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Die NATO-Südstrategie

German Foreign Policy, 9. November 2015.  
 
Die führende
Außenpolitik-Zeitschrift der Bundesrepublik stellt den Nutzen der NATO
zur Debatte. Es sei “unklar”, wozu man das Kriegsbündnis “heute
braucht”, heißt es in der aktuellen Ausgabe des Fachblattes
“Internationale Politik”. So könnten die Staaten Europas und
Nordamerikas ihre “Sicherheits”-Probleme durchaus auch ohne die NATO
lösen. Umgekehrt müsse man einräumen, dass die NATO in den Beziehungen
zu Russland große Schäden verursacht habe. Washington solle die EU
veranlassen, “sich selbst zu verteidigen”, fordert der Autor,
Mitarbeiter eines einflussreichen US-amerikanischen Think-Tanks, mit
Blick auf die EU-Militärpolitik. Während die “Internationale Politik”
Grundsatzfragen stellt, startet die NATO die Debatte um eine neue
“Südstrategie”. Seit Russland seine Marinepräsenz im Mittelmeer ausbaue
und nun auch noch neue Stützpunkte in Syrien errichte, sei das
Mittelmeer “wieder ein umstrittener Raum”, heißt es in NATO-Kreisen. Die
Verlegung von Drohnen nach Sizilien wird angekündigt. Zudem werde man
die Kooperation mit Staaten der Region intensivieren, heißt es:
“Berater” seien bereits in Tunesien, Jordanien und im Irak tätig und
sollten so bald wie möglich auch nach Libyen entsandt werden.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigt für Anfang Dezember die
Fortsetzung der Debatte auf einem Treffen der NATO-Außenminister an.
 
Quelle: nrhz.de; Karikatur von Kostas Koufogiorgos
Unklarer Nutzen
Die Zeitschrift “Internationale Politik”, die von der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird,
stellt in ihrer aktuellen Ausgabe den Nutzen der NATO zur Debatte.
Autor des Beitrags, in dem es heißt, es sei “unklar”, wozu man das
Kriegsbündnis “heute braucht”, ist Justin Logan, Direktor für
Außenpolitikforschung am libertären Washingtoner Cato Institute.
 


Zweifelhafte Popularität
Wie Logan urteilt, “glauben nur die außenpolitischen
Eliten”, dass die NATO “die Sicherheit des Westens” garantiere.[1] Zwar
genieße das Kriegsbündnis “beispiellose Popularität bei den
außenpolitischen Communities ihrer Mitgliedstaaten”. Deren “zustimmende
Rhetorik zur NATO” sei allerdings deutlich übertrieben. So gebe es “nur
wenig Gründe anzunehmen”, dass die USA oder die EU-Staaten “den
internationalen Terrorismus oder andere Probleme, die alle heutigen
Mitglieder gleichermaßen betreffen”, nicht “auch ohne die NATO” angehen
würden. Dass das Kriegsbündnis zumindest “bei der Verbesserung
kollektiver militärischer Fähigkeiten” eine wichtige Rolle spiele, wie
manche behaupteten, lasse sich mit guten Gründen bezweifeln. Als
gesichert könne hingegen gelten, dass die NATO im Verhältnis zu Russland
gravierende Probleme geschaffen habe. In Russland habe die
NATO-Osterweiterung das Bedrohungsgefühl wachsen lassen, weshalb “die
Argumente der russischen Nationalisten Auftrieb” erhalten hätten –
“während Russlands Liberale”, die sich an der Seite des Westens
verorteten, “wie Idioten dastanden”. “Über diesen von der NATO
verursachten Schaden sehen die westlichen Eliten gern hinweg.”


 
Die dritte Kraft
Kritik übt Logan insbesondere an den Vereinigten
Staaten. Washington habe “nie eine europäische
Verteidigungszusammenarbeit” zulassen wollen, erklärt der Cato-Experte:
“Immer wenn diese näher rückte, versuchte die amerikanische Regierung,
die Bemühungen im Keim zu ersticken” – um “die Möglichkeit einer
entstehenden ‘dritten Kraft’ der Westeuropäer, abgekoppelt von den
Vereinigten Staaten”, zu verhindern.[2] Das sei ein Fehler gewesen und
habe dazu geführt, dass Europas NATO-Mitglieder weniger Geld für ihr
Militär ausgäben; heute trügen die USA deshalb “70 Prozent der gesamten
NATO-Militärausgaben, obwohl sie nur etwa 56 Prozent des BIP aller
NATO-Staaten erwirtschaften”. Logan erklärt: “Der Effekt der NATO
besteht letztlich darin, dass die amerikanischen Steuerzahler die
reichen europäischen Wohlfahrtsstaaten subventionieren, indem sie deren
Verteidigung bezahlen.” Washington dürfe nicht länger dazu beitragen,
eine eigenständige EU-Militärpolitik “zu verhindern”, heißt es in dem
Beitrag: “Die Europäer sind in der Lage, sich selbst zu verteidigen,
aber sie werden es nicht tun, bevor Washington sie dazu zwingt.”
 


Grundlegende Verschiebung
Während die “Internationale Politik” den Nutzen der
NATO zur Debatte stellt, startet das westliche Kriegsbündnis die
Diskussion um eine neue “Südstrategie”. Hintergrund ist, dass Russland
seine Militärpräsenz im Mittelmeergebiet deutlich ausweitet. Bereits im
Februar hat Moskau eine Übereinkunft mit Zypern unterzeichnet, die
russischen Kriegsschiffen Zugang zu dessen Häfen eröffnet.[3] Zudem ist
es dabei, seine Mittelmeerflotte aufzurüsten; im Mai hat es im
Mittelmeer gemeinsame Manöver mit chinesischen Kriegsschiffen
durchgeführt. Außerdem müsse man sich nun wohl darauf einstellen, dass
Russland auch in Syrien “auf lange Zeit ein Faktor” sein werde, äußerte
Ende Oktober der stellvertretende NATO-Generalsekretär Alexander
Vershbow mit Blick auf den neuen russischen Luftwaffenstützpunkt in dem
Mittelmeerstaat: Man werde sich “über die weiteren Konsequenzen” der
russischen Militärpräsenz dort Gedanken zu machen haben. In der NATO ist
bereits davon die Rede, das Mittelmeer sei “wieder ein umstrittener
Raum”. Russlands Präsenz könne sich auf die Machtprojektion von
US-Marineschiffen in den Persischen Golf auswirken, heißt es; sie hätte
etwa die Entscheidung der NATO im Jahr 2011, in Libyen militärisch zu
intervenieren, weitaus schwieriger gemacht. Zudem befinde sich nun
plötzlich ganz Europa in Reichweite schiffsbasierter russischer Raketen.
“Das ist wirklich eine grundlegende Verschiebung in der russischen
Stellung, die dauerhaft sein wird”, wird ein Experte des Londoner Royal
United Services Institute zitiert.[4]


 
Kontinuum der Abschreckung
Berichten zufolge denkt die U.S. Navy bereits über die
Ausweitung ihrer Präsenz in Europa nach. So könne man eine größere Zahl
Kriegsschiffe, darunter U-Boote, ins Mittelmeer entsenden, um
“russisches Abenteurertum” abzuschrecken, erklärt US-Admiral John
Richardson. Die NATO plane ein “Kontinuum der Abschreckung” im Süden –
“von der Taktik bis zur Strategie”, erläutert der Deputy Supreme Allied
Commander Europe, Generalleutnant Adrian Bradshaw. So sollten in Kürze
fünf Global Hawk-Drohnen auf Sizilien stationiert werden, um im
Mittelmeer, im Nahen Osten und in Nordafrika dauerhaft
Überwachungskapazitäten zur Verfügung zu haben. Darüber hinaus werde das
Kriegsbündnis seine Militärbeziehungen in die Region ausbauen. Zwar
müsse man auch weiterhin “bereit sein, große Kampfverbände” in die
Region zu entsenden, wird NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
zitiert.[5] Tatsächlich ist in der vergangenen Woche das
NATO-Großmanöver “Trident Juncture” zu Ende gegangen, das in mehreren
Mittelmeer-Anrainerstaaten stattgefunden hat – unter führender
Beteiligung der Bundeswehr (german-foreign-policy.com berichtete [6]).
Doch werde man darüber hinaus “mit Trainings-, Hilfs- und
Beratungsmissionen Partnern helfen, ihre Länder zu stabilisieren”,
kündigt Stoltenberg an. Modell seien die aktuellen NATO-Aktivitäten in
Afghanistan. Schon jetzt hielten sich NATO-Berater im Irak, in Jordanien
sowie in Tunesien auf, um den regionalen Einfluss des Bündnisses zu
stärken. Nach Möglichkeit sollen, erklärt der NATO-Generalsekretär, auch
Berater nach Libyen entsandt werden – german-foreign-policy.com
berichtete [7].
 


Auf der Tagesordnung
Wie Stoltenberg bestätigt, soll auf dem Treffen der
NATO-Außenminister am 1. und 2. Dezember ein erster Bericht zu einer
neuen “Südstrategie” vorgelegt und ausführlich diskutiert werden.[8] Wie
es heißt, könne die “Südstrategie” bereits auf dem NATO-Gipfel am 8./9.
Juli 2016 in Warschau beschlossen werden. Sie würde dann die ebenfalls
gegen Russland gerichtete neue Ostpräsenz des Kriegsbündnisses [9]
ergänzen.
 

[1], [2] Justin Logan: Nordatlantische Allianz. Internationale Politik November/Dezember 2015, 60-65.
[3] Cyprus signs deal to allow Russian navy to use ports. www.bbc.co.uk 26.02.2015.
[4] Sam Jones: Russia’s Syria strategy poses challenge to Nato in Mediterranean. www.ft.com 21.10.2015.
[5] Sam Jones: Nato to reinforce its Mediterranean presence. www.ft.com 04.11.2015.
[6] S. dazu Botschaft an die Weltöffentlichkeit.
[7] S. dazu Gegen Terror und Migration.
[8] Sam Jones: Nato to reinforce its Mediterranean presence. www.ft.com 04.11.2015.
[9] S. dazu Kriegsführung im 21. Jahrhundert (I) und Kriegsführung im 21. Jahrhundert (II).