
über einen längeren Zeitraum mit einer Sache zu befassen.
Ein Familienfoto von Freddie Gray aus
einer Gerichtsakte einer Klage aus dem Jahre 2008 gegen einen ehemaligen
Vermieter.
Bei Gray und seinen Schwestern wurden
schädliche Bleiwerte im Blut vorgefunden. (Familienfoto aus der Gerichtsakte)
Viele dieser
Probleme begannen, als er noch ein Kind war und in diesem Haus lebte. Dies geht
aus den Akten der von Gray und seinen Geschwistern 2008 gegen den Vermieter
erhobenen Klage hervor. Der Rechtsstreit endete in einem unveröffentlichten
Vergleich.
Die Berichte
über Grays Geschichte mit dem Blei kommen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Stadt
und die Nation immer noch versuchen, sämtliche Verzweigungen der Bleivergiftung
zu verstehen. Rechtsvertreter und Studien zufolge kann die Bleivergiftung die
kognitive Funktion einschränken, das Aggressionspotential erhöhen und
schließlich auch den Kreislauf der Armut verschärfen, der an sich schon schwierig
zu durchbrechen ist.
Nichtsdestotrotz
ist es schwierig festzustellen, ob Grays Probleme ausschließlich auf die
Bleivergiftung zurückzuführen sind oder das Ergebnis anderer sozio-ökonomischer
Faktoren sind. Von Geburt an war sein Leben von einer unlösbaren Armut
gekennzeichnet, deren Überwindung eine wahre Herausforderung darstellte.
Schwierig
ist auch die Festlegung der Gesamtanzahl der Kinder, die eine Bleivergiftung
erlitten haben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die erklärte Bleischwelle,
die der Körper in Sicherheit tolerieren kann, sich in den Jahren dramatisch
verschoben hat, da die Forscher zu einem besseren Verständnis seiner Gefahren
gelangt sind. Vor Jahrzehnten testeten die städtischen Gesundheitsbeamten
Patienten mit Bleilevels von mehr als 20 Mikrogramm pro Deziliter Blut. Nun ist
man der Ansicht, dass jedes Niveau über 5 Mikrogramm die kognitive Entwicklung
eines Kindes beeinträchtigen kann.
„1993 wurde
festgestellt, dass 13.000 Kinder in Baltimore eine Bleivergiftung erlitten
hatten, aber wir hatten das heutige Niveau noch nicht erreicht“, berichtete
Ruth Ann Norton, die Geschäftsführerin der Coalition to End Childhood Lead
Poisoning. „Wären wir damals schon so weit gewesen, hätten wir 30.000 Kinder
mit einer Bleivergiftung aufgefunden.“
Insgesamt
wurden in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als 93.000 Kinder mit einer
Bleivergiftung in die Bleiregister des US-Umweltministeriums eingetragen. Es
handelt sich hierbei um einen Zeitraum, in dem Baltimore und andere Städte die
Anzahl der Häuser mit bleihaltigem Anstrich erheblich reduziert haben.

„Ein Kind,
das eine Bleivergiftung erlitten hat, ist sieben Mal gefährdeter, Schulabbrecher
zu werden und im Jugendstrafsystem zu landen“, so Norton. Sie nannte die
Bleivergiftung das „giftige Erbe“ von Baltimore – eine Tragödie, die sich in der
Stadt immer noch abspielt und, wie sie sagt, immer noch nicht aufgearbeitet
wurde. Jene Kinder, die vor Jahrzehnten vergiftet wurden, sind nun erwachsen.
Und das Trauma, das mit der Bleivergiftung zusammenhängt“, so Norton, „stellt
eine ungemeine Belastung für eine Gemeinschaft dar.“
Die
schwerste Belastung erfahren die ärmsten Gemeinden, wie die des Viertels von Sandtown-Winchester
im westlichen Teil von Baltimore, wo Freddie Gray lebte. Hier wurde der
Großteil der Häuser vor Jahrzehnten gebaut. Zu jener Zeit fügten die
Farbenhersteller Blei als billigen Zusatzstoff hinzu. Die Auswirkung jenes
Bleis, das 1978 vom US-Kongress verboten wurde, war in Grays Viertel sehr
schwerwiegend. Den Statistiken von 2009-2013 zufolge wiesen 3 Prozent der
Kinder unter 6 möglicherweise gefährliche Bleiwerte in deren Blut auf. Dieser
Wert lag zwei Mal höher als im Rest der Stadt.
Die
Bleivergiftung war vor allem für die afro-amerikanischen Gemeinden eine
besonders grausame Plage. „Fast 99,9 Prozent meiner Mandanten waren schwarz“,
meinte Saul E. Kerpelman, ein Anwalt aus Baltimore, der berichtete, er hätte über
Jahrzehnte mehr als 4.000 Klagen wegen Bleivergiftung erhoben. „Das ist eine
bedauerliche Tatsache des Ghettolebens, dass die einzigen Lebensbedingungen,
die die Menschen sich überhaupt leisten können, praktisch ihre Kinder vergiften…
Wenn Sie nur $250 pro Monat haben, dann bekommen Sie eben nur ein
heruntergekommenes, baufälliges Haus, das der Vermieter in der gesamten Zeit,
in der er es besitzt, noch nie kontrolliert hat.“
Die Bewohner
von Sandtown und anderer Armenviertel von Baltimore denken nun darüber nach,
wie verschieden sich ihre Leben wohl gestaltet hätten, wären sie nicht in
diesen Häusern mit Bleianstrich aufgewachsen.
„All diese
Kinder, die in jenen Häusern aufgewachsen sind, leiden unter ADHS,“ berichtete
Rosalyn Brown, indem sie sich auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
bezog.
