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Pfarrer Stoodt: Ein Kämpfer an der Schnittstelle zwischen Marxismus und Christentum

Von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Anbei ein sehr
wichtiges Interview mit Hans Christoph Stoodt, Pfarrer und
Sprecher der Frankfurter Anti-Nazi-Koordination. Wir haben ihn zum Thema
Religion und Marxismus befragt. Wie für ProMosaik e.V. gilt auch für HC Stoodt
die Maxime des sozio-politischen Handelns als Aufgabe der Religionen. Die
Religionen haben die Aufgabe, sich für eine egalitäre Gesellschaft einzusetzen.
Es geht aber nicht um eine theoretische, sondern um eine reale, radikale
Gleichheit, die in den monotheistischen Religionen sehr stark verwurzelt ist.
HC Stoodt erklärt uns auch, wie der Aufstand gegen das Unrecht in der
Christologie verankert ist.
Milena Rampoldi: Der Kampf für die Gerechtigkeit ist für
ProMosaik e.V. eine Schnittstelle zwischen den monotheistischen Religionen und
dem Marxismus. Wie sehen Sie das?
Hans Christoph Stoodt: Die Schnittstelle besteht darin, dass
die monotheistischen Religionen egalitäre und universalistische Grundtendenzen
aufweisen. Das folgt als praktische Konsequenz aus ihrer Grundannahme eines
einzigen Gottes, der alles geschaffen habe. Aus dieser Annahme folgt nämlich
logisch die  aus dem für alle gleichen
unendlichen Abstand von Schöpfer und 
Geschöpf resultierende  Gleichheit
der Geschöpfe untereinander. Am Anfang galt diese Gleichheitsforderung  für vermutlich eher für die die je eigene
Gruppen. Dann weitete sie sich universalisierend auf alle Menschen aus. Darum
heißt es in Thora des Mose auf Israel bezogen: „Arme soll es bei euch gar nicht
geben“, später wird der Anspruch der Gleichheit aller Geschöpfe in Judentum,
Christentum und, wenn ich es richtig sehe, auch im Islam auf die ganze Welt
ausgeweitet. Die jüdisch-christliche und auch die islamische Theologie
plädieren für eine reale Gleichheit als gesellschaftliches Ziel. Und diese
Gleichheit gilt über die Grenzen der eigenen Gruppe hinaus. Es handelt sich
also nicht um abstrakte Prinzipien, sondern um praktische Handlungsanweisungen.
Nun die Verbindung zum Marxismus: dessen praktischer
Erfahrungsschatz nicht nur aus Theorie und Praxis der Arbeiter*innenbewegung,
sondern auch aller vorangegangenen Unterdrückten weiß:  diese Gleichheit lässt sich nicht
realisieren, solange es Klassengesellschaften gibt. Als Christ empfinde ich den
Marxismus deshalb als ein ein höchst nützliches Erkenntnis- und
Praxis-Werkzeug, das den Weg in eine Gesellschaft weist, in der es keine
Klassen mehr gibt. Dieser Kampf kann und wird nicht im ersten Anlauf gewonnen
werden. Aber auch die bürgerliche Gesellschaft hat mindestens 500 Jahre
gebraucht, um sich als dominante Kraft der Weltgesellschaft zu etablieren, die
sie heute zweifellos noch immer ist.
Wenn ich also einen grundlegenden Imperativ meiner
religiösen Tradition praktisch ernst nehme, dann kämpfe ich für das
gesellschaftliche Ziel realer, und das heißt heute globaler Gleichheit.  Das ist eine wichtige Traditionslinie bis
heute im Christentum. Diese Linie war nicht totzukriegen.  Ich verstehe den Marxismus als das heute
angemessenste Werkzeug, um das uralte Ziel einer klassenlosen,
herrschaftsfreien Gesellschaft praktisch zu erreichen.
