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Solidarität mit dem Kampf Palästinas für Freiheit und Selbstbestimmung

von Hans Christoph Stoodt, Der Semit, 26. Oktober 2015.

Liebe Kriegsgegner*innen, liebe Friedensfreund*innen, liebe Antifaschist*innen,


wir alle sehen und hören es täglich: die Situation im Israel-Palästina-Konflikt eskaliert.
Die Medien unseres Landes reagieren auf ihre Weise darauf. Wir stehen
hier, um als erstes einmal festzustellen: beim Israel-Palästina-Konflikt
handelt es sich um einen Konflikt zwischen einem Besatzerstaat und den
von ihm Unterdrückten.


Dieser Konflikt ist Jahrzehnte alt. Eine
Zeitlang schien es in der Vergangenheit manchen so, als habe eine
umfassende und gerechte Friedenslösung im Nahostkonflikt eine Chance.
Man muß schon bei Betrachtung des damaligen Prozesses ehrlicherweise
sagen: er hat Palästina fast alles gekostet und
fast nichts gebracht. Wir wissen daher nicht erst seit heute: diese
Zeit ist vorbei. Alles, was einmal mit den Stichworten Oslo-Prozess,
road-map und so weiter diskutiert worden war, ist heute mausetot. 


Die von der Völkergemeinschaft in
riesiger Mehrheit geforderte Zweistaatenlösung ist damit in weite Ferne
gerückt. Sie wurde verunmöglicht durch die Besatzungs- und Kriegspolitik
ausnahmslos aller israelischen Regierungen in den letzten
Jahrzehnten. Diese Regierungen sind zunehmend zum Gefangenen ihrer
eigenen Strategie geworden. Gab es früher den Versuch, mit der
Siedlerbewegung eine Art Hindernis für ein allzu rasches Voranschreiten
auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung zu installieren, zu dulden, zu
ermutigen, so ist es heute umgekehrt. Keine israelische Regierung könnte
es heute wagen, sich mit den Siedlern anzulegen – bei Strafe eines
innerisraelischen Bürgerkriegs. Wie aber sollte ein Staat Palästina mit
600.000 radikalisierten und fanatischen Siedler in seinen Grenzen
existieren können? Das ist einfach unvorstellbar.
 
Hinzu kamen die immer wieder aufflammenden asymmetrischen Kriege
zwischen Israel und dem Südlibanon, Gaza, den Bürgerkriegsunruhen nicht
nur, aber vor allem der ersten und der zweiten Intifada in den Besetzten
Gebieten. Sie sind die Folge nicht etwa der militärisch eher
bedeutungslosen Aktionen palästinensischer Kommandos oder
Einzelpersonen, sondern weit mehr Ausdruck der aussichtslosen Position,
in die sich die israelische Außenpolitik Israels über Jahrzehnte
manövriert hat.


Rückendeckung für Israel auf dem Weg hin
zu dieser heutigen Lage gab und gibt es durch die stärksten Staaten des
Imperialismus, darunter auch dem der Bundesrepublik Deutschland. Diese
Rückendeckung hat viele Seiten: militärische, finanzielle, politische,
ideologische.


Was bedeutet es für uns als AntifaschistInnen, daß der deutsche Staat sich als felsenfesten Verbündeten Israels definiert?


Aus aktuellem Anlass sei hier an
folgendes erinnert: nach 1945 entstand im Westen des besiegten
Nazireichs die BRD mit Persönlichkeiten an führenden Positionen, die in
der Zeit des Nazifaschismus bereits hohe Positionen eingenommen hatten.
Ich nenne nur Namen wie Globke, Oberländer, Schleyer, Kiesinger,
Filbinger und so weiter. Es gab seit 1965 ein in der DDR
veröffentlichtes „Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik[1]
mit Hunderten von Namen führender Funktionsträger der damaligen BRD und
ihren Nazivergangenheiten. Menschen in herausgehobenen Positionen aus
Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei und Militär der BRD
waren darunter. Dieses Buch war in der BRD illegal. Es wurde während der
Frankfurter Buchmesse 1967, wo seine zweite Auflage international
präsentiert werden sollte, polizeilich beschlagnahmt. Es war hierzulande
ein verbotenes Buch. Aus gutem Grund: es entlarvte die Gründungslegende
der jungen BRD, die unter anderem um die Stichworte „Westbindung“ und
„Wiedergutmachung“ kreisten. Der Vorgang seiner Unterdrückung zeigte,
wie schon das KPD-Verbot 1956, daß die eigentliche Staatsräson
Deutschlands der Antikommunismus war.


Die heute aktuelle, den Antikommunismus
als Staaatsräson allerdings keineswegs ablösende Variante dieser
Gründungslegende ist jener bekannte Satz, den Angela Merkel zwar nicht
erfunden, wohl aber zu einem offiziösen politischen Statement von einer
Art Verfassungsrang 2008 vor der Knesseth zum Ausdruck gebracht hat: „Diese
historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines
Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche
Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.
[2]Damit
wird die Sicherheit Israels also als Teil der Staatsräson jenes Staats
angeeignet, in dem wenige Jahre nach 1945 Hans Maria Globke, der
offizielle Mitverfasser und Kommentator der antisemitischen „Nürnberger
Rassegesetze“ von 1935, nicht etwa im Knast, sondern als graue Eminenz
und rechte Hand Konrad Adenauers im Bundeskanzleramt saß, für die
Regierungspartei CDU, deren heutige Vorsitzende Angela Merkel ist. Des
Staats, dessen anderer Staatsräson-Anteil bis heute der Antikommunismus
ist.


Nahtlos dazu paßt, daß der von einer
Mehrheit der wahlberechtigten israelischen Staatsbürger mehrfach ins Amt
gewählte Benjamin Netanjahu vor wenigen Tagen vor dem 37. Zionistischen
Weltkongress behauptete: nicht Hitler sei auf die Idee einer
„Endlösung“ bezüglich der Juden gekommen. Das sei vielmehr im Jahre 1941
ein Palästinenser gewesen, der Mufti von Jerusalem, Hadj Amin
El-Husseini. Der habe nicht gewollt, daß Hitler alle Juden in seinem
Machtbereich „nur“ vertreibe, da er befürchtet habe, sie würden dann alle nach Palästina fliehen. Sondern er habe Hitler den Rat gegeben: „Burn them“.
Schuld an der „final solution“ waren demzufolge nicht die deutschen
Nazifaschisten, sondern die