Brown hat
über Jahrzehnte in Grays Nachbarschaft gewohnt und wohnt nun genau in dem Haus,
in dem er damals gelebt hatte. „Sie leiden unter Gemütsschwankungen und
Angststörungen.“ Genauso ihr Sohn, erzählte sie. Sie zog ihn in einem Haus
voller Farbbruchstücke auf. Er hat sicherlich auch welche verschluckt, so
Brown. Sie fragt sich, ob sie die Klage weiterführen oder nicht doch versuchen
soll, sich einen „Bleischeck“ zu holen.“
Freddie Grays
Weg hin zu diesem Rechtsstreit begann schon einige Monate nach seiner Geburt im
August 1989. Seine Zwillingsschwester Fredericka, und er waren zwei Monate
frühzeitig geboren worden. Ihre Mutter, Gloria Darden, war seit ihrem Alter von
23, wie sie in einer Aussage bestätigte, heroinabhängig. Freddie lebte in den
ersten fünf Monaten seines Lebens im Krankenhaus, bis er endlich ein Gewicht
von fast 2,5 Kilo erreichte.
Kurz danach
wurde er dem ersten von vielen Bluttests unterzogen, wie die Gerichtsakten
belegen. Der Test wurde im Mai 1990 durchgeführt, als die Familie in einem Haus
in der Fulton Avenue im westlichen Teil von Baltimore wohnte. Sogar so klein
enthielt sein Blut mehr als 10 Mikrogramm Blei pro Deziliter – den doppelten Wert,
bei dem das Center for Disease Control einen zusätzlichen Test verlangt. Drei
Monate später enthielt sein Blut fast 30 Mikrogramm Blei. Im Juni 1991, als
Gray 22 Monate alt war, erreichte der Bleiwert in seinem Blut den Wert von 37
Mikrogramm.
„Ein Jammer“,
so Dan Levy, Assistent des Pädiatrieprofessors an der Johns Hopkins
Universität, der die Auswirkungen der Bleivergiftung auf die Jugend
untersuchte, als er von Grays Levels erfuhr. „Die Tatsache, dass Herr Gray diese
hohen Bleilevels schon in seiner frühen Kindheit aufwies, beeinflusste
höchstwahrscheinlich seine Denk- und Selbstregulierungskapazität und beeinträchtigte
auch schwerwiegend seine kognitive Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten.“
Levy fügte
hinzu: „Und die wahre Tragödie besteht darin, dass der Schaden nicht mehr
rückgängig zu machen ist.“
Mit der Zeit
zogen Gray und seine Familie in die Bruchbude in die North Carey Street, die
dann Gegenstand des darauffolgenden Rechtsstreits wurde. Das Bleiniveau in
seinem Körper war gefallen. Aber seine Schwestern und er begannen Probleme zu
haben.
Seine
Schwester Fredericka wurde aggressiv. In einer Aussage von 2009 berichtete
Gray: „Sie hat immer noch solche Probleme, immer noch. Sie war immer die
aggressive von uns. Sie wollte immer streiten u.ä.“
Besorgniserregend
war auch die Schulleistung der Kinder. Den Zwillingen und der älteren Schwester
wurden entweder ADHS oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADS diagnostiziert. Den
Gerichtsakten zufolge war die schulische Laufbahn von Fredericka von „häufigen Ausschlüssen
unterbrochen“.
Auch für
Freddie war es nicht viel besser. Er schloss nie die Oberschule ab und war oft
von der Schule abwesend, weil er schwänzte oder ausgeschlossen wurde. „In allen
Schulen, die ich besuchte, war ich in der Sonderklasse“, meinte Gray. Am Ende
wurde er mehr als ein Dutzend Male wegen des Dealens oder Besitzes von Heroin
oder Marihuana verhaftet. Schließlich verbrachte er zwei Jahre im Gefängnis.
Dort erlernte er das Maurerhandwerk und wollte diesen Beruf ergreifen.
Aber auch
dies stellt für viele ein ehrgeiziges Ziel dar. „Ich weiß nicht viel über das
Maurerhandwerk, weil ich selbst nicht gerade sehr geschickt bin, aber, wie Sie
wissen, habe ich vor, diesen Beruf zu ergreifen?“, berichtete Neil Hoffman, der
Gray im Rahmen der Klage wegen Bleivergiftung befragt hatte. „Nein“.
Die
erschwerenden Rückschläge waren aber für Levy keine Überraschung. Er berichtete
nämlich von zahlreichen Kindern in den Ghettos von Baltimore, die manchmal „Bleikinder“
genannt werden und deren Leben eine ähnliche Entwicklung zeigten.
Dennoch bleibt
die Verbindung zwischen Armut und Bleivergiftung schwierig zu analysieren. War
es die Bleivergiftung, die Gray und seine Familie dazu führte, sich mit einem
Leben als Ausgegrenzte abzufinden oder wären sie trotzdem dort gelandet?
Über jene
Fragen grübelte Brown, die nun in Grays altem Haus wohnt, am Mittwochnachmittag.
Eine Rechtsanwältin sendet ihr wöchentliches Warnschreiben über die Gefahren
der Bleivergiftung und fragt sie und andere Einwohner, ob sie eine
Schadenersatzklage für alle vor Jahren erlittenen Schäden erheben möchten.
„Ich habe das
Bild noch vor mir“, berichtete sie, indem sie sich an die Häuser erinnerte, in
denen sie damals wohnte. „Ich fegte und wischte immer Farbabplatzungen auf. Ich
denke, dass meine Angstzustände darauf zurückzuführen sind. Wir wurden
vergiftet.“