Eine erst dann in einem vollen Sinn konsequent zu stellende
Frage ist die nach der Wahrheit religiöser Traditionen auch außerhalb des
gemeinsamen Kampfes um Gleichheit.  Erst
in einer klassenlosen Gesellschaft ohne Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg,
Staat, Patriarchat und Umweltzerstörung kann sie wirklich breit und heiß
diskutiert werden, ohne im ideologischen Klassenkampf verzerrt, für die
Interessen der Herrschenden mißbraucht zu werden.  Hier und heute aber leben wir  in einem Herrschaftsgefüge. Daher müssen wir
für eine herrschaftsfreie Gesellschaft kämpfen – um für denjenigen
herrschaftsfreien Raum zu kämpfen, in dem auch noch die letzten und tiefsten
Fragen konsequent geklärt werden können, ohne für die Herrschaftsinteressen zum
Beispiel von Ausbeutern herhalten zu sollen.
Religionen und Marxismus können und sollen aus meiner Sicht
deshalb ein gesellschaftliches und politisches 
Bündnis gehen, weil es für beide 
als Ziel die Verpflichtung auf unbedingte Gleichheit gibt.

MR: Sie sehen wie wir Zivilcourage als eine religiöse Pflicht an. Was verstehen
Sie darunter?
HCS: „Zivilcourage“ ist ein Begriff, den ich nicht gerne
verwende. Er ist beliebig geworden und verbraucht, in der Regel politisch unscharf.
Heute reklamieren ihn selbst Nazis und Rassisten für sich. Ich sehe den
notwendigen Kampf gegen Ausbeutung, Imperialismus, Rassismus  und Krieg als eine gesellschaftliche Aufgabe
für jeden denkenden und fühlenden Menschen, der nicht zu den wenigen
Profiteuren solch menschenfeindlicher Strukturen des Todes gehört.
Ich würde  statt von
Zivilcourage deshalb lieber von einer umfassenden gesellschaftlichen Arbeit der
Befreiung auf allen Ebenen sprechen. Ich mische mich in gesellschaftlich Kämpfe
ein, um hoffentlich auch mit meinem winzigen Beitrag irgendwann für alle
Gleichheit global zu erreichen. Alle, die leben, sollen eine in allem gleiche
Möglichkeit haben, da sein, und das heißt natürlich auch: verschieden sein  zu dürfen – je gleicher die realen Möglichkeiten
für alle, desto größer das Recht auf Verschiedenheit. Was sie nicht dürfen ist:
Schwestern und Brüder ausbeuten, unterdrücken, durch Strukturen der Ausbeutung
und  solche wie zB. Nationalismus und
Rassismus zu unterdrücken, ihnen das Recht aus Geschwisterlichkeit und
Gleichheit praktisch verweigern.  Alle
sollen das Recht auf Gleichheit und auf Unterschiedlichkeit haben. Dafür zu
kämpfen ist heute das Entscheidende, um unser Überleben zu sichern.
Die einzig denkbare Alternative ist wäre der gemeinsame Untergang, ist das, was
wir heute de facto weithin haben: eine globale Apartheid, in der der
Wohlstandsvorsprung der Reichen, allen voran der Herrschenden in den
imperialistischen Staaten, durch eine Vielzahl juristischer, politischer,
wirtschaftlicher Maßnahmen weiter gesteigert und verewigt werden soll, in
letzter Konsequenz und wenn notwendig auch militärisch geschützt.
Der Kern dieses Wohlstandsvorsprungs für wenige besteht im Wahnsinn der
kapitalistischen Warenproduktion, im Kapitalverhältnis. Es würde zu weit
führen, das jetzt detailliert vorzurechnen, aber als Beispiel mag die gut
belegte Tatsache genügen, daß heute, bei einer globalen
Nahrungsmittelüberproduktion von fast 100% alle 24 Stunden fast doppelt so
viele Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben, wie es zivile und
militärische Opfer an einem durchschnittlichen Tag des Zweiten Weltkriegs gab.
Überproduktion bei gleichzeitiger Unterkonsumtion – das ist ein typisches, ein
systemimmanentes Kennzeichen der kapitalistischen Produktionsweise, gerade in
ihrem heutigen imperialistischen Endstadium. Das kostet Jahr für Jahr über 800
Millionen Menschen das Leben. Und diese Hungertoten sind nur eine von vielen
globalen Opfergruppen der eingangs genannten Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft.

