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“Wir brauchen eine nachhaltige Lösung”

von Liva Haensel, Interview mit  Dr.
Katja Hermann, von der Rosa Luxemburg Stiftung in Ramallah, veröffentlicht am 15. Oktober 2015 in Dreiecksbeziehung.net. Dr. Katja Hermann leitet das Büro der Rosa Luxemburg
Stiftung in den Palästinensischen Gebieten. Sie lebt in Jerusalem und
fährt täglich über den Checkpoint zu ihren Kollegen nach Ramallah. Ein Gespräch über Gewalt, politische Führung und was wir Deutschen besser nicht tun sollten

Im August noch friedlich, jetzt wieder Schauplatz von Gewalt: Das
Damaskustor in Jerusalem während des Ramadan. Foto: L. Haensel

m August noch friedlich, jetzt wieder Hotspot: Das Damaskustor in Jerusalem beim Lightfestival 2015. Foto: L. HaenselFrau Hermann, seit etwa 3 Wochen kämpfen Palästinenser und
Israelis offen gegeneinander auf den Straßen in Israel und der Westbank,
täglich werden Menschen schwer verletzt und getötet. Wie konnte es zu
so viel Gewalt kommen?
Die Eskalation kommt alles andere als überraschend, sondern war zu
erwarten. Die tagtägliche Gewalt, der die Palästinenser unter Besatzung
ausgesetzt sind, die zunehmende Brutalität der Siedler, die Kriege gegen
Gaza, die Auseinandersetzungen um die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, die
das Fass letztlich zum Überlaufen gebracht haben. Aufgestaute
Frustrationen, Perspektivlosigkeit, eine schwache Regierung, die im
vergleichsweise illustren Ramallah mehr mit sich selbst als mit den
Interessen der Menschen beschäftigt ist – da war es klar, dass das nicht
länger gut gehen konnte. Die Welt hat sich an den Konflikt gewöhnt und
angesichts des Auseinanderfallens der gesamten arabischen Region spielt
er keine große Rolle mehr. Ganz anders ist das natürlich in den
Palästinensischen Gebieten, in denen sich der enorme Frust jetzt Bahn
bricht – mit messerstechenden Jugendlichen und wütenden Demonstranten.

Wie würden Sie die Stimmung im Moment in Jerusalem beschreiben?  

Dr. Katja Hermann ist Islamwissenschaftlerin und Mediatorin. Sie leitet seit 2012 das Palästina-Büro der Rosa Luxemburg Stiftung in Ramallah. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient sowie als Projekt-Koordinatorin beim Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis in Berlin tätig. Foto: privatDie Stimmung in Jerusalem ist sehr angespannt. Dies gilt vor allem
für den arabischen Teil der Stadt. Dort sind viele Schulen geschlossen
und die Straßen menschenleer. Die Nachrichten von den zahlreichen
Angriffen und Erschießungen, die in den letzten Tagen vor allem über die
sozialen Medien verbreitet wurden, haben Angst, ja beinahe Hysterie
ausgelöst. Dazu kursieren Gerüchte, dass Ost-Jerusalem in den nächsten
Tagen ganz abgeriegelt werden soll. Der Bürgermeister der Stadt hat
Israelis, die einen Waffenschein haben, aufgefordert, diese bei sich zu
tragen, das ist alles andere als deeskalierend. Auf allen Seiten liegen
die Nerven blank, das macht es so gefährlich. In einer solchen Situation
gibt es keinen sicheren Ort und die Menschen bleiben lieber zu Hause.

Schon im Sommer 2014 sprachen viele von der „Dritten Intifada“ – was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Sobald es auf palästinensischer Seite zu Gewalt kommt, wird überall,
auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung, reflexartig von einer
„Dritten Intifada“ gesprochen und darüber diskutiert, ob diese nun schon
angefangen hat oder nicht. Im palästinensischen Kontext bezeichnet der
Begriff „Intifada“ einen mehr oder weniger organisierten Volksaufstand
und davon kann derzeit (noch) keine Rede sein. Die palästinensischen
Jugendlichen, die in diesen Tagen Israelis angreifen, sind nicht
organisiert. Das Gleiche gilt für die Demonstranten an den Sperranlagen
und Checkpoints. Wenn wir aber bedenken, wie unterschiedlich die Erste
und die Zweite Intifada waren, merken wir schnell, dass solch
semantische Diskussionen nicht hilfreich sind und wir uns besser mit den
Hintergründen der Gewalt auseinandersetzen und der Frage nachgehen
sollten, was genau palästinensische Jugendliche bewegt, jetzt mit
Steinen zu werfen und Messer als Waffen einzusetzen.

