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Das Überlebenshandbuch für Palästinenser in Israel




Samah Salaime Ighbariyeh سماح سلايمة اغبارية סמאח סלאימה




Übersetzt von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی



Wenn
es für einen Polizisten ausreicht, dass jemand „Terrorist“ schreit, um
Sie umzubringen, ist es das Beste für Sie, den arabischen Klingelton zu
ändern, den Bart zu rasieren und einfach zu Hause zu bleiben. Samah
Salaime bietet ein Überlebenshandbuch in fünf Schritten für
Palästinenser im Heiligen Land.


Ein
Palästinenser reinigt den Tatort, an dem eine Palästinenserin
versuchte, einen Israeli zu erdolchen und dann totgeschossen wurde.
Altstadt von Jerusalem, 7. Oktober 2015. (Foto: Faiz Abu Rmeleh)

Ich wollte einfach genau wissen, wie ich als arabische Frau in diesem
Lande überleben konnte. Vergessen Sie mal einen Staat für alle Bürger,
alle Militanten, alle Juden – wir müssen uns nun an Netanjahus Politik
anpassen und am Leben bleiben.

Natürlich besitzt die/der Durchschnittsaraber(in) keine Waffen. So
gehen sie/ihn auch die neuen Regelungen über die Schusswaffen nicht
wirklich was an. Das einzige entflammbare Material, das Araber nutzen,
ist für das Grillgerät. So würde das nicht funktionieren mit uns, auch
wenn unsere Bürgermeister sagen würden, wir sollten bewaffnet aus dem
Haus gehen.

Was sollen wir dann tun? Ich fragte meine Facebookfreunde nach
Ratschlägen, um ein „Überlebenshandbuch für die Palästinenser im
Heiligen Land“ zu verfassen. Ich habe es in hebräischer Sprache
verfasst, da ich dachte, meine jüdischen Freunde hätten direkte
Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht und könnten mir daher aus eigener
Erfahrung berichten, wie man mit solchen Angelegenheiten umgeht.

Ich war überrascht, als ich rausfand, dass viele meiner arabischen
Freunde meine Anfrage „teilten“ und selbst Angst haben, herumzugehen
oder einen öffentlichen Raum zu betreten. Sie fürchten sich einfach,
jüdischen Provokationen zum Opfer zu fallen. Dies ist vor allem der Fall
nach den Videos von Juden, die auffordern, Araber zu exekutieren, die
in ihre Falle tappen. In Netanya erlebten wir, wie arabische Arbeiter
gelyncht wurden, während in Jerusalem eine Gruppe von Kriminellen nachts
durch die Straßen schlendert, um Araber aufzuspüren. Die fragen Leute
zufällig nach der Uhrzeit. Und wenn jemand dann mit einem  arabischen
Akzent antwortet, ist alles vorbei.

Wer weiß, was uns in einer Zeit, in der der Wahnsinn unstrittig
vorherrscht und jeder eine Waffe bei sich tragen kann und sich so fühlt,
als wäre sein Leben in Gefahr, einfach weil eine arabische Frau in
seiner Nähe ihre Tasche öffnet, noch alles kommen könnte.

http://tlaxcala-int.org/upload/gal_12104.jpg
Am besten ist es, die Klappe zu halten

Ich begann überall in der Welt nach Handbüchern in hebräischer und
englischer Sprache für Juden zu suchen. Schließlich fand ich etwas, was
vielleicht von Nutzen sein konnte, und zwar ein Studentenhandbuch für Juden,
um sie dabei zu unterstützen, sicher auf dem Campus zu überleben.
Dieses Handbuch wurde nach verschiedenen antisemitischen Vorfällen
veröffentlicht. Die US-Amerikaner sind nämlich in ihrem Krieg gegen den
Terror unschlagbar.

Darin muss es doch nützliche Informationen geben, dachte ich mir.
Hier kommt nun dasselbe Handbuch, das ich an die Palästinenser und die
aktuelle Situation in Israel angepasst habe. Ich hoffe, Sie finden
einige Rettungsanker in einer Welt voller Hass und Gewalt:

  1. Wenn Sie etwas sehen, sagen Sie auch etwas: in unserem
    Falle, wenn Sie einen Juden sehen, der ängstlich guckt und Sie
    nicht sicher sind, ob Ihr Hebräisch für die israelische Straße
    ausreicht, ist es vielleicht besser, wenn Sie gar nichts sagen.
    Halten Sie einfach in Gottes Namen die Klappe. Wenn Sie was sagen,
    stiften Sie nur noch Unruhe. Sagen Sie auf keinen Fall etwas wie „Allahu
    Akbar“, Pita mit Za’atar, usw. Beten Sie nicht und antworten Sie
    auch nicht auf einen Anruf. Falls Sie einen arabischen Klingelton
    haben, ändern Sie diesen direkt ab.
Die
Polizei weist bei einem Kontrollpunkt in der Altstadt von Jerusalem am
4. Oktober 2015 einen Mann zurück. (Faiz Abu Rmeleh/Activestills.org)
Die israelische Polizei verbot vielen Palästinensern nach einer
tödlichen Messerstichelei für einige Tage den Zutritt zur Altstadt. 