Was wir aber tun müssen, ist eine Gesellschaft zu schaffen, in der Gleichheit
herrscht – was nach allem, was wir heute wissen, nur nach einer sozialistischen
Umwälzung mit der Perspektive des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft, also
des Kommunismus, möglich sein wird.  Das
ist eine moralische und eine gesellschaftlich-praktische Frage. 
MR: Sie setzen sich für Palästina ein. Was bedeutet für Sie
Palästina und wie kann man sich im Ausland dafür einsetzen?
HCS: Palästina ist zunächst ein leider ganz normaler Fall
nationaler und sozialer Unterdrückung. Privilegien einer sich selbst
ethnisch-religiös und national definierenden herrschenden Klasse und ihres
Staats werden in vielfacher Form, in letzter Konsequenz auch militärisch, gegen
die Armen einer wiederum ethnisch, heute zunehmend auch noch religiös
„begründeten“ Unterdrückung geschützt. Das gibt es in vielen Konflikten auf der
Welt, und wer gegen Unterdrückung und Krieg aktiv ist weiß in einem solchen
Fall, auf welcher Seite sie/er in diesem Konflikt einen Platz hat.

Für meine Sprecherpositon als jemand, der aus Deutschland stammt, ist der
Palästina-Israel-Konflikt aber natürlich ein besonderer Fall. Der israelische
Staat und viele Menschen, die dort leben, begründen die Notwendigkeit eines jüdischen,
also eines vorbürgerlich, nämlich ethnisch-religiös begründete Staats, nicht
zuletzt mit dem einzigartigen Verbrechen der Shoah, das der deutsche
Nazifaschismus zu verantworten hat. Das repektiere ich. Ich habe aber auch  nicht zuletzt von israelischen Linken, zB.
der Holocaust-Überlebenden Rechtsanwältin Felicia Langer gelernt: es ist gerade
aufgrund dieser Geschichte, die ja auch eine Geschichte der deutschen Linken
ist, die die Shoah nicht verhindern konnte, unsere Pflicht,  auch im Palästina/Israel-Konflikt eindeutig
auf der Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu stehen.  Das heißt, daß auch dieser – Konflikt nicht
lösbar ist, solange er „ethnisiert“ wird. Es geht im Kern nicht nicht um einen
ethnischen oder gar angeblich religiösen Konflikt, sondern um einen Konflikt
zwischen OBEN und UNTEN.
Wenn ich so argumentiere, kann ich sicher sein, sofort mit dem Vorwurf des
„Antisemitismus“ konfrontiert zu werden: von PEGIDA einschließlich mancher
Nazis, die heute bisweilen Israelflaggen tolerieren, bis hin zum sogenannten
„antideutschen“ Flügel der proimperialistischen „Linken“. Leute, die
behaupten,  die aus egalitärer und
emanzipatorischer Sicht notwendige Kritik der Besatzungspolitik des heutigen
Zionismus sei antisemitisch, verharmlosen den realen mörderischen
Antisemitismus sowohl der historischen Nazis als auch den der heutigen. Zudem
sind das derzeit oft genug genau dieselben Leute, die anscheinend keinerlei
Probleme mit dem gerade heftig um sich greifenden antiislamischen Rassismus
haben – der am schnellsten wachsenden ideologischen Form und brandstiftenden
Praxis der extremen Rechten. In diesem Land hier hat es allein im laufenden
Jahr fast 800 Anschläge auf migrantische, islamische und
Flüchtlingseinrichtungen gegeben. Die wenigsten werden aufgeklärt, häufig
werden sie mit heuchlerisch sogenannter „Islamkritik“ propagiert und
„gerechtfertigt“.

Wir hier sind weder in der Lage noch berufen, von außen den
Palästina/Israel-Konflikt zu lösen. Aber wir haben selbstverständliche sehr
konkrete Aufgaben vor Ort – zum Beispiel 
dafür zu sorgen,  daß deutsche
Regierungen keine  U-Boote nach mehr
Israel verschenken, überhaupt: keine Rüstungsgüter nach dorthin exportieren.