Wie beurteilen Sie die Messerattacken von palästinensischen Zivilisten gegen israelische Soldaten und Polizisten?
Ich persönlich lehne die Ausübung von Gewalt grundsätzlich ab.
Gleichzeitig halte ich es für wichtig nachzuvollziehen und zu verstehen,
wie es zu dieser Gewalt kommt. Die Messerattacken werden hauptsächlich
von sehr jungen Palästinensern durchgeführt. Sie gehören zu einer
Generation, die nichts anderes kennt als die Besatzung. Diese
Palästinenser sind ungefähr so alt wie der Oslo-Friedensprozess, der
Anfang der 1990er Jahre begann und schon seit Jahren gescheitert ist.
Sie sind aufgewachsen mit dem Versprechen, dass sie in ihrem eigenen
Staat leben werden, in Freiheit, Würde und Sicherheit. Nichts von all
dem ist bis heute passiert. Die junge Generation ist davon am
allermeisten betroffen. Sie greifen zum Messer, weil sie zutiefst
verzweifelt und ohne Hoffnung sind. Weder ihre Eltern und Lehrer noch
ihre politische Führung oder internationale Experten sind in der Lage,
ihnen glaubhaft irgendwelche Perspektiven zu vermitteln. So gefährlich
diese Messerattacken sind, die Reaktion seitens Israel ist aus meiner
Sicht inakzeptabel. Allein in den letzten zwei Wochen sind 25 Angreifer
und mutmaßliche Angreifer erschossen worden, die meisten waren zwischen
17 und 25 Jahren alt. Einige Vorfälle, die gefilmt wurden, zeigen
deutlich, dass von den Angreifern zur Zeit der Erschießung keine akute
Gefahr ausgegangen ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen,
warum keine anderen Möglichkeiten gewählt werden, um diesen Attentätern
beizukommen.

Die Rosa Luxemburg Stiftung arbeitet mit
Partner-Organisationen in Jerusalem, der Westbank und dem Gazastreifen.
Können deren Mitarbeiter derzeit problemlos mit Ihnen arbeiten? Wie
sieht das genau aus?

Angesichts der derzeitigen Situation ist es an den meisten Orten
nicht möglich, ungestört zu arbeiten, das gilt für unsere
Partnerorganisationen, aber auch für mein Team. Die erste
Herausforderung ist, überhaupt zur Arbeit zu kommen, da viele
Checkpoints sowohl im Inneren des Westjordanlandes als auch zwischen dem
Westjordanland und Jerusalem aufgrund von Demonstrationen und
Straßenschlachten geschlossen oder nicht passierbar sind. Der
Gazastreifen ist komplett abgeriegelt. Dazu kommt die permanente Flut
von schlechten Nachrichten, die auf die Kollegen einprasselt und die sie
verarbeiten müssen, was Zeit und Kraft in Anspruch nimmt.
Veranstaltungen werden verschoben, weil die Referenten nicht anreisen
können oder weil es nicht vertretbar ist, in solchen Zeiten, Filme zu
zeigen und Ausstellungen zu eröffnen. Hier herrscht derzeit ein
Angstgefühl darüber, nicht zu wissen, wie sich die Lage nun weiter
entwickelt. Es ist diese permanente Unsicherheit und dazu die
Erinnerungen an die letzte Intifada, die alle lähmt und einen normalen
Arbeitsalltag gerade unmöglich macht.

Mahmoud Abbas hat kürzlich die Osloer Abkommen von 1993 bzw.
1995 aufgekündigt vor den Vereinten Nationen. Was bedeutet das vor dem
Hintergrund der Eskalationen?

Mahmoud Abbas steht mit dem Rücken zur Wand. Er hat jahrelang
politische Verhandlungen mit Israel geführt, selbst dann noch, als die
Mehrheit der Palästinenser und auch der internationalen Beobachter den
Verhandlungsprozess längst für gescheitert erklärt hat. Mahmoud Abbas
hat kaum noch Rückhalt in der palästinensischen Gesellschaft, aber auch
Israel hat seine Bemühungen über all die Jahre nicht goutiert. Ob er
tatsächlich die Osloer Abkommen aufgekündigt hat, wird hierzulande
kontrovers diskutiert. Ich würde eher sagen, dass er gedroht hat, sich
nicht mehr an die Abkommen zu halten, solange Israel das nicht tut. Das
mag spitzfindig sein, lässt ihm aber einen gewissen Spielraum. Auf jeden
Fall war seine Rede ein deutliches Signal, dass seine und die Geduld
der Palästinenser zu Ende ist. Es ist gut möglich, dass seine Worte von
einem Teil der palästinensischen Gesellschaft und insbesondere von der
jungen Generation als eine Aufforderung zur Eskalation verstanden worden
sind. Allerdings hat sich Mahmoud Abbas schnell bemüht, die Lage zu
beruhigen. Dass ihm das bislang nicht gelungen ist, zeigt, dass er
keinen wirklichen Einfluss mehr auf die palästinensische Straße und auf
die Entwicklungen im Land hat. Es zeigt aber auch, dass er bislang nicht
bereit ist, seine eigenen Sicherheitskräfte gegen die Jugendlichen
einzusetzen, um sie von den Checkpoints und Grenzzäunen abzuhalten.

Was muss passieren, damit die Gewaltspirale ein Ende hat?
Die aktuelle Gewaltspirale wird irgendwann ein Ende haben, das kann
in ein paar Tagen oder in einigen Monaten sein. Aber das alleine reicht
nicht. Was gebraucht wird, ist die Erarbeitung einer gerechten und
nachhaltigen Lösung des Konfliktes, umgehend, ansonsten wird es immer
wieder zu neuen Gewalteskalationen kommen. Ein Blick auf den
Gazastreifen zeigt das sehr deutlich: die dortigen Konflikte werden
nicht bearbeitet, sondern mit militärischen Interventionen
niedergebombt, mit verheerenden Auswirkungen für die Zivilbevölkerung.
Eine Folge ist, dass die Abstände zwischen den Kriegen mittlerweile
immer kürzer werden. Ich glaube nicht, dass Israelis und Palästinenser
alleine in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen, sondern dass dies nur
über Vermittlung, über eine Drittpartei gehen kann, über einen fairen
und beidseitig anerkannten Mediator. Das macht wiederum nur Sinn, wenn
man aus Oslo die Lehre zieht, dass Verhandlungen in asymmetrischen
Konflikten nicht ohne klar vereinbarte und nachgehaltene Monitoring- und
Sanktionsmechanismen funktionieren. Der israelisch-palästinensische
Konflikt ist insofern asymmetrisch, dass er von zwei sehr ungleichen
Konfliktparteien gekennzeichnet ist.

Ist die israelische Gesellschaft eine rassistische Gesellschaft?
Das ist eine heikle Frage und ich möchte hier ungern vereinfachen und
eine ganze Gesellschaft über einen Kamm scheren. Ich glaube aber, dass
die Besatzung und auch die strukturelle Diskriminierung der
palästinensischen Minderheit innerhalb Israels von einem politischen
System getragen werden, das in hohem Maße auf Rassismus basiert und dass
der Entmenschlichung der Palästinenser das Wort redet. Das geht so
weit, dass selbst Gewaltanwendungen gegen Palästinenser geduldet werden.
Die radikale Siedlerbewegung setzt diesen Rassismus auf brutalste Weise
um, aber er findet sich auch in der Mitte der Gesellschaft.

Was können wir Deutschen tun, um zu einem Frieden für beide Völker beizutragen?
 Aus der deutschen Geschichte zu lernen, bedeutet
für mich, dass ich versuche, Formen von Entrechtung und Unterdrückung
klar und deutlich zu benennen, auch im israelisch-palästinensischen
Kontext. Ich glaube, dass die Solidarität mit Israel, die in Deutschland
Staatsräson ist, nicht dazu führen darf, die Augen vor dem Unrecht an
den Palästinensern zu verschließen. Damit macht man sich gemein mit dem
menschenverachtenden System von Besatzung und Unterdrückung. Damit ist
keiner Seite geholfen, auch nicht der israelischen.

Sie leben jetzt seit 3 Jahren in Jerusalem und arbeiten in
Ramallah. Wie ertragen Sie persönlich die schier ausweglose
Konfliktsituation?

Momentan nimmt mich die Lage auch persönlich mit, die Sorge um die
Menschen, mit denen ich arbeite und lebe, der mühsame Alltag zwischen
Sicherheitsmeldungen und geschlossenen Checkpoints, die Angst um die
eigenen Kinder, die viel mehr mitbekommen, als wahrscheinlich gut ist.
Was mich aber besonders deprimiert, ist, kein Licht am Ende des Tunnels
zu sehen. Ich erkenne auf keiner Seite politische Visionen, Strategien
oder besondere Ambitionen, um dieser Konfliktsituation ein Ende zu
setzen. Dies gilt auch für die internationale Gemeinschaft:
Hilfszahlungen in Milliardenhöhe wurden investiert und tausende
Projektmaßnahmen umgesetzt, Bücher geschrieben und Analysen erarbeitet,
aber die Besatzung hat all das weitgehend unbeschadet überstanden. Ich
lerne aus der gegenwärtigen Situation, wie brüchig die Lage in den
Palästinensischen Gebieten ist. Der Checkpoint nach Ramallah, der für
internationale Mitarbeiter von NGOs und Botschaften stets geöffnet war
und den ich oft nutze, hat sich über Nacht in eine Kulisse für
Straßenschlachten und den Kampf um Leben und Tod verwandelt.

Vielen Dank für das Gespräch.
Mehr Infos: Rosa Luxemburg Stiftung Ramallah