Falls Ihr Akzent Sie nicht verrät, beginnen Sie ein beruhigendes
Gespräch wie „Was sollen wir mit diesen Arabern bloß tun? Wir müssen sie
zerstören!“ oder „Bibi ist stark, er wird es Ihnen zeigen“. Verwenden
Sie andere gewaltige Ausdrücke gegen Ihr eigenes Volk. Wir werden Ihnen
Ihren Verrat verzeihen, solange Sie dadurch am Leben bleiben.

2. Im Handbuch heißt es, dass „Ihr Erscheinungsbild Sie verrät“ und
Sie Vertrauen und nicht Aufregung rüberbringen müssen. In unserem Falle
ist es vielleicht das Beste, zu versuchen, seine eigene ethnische
Herkunft zu verbergen. Ich weiß, dass dies für Araber und vor allem für
muslimische Frauen eine schwierige Herausforderung darstellt. Für die
Männer unter Ihnen: denken Sie an Ihr äußeres Erscheinungsbild. Kleiden
Sie sich schön, vor allem in bequemer Kleidung und Sportschuhen. Tragen
Sie im Moment keine Keffiyeh und keinen Bart. Gehen Sie auch nicht mit
Gesichtsschleier durch die Straßen. Es sei dann, Sie ziehen sich an wie
ein religiöser Jude. Dann können Sie den Bart auch lassen. Vergessen Sie
aber nicht, den Sabbat einzuhalten. Dies bedeutet, dass Sie am Samstag
auf das Rauchen und alle am Sabbat verbotenen Tätigkeiten verzichten
müssen, um keinen Verdacht zu schöpfen.

Was die Frauen betrifft: wegen der weltweit verbreiteten
Islamfeindlichkeit, habe ich eine Fatwa von Schariagelehrten für Sie
gefunden, die Frauen erlaubt, die Art und Weise zu ändern, auf die sie
ihre Haare bedecken und sich anders zu kleiden, wenn sie sich in
westlichen Ländern an unsicheren Orten befinden. Da sich Israel als ein
aufgeklärtes westliches Land sieht, können Sie dies ruhig tun. Schauen
Sie sich das von den jüdischen Frauen ab, die ihre schönes Kopftuch
anbringen und anstatt der Jilbaab ein langes Kleid tragen. Es ist schön
und verändert Sie nur über einen bestimmten Zeitraum. Das Spiel heißt
Täuschung, und wir beherrschen es gut.

Für nicht religiöse Frauen wie mich ist es einfach: kleiden Sie sich
so normal wie möglich und übertreiben Sie es nicht mit dem Dekolleté.
Vergessen Sie Ihre Rechte an Ihrem Körper und auch an all dem, worüber
die Feministinnen heute sprechen: mit all diesen „starken“ Männern, die
draußen herumlaufen, sehen wir ja, wie das Ganze so enden kann, dass
einer eine Waffe jeglicher Art zieht und es dann zu einer
Gruppenvergewaltigung in einem Parkplatz kommt. Ich überlege gerade, was
man tun kann, um sich selbst zu schützen, denn alles, was Sie
auswählen, könnte in den Sicherheitskameras aussehen wie eine Waffe und
somit zu einer Gefahr werden.

3. Gemäß dem Handbuch ist ein „aktiver Schütze“ eine Person, die eine
Waffe gegen seine Opfer hält. Sie ist aufgeregt, zielt und brüllt.
Studien belegen, dass es ungefähr 10-15 Minuten braucht, bis die
Sicherheitskräfte vor Ort eintreffen. Dies bedeutet, dass Sie diese Zeit
nutzen müssen, um zu überleben („abhauen, sich verstecken, kämpfen“),
bis Hilfe kommt.

Eine palästinensische Frau steht während des letzten Feiertages von Eid
al-Fitr am Sonntag, 19. Juli 2015, bei Sonnenuntergang in Tel Aviv,
Israel, am Mittelmeer. Die israelischen Behörden haben Tausende von
Genehmigungen an Palästinenser erlassen, die im Westjordanland leben, um
Ihnen die Gelegenheit zu bieten, während dieser drei Feiertage am Ende
des Heiligen Fastenmonats Ramadan nach Israel zu kommen. (Foto: Yotam
Ronen/Activestills.org)

Liebe Freunde, hier befinden wir uns in einer Zwickmühle. Erstens
sind die meisten Menschen, außer Ihnen, in einer solchen Situation
allgemein bewaffnet, was bedeutet, dass Sie weder fliehen noch sich
verstecken können. Zweitens: Auch wenn die Polizei kommt, ist es
wahrscheinlich, dass der erste Polizist, der aus seinem Wagen steigt,
auf Sie schießen wird, da ein Jude schreien wird: „Erschießen Sie diesen
Terroristen, diesen Hurensohn, machen Sie ihn kalt!“ Daher dürfen Sie
auf keinen Fall auf die Polizei zählen. Denn diese wird Sie nicht
retten.

Ich glaube, dass Ihre einzige Hoffnung an dieser Stelle darin
besteht, nach der nächsten Sicherheitskamera zu suchen, Ihre Arme zu
erheben und zu schreien „ich bin unschuldig!“ (außer dafür, als Araber
geboren zu sein). Vielleicht wird Sie jemand aus der Menge vor dem
Schuss retten.

Bereiten Sie Papa vor

4. Wenn Sie einen Gewaltangriff überleben, schreiben Sie alles so
detailliert wie möglich auf und geben Sie einen Bericht bei der Polizei
ab, rät das Handbuch an, um den Prozess zu beschleunigen und
Gerechtigkeit für Sie zu erkämpfen.

Diesen Rat übernehme ich auch. Aber ich schlage auch vor, diesen
Bericht an einen guten Anwalt, an Freunde und an die Presse zu
übermitteln, denn Sie müssen davon ausgehen, dass man Ihnen, inmitten
einer traumatisierten Bevölkerung, ein trotziges Verhalten vorwirft, das
nur zu einer unvernünftigen Reaktion führen konnte. Bereiten Sie sich
auf die Möglichkeit vor, mit Vorwürfen gegen Sie konfrontiert zu werden.
Falls dies der Fall sein sollte, müssen Sie sich einfach damit
abfinden, dass Sie mit Ihrer Überzeugung glücklich sind, denn am Ende
haben Sie es überlebt. Denn es gibt in diesem Lande keinen sichereren
Ort als den Knast.

Ein israelischer Polizist bereitet sich darauf vor, während einer
Demo am Nakba-Gedenktag vom 15. Mai 2013 in Jerusalem
Schaumstoffgeschosse abzufeuern. (Haim Schwarczenberg)

5. Gehen Sie nur aus, wenn es absolut notwendig ist. Diese Empfehlung
stand nicht direkt im originalen Handbuch, aber viele Menschen,
worunter auch meine Mutter, schrieben mir dies persönlich: „Geh am
besten nicht aus dem Haus. Das ist besser“. Das stimmt, denn es geht
hier um Leben und Tod. So verlassen Sie nicht das Haus. Bleiben Sie zu
Hause. Auch zu Hause sind Sie nicht sicher, aber es ist trotzdem
vorzuziehen. Protestieren Sie auf Facebook mit „Likes“ und mit so vielen
Kommentaren Sie wünschen – ohne es zu übertreiben. Lassen Sie Ihren
Frust aus, aber lassen Sie sich nicht in Onlinediskussionen verwickeln.
Denn Shin Bet späht sie aus. Und das Ganze könnte in einer Verhaftung
enden.

Den jungen Frauen möchte ich sagen: bereiten Sie Ihre Väter vor, die
sich an nichts beteiligen und nur vor dem Computer sitzen und Sport
gucken. Sagen Sie ihnen, dass man sie vielleicht eines Tages in eine
Polizeistation schleppen würde, da sie die Männer sind, die es
verbrochen haben, ein Mädchen zu zeugen. Hie und da mal macht das die
Polizei, und dies ist auch auf die „kulturelle Sensibilität“ für die
arabische Kultur zurückzuführen, nach der eine Frau ohne die Genehmigung
ihres Ehemannes oder Vaters nicht sprechen oder befragt werden darf.

Wenn es arabische Frauen gibt, die dachten, sie wären ein
wesentlicher Bestandteil ihrer eigenen Nation, der Unterdrückung und des
Rassismus gegen sie, so war dies im Militärregime der 1950er und 1960er
wohl nicht der Fall. Sie sind als arabische Frau immer noch weniger
wert, und die aufgeklärten Kolonialbehörden werden dafür Sorge tragen,
dass Sie Ihr Leben lang in diesem Gefängnis bleiben.

Am Ende des Handbuches steht Folgendes: „Lieber jüdischer Student,
Ihre Erfahrung auf dem Campus ist uns sehr wichtig, wie uns auch die
Verbindung zur jüdischen Gemeinde wichtig ist. Wir möchten darauf
hinweisen, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, um die
Gemeinschaft der Studenten zu schützen. Aber Sie müssen die
Verantwortung für Ihre eigene Sicherheit übernehmen.“

Liebe Freunde, das lässt sich alles schwer zusammenfassen. Die
Palästinenser in Israel haben nicht viele Gemeinden, die sie
unterstützen können. Sie zählen nicht wie die anderen Bürger. Ihre
Erfahrungen und Ihre Gefühle haben hier auch nichts zu suchen. Auch Ihre
Verbindungen zu anderen Gemeinden zählen hier nicht wirklich. Und trotz
allem: Sie sind für Ihre eigene Sicherheit verantwortlich!

Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie das Überlebenshandbuch gelesen haben. Sie können es gerne mit anderen teilen.


http://tlaxcala-int.org/upload/gal_12105.jpg

 Malerei
von Monsieur Cana auf der israelischen Trennungswand nahe dem
Qalandia-Checkpoint, nach Edward Munch “Der Schrei” (Skrik, 1893)