MR: Welche sind die Hauptthemen Ihrer Artikel und Schriften?
HCS: Ich habe mich bisher mit unterschiedlichsten Fragen
beschäftigt. Hauptthemen gibt es nicht. Aber es gab und gibt unterschiedliche
Sektoren theologischer und politischer Arbeit 
in meinem Leben, die mich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich
intensiv beschäftigt haben. Eine lange Phase war die der Arbeit an einer
Religionstheologie aus evangelischer Sicht. Ich habe mich damals vor allem für
den gleichberechtigten Dialog zwischen Kulturen und Religionen interessiert.
Ich glaube allerdings beobachtet zu haben: die Probleme unterschiedlicher
religiöser und kultureller Traditionen im Alltag unserer Gesellschaft hier
werden vielfach von der Basis aus gelöst, ohne daß die von den akademischen
Diskursen überhaupt Notiz nimmt.
Eine zweiter Schwerpunkt war dann in den 1990er Jahren, mich
mit der Organisationsform und Struktur meiner evangelischen Kirche
auseinanderzusetzen. Unsere hiesigen christlichen Kirchen sind nach meiner
Ansicht in vielen Punkten noch immer viel zu introvertiert, zu ängstlich, zu
unparteilich für die Sache der Armen, viel zu wenig offen gegenüber den
drängenden Problemen der Gesellschaft, zu leise, zu wenig klare Kante gegen die
Herrschenden, zu wenig prophetisch. Das hat auch organisationspraktische,
strukturelle Gründe, die nach meiner Überzeugung bis heute nicht beseitigt
sind.
Ein dritter großer Sektor meiner Arbeit besteht in meiner
Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Konflikten und Kämpfen, die es
hierzulande gibt. Das ergibt sich ja schon aus dem, was ich ganz am Anfang zur
Frage der Gleichheit gesagt habe. Für mich ist das keine Welt mit einem
Eigenleben, die nichts mit meiner theologischen Arbeit oder meinem
Religionsunterricht an einer Berufsschule zu tun hätte. Ich bin seit 2001
Sprecher eines antifaschistischen und antirassistischen Aktionsbündnis in
Frankfurt, der Anti-Nazi-Koordination (www.antinazi.wordpress.com), aber
auch im Bereich des Kampfs gegen Krieg und Imperialismus. Wer sich über meine
aktuellen theologischen und sonstigen Überlegungen zu politischen Fragen
informieren möchte, kann das auf meinem Blog (www.wurfbude.wordpress.com) tun –
da gibt es ein Verzeichnis meiner theologischen Veröffentlichungen, dort kann
man aber auch unter anderem meine Texte zur Kritik der „Islamkritik“ finden.
Was mich seit einiger Zeit theologisch immer mehr
interessiert ist der Sachverhalt der Umkehrung als einer Signatur christlicher
Theologie. Schon in der hebräischen Bibel begegnet an mehreren Stellen die
Vorstellung einer in Gott sich selbst in Frage stellenden, umkehrenden „Reue
Gottes“, also einer Wendung Gottes gegen sich selbst, eine Vorstellung, die
regelmäßig mit dem hebräischen Begriff der „rachamim“, des Erbarmens Gottes, konnotiert
ist. Die hebräische Wurzel dieses Begriffs ist verwandt mit jener arabischen
Wurzel, mit der Muslime weltweit Allah täglich als „rachman“, Barmherzigen,
ansprechen. Im Hebräischen ist dieser Begriff zudem mit einem eindeutig
weiblichen Körperteil, der Gebärmutter, „rächäm“, etymologisch engstens
verwandt.  Hier ist also keinesfalls von
einem Gott die Rede, der patriarchal gedacht werden darf. Und: Gottes Erbarmen
wendet sich im Interesse seiner Geschöpfe, seiner Kinder gegen sich selbst,
gegen seinen Zorn auf eine zutiefst scheiternde, antiegaliäre, unfriedliche und
ungeschwisterliche Schöpfung.
Im jüdischen Messianismus, dessen Teil seiner Herkunft nach das Christentum
ist, gilt die Zeit unmittelbar vor der Ankunft des endzeitlichen
Friedensbringers als die der „Wehen des Messias“. Eine radikale Ausprägung
dessen sehe ich im christlichen Bekenntnis zu der Erzählung, daß Gott gleichsam
als Ausdruck dieser „Wehen“, sozusagen vom eigenen Erbarmen, seiner
„rächäm“  genötigt, in einem Bauarbeiter,
dem Galiläer Jeshua, ein Mensch wurde wie wir. In ihm predigte er die alles
traditionell Selbstverständliche in Frage stellende Loslösung aus den
konventionellen Bindungen seiner Gesellschaft: Familie, Seßhaftigkeit,
Berufsarbeit.
Die, denen er begegnete, sahen dadurch plötzlich das, wofür sie zuvor blind
waren, konnten aufrecht, und mussten nicht mehr verkrümmt durchs Leben gehen,
erlebten sich in grenzensprengender Liebe befreit aus moralisierender,
geschlechtlicher, gesellschaftlicher Diskriminierung. 
Damit machte Jeshua sich verdächtig genug. Aber seine Kritik am Ineinander von
Staats-Kult und Kommerz im Tempel von Jerusalem erregte nach dem Bericht der
Evangelisten  endgültig den Zorn der
Herrschenden, der Religionsexperten und das Mißtrauen der römischen  Besatzungsmacht. Das kostete ihn, wie Christen
bekennen: Gott selbst in Jeshua, das Leben.
Folgerichtig angesichts seines Lebensvorgangs wurde er vom Repräsentanten des
Imperiums mit der für aufrührerische Sklaven vorbehaltenen Strafe am Kreuz
öffentlich zu Tode gefoltert. In Jeshua wurde Gott von den Herrschenden
umgebracht.
Damit wäre eigentlich – wir heute könnten resignierend bereits sagen: wieder
einmal – alles zu Ende gewesen. Alles – das heißt nach unserem christlichen
Bekenntnis ja: das Leben Gottes in Jesus, in dem er Fleisch geworden, gekommen
war, um Gesellschaft, Leben, ja den ganzen Kosmos vom Kopf auf die Füße zu
stellen.
Aber es ging eben weiter. Die Umwälzung war nicht endgültig gescheitert auf
ihrem Weg, das Oberste zuunterst und das Unterste zuoberst zu kehren. Das
Auferstehungsbekenntnis ist der Geburtsort des Christentums im Rahmen des
jüdisch-christlichen Messianismus.
Anastasis, dieses griechische Wort für Auferstehung, bedeutete aber in der
politischen Sprache der griechischen Literatur mindestens seit Aristoteles auch
„Aufstand“, den Aufstand der Beherrschten gegen ihre Unterdrücker. Frohe Ostern
– fröhlicher Aufstand!
Wenn man aus christlicher Perspektive die Christologie als Zentrum des
Gottesbegriffes ansieht, dann bewegt sich Gott also in einer riesigen Bewegung
der Umkehrung unwiderruflich von Oben nach Unten, durch den Tod am Kreuz
hindurch, in die Tiefen der Unterwelt und vo dort wieder zu uns. Der, der
danach wieder auf dem Thron sitzt, ist dann natürlich nicht mehr der, der er
vor Fleischwerdung, Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt war. Es jetzt ist der
von den Herrschenden erfolglos zu Tode gefolterte Sklave, der nach dem
siegreichen Aufstand jetzt auf dem Thron Gottes sitzt.  Es kann danach kein Oben und kein Unten mehr
im bisherigen Sinn geben – jedenfalls nicht nach dem Willen Gottes, sondern
allenfalls im Interesse der Herrschenden.
Gott stirbt als Sklave am Kreuz, aber dabei bleibt es nicht. Anastasis,
Auferstehung, konkret: Aufstand – daran denke ich, wenn wir jetzt in der
Adventszeit singen:  „O Heiland, aus der
Erden spring!“ – ein wunderbares Bild für diesen Aufstand Gottes gegen die
Todesstrukturen der Herrschenden.

Ein weiteres Thema, das sich daraus ergibt, ist der Befreiungsbegriff. Das
gerade erwähnte traditionelle Wort „Heiland“, aber auch der Begriff „Erlöser“
und ähnliche Begriffe klingen Menschen von heute völlig unverständlich in den
Ohren. In unserer alltäglichen Welt kommen sie, wenn überhaupt, faktisch nur
als Worte einer religiösen Sondersprache vor, Versatzstücke eines
Paralleluniversums. Sie sind nicht zufällig neutralsiert, entleert,
unverständlich.  In der hebräischen wie
in der griechischen Bibel  haben sie
vielerorts eine sehr konkrete, praktische Bedeutung: zB. die „apolytrosis“, dh.
die Befreiung von Menschen in die Schuldsklaverei dadurch, daß jemand die
ursprünglich von ihnen geschuldete Summe für sie bezahlt. Das ist also
keineswegs ein neutrales, sondern ein durch und durch parteiliches Bild, das
sich klar auf die Seite der Armen, ja von Sklav*innen stellt und ihr Leben aus
der Perspektive der Befreiung, gleichsam von linksunten aus angeht.

Das alles sind denkbar zentrale theologische Themen mit
praktisch-gesellschaftlicher Konsequenz. 
Gott erscheint hier nicht als unangreifbarer, ferner, unverwundbarer,
alles lenkender und kontrollierender patriarchaler Herrscher, sondern als ein
von seinem Innersten, seiner „rächäm“ veranlassten, zutiefst solidarischen
Wesen, das mit seinen Geschöpfen nicht in einem king oder star, sondern in
einem arbeitenden Menschen wird wie wir, erlebt, was wir erleben, und dieses
Erleben radikal in Frage stellt, der folgerichtig als Aufrührer durch das
Imperium mit einer politischen Straftätern vorbehaltenen Strafe hingerichtet
wird – aber der einfach nicht totzukriegen ist, wieder „aus der Erde springt“.
Diesen Gott  können Herodes, Pilatus und
Augustus nicht für sich in Anspruch nehmen, ebensowenig wie die Herrschenden
heute. Eine phantasierte Einheit von Thron/Kapital/Imperium und diesem Gott –
das ist Blasphemie.

Dies alles im Zusammenhang, konkreter, genau begründeter und konsistenter, als
ich das jetzt hier kurz anreißen kann, in einer theologisch verantwortbaren
Weise, aber auch in der ganzen Sprengkraft für die politische Praxis, die sich
daraus ergibt, darzustellen – ich kann nur hoffen, daß mir das irgendwann in
den nächsten Jahren gelingt.

MR: Wie wird Ihr Kampf für die egalitären Ziele der
Menschheit weitergehen? Welche Haupthindernisse finden Sie immer wieder auf
Ihrem Weg und was gibt Ihnen Hoffnung?
HCS: Hoffnung geben mir die Leute, mit denen ich unterwegs
bin.  Ich lerne immer wieder neue
Menschen, Schwestern, Brüder, Genossinnen und Genossen auf diesem Weg
kennen.  Fragend gehen wir voran.
Solange ich kann werde ich versuchen, mich mit meinen Möglichkeiten in die
gesellschaftlichen Kämpfe einzubringen, um den Sprung von der Vorgeschichte der
Menschheit in ihre eigentlich Geschichte näher zu bringen, oder wenigstens die
nächsten Schritte dorthin. Auf diesem Weg sind vernichtende Niederlagen bisher
häufiger als Siege. Aber wenn ich daran denke und mich das herunterzuziehen
will,  summe ich in mir mit,  was die Reste der geschlagenen Bauernheere
nach dem Bauernkrieg von 1525 sangen: „Geschlagen ziehen wir nach Haus – die
Enkel fechten’s besser aus!“ – und hoffe zugleich, daß wir gegen die Interessen
der Herrschenden durchsetzen können, daß unsere Enkel eine lebenswerte Erde
vorfinden, auf der sie in ihren Kämpfen unsere Kämpfe endlich zu Ende führen
können – Kämpfe, Niederlagen, Siege, die im letzten Sinn, wie ich sie verstehe,
immer auch Teil jener Bewegung der großen Umkehrung der Schöpfung, der Welt ,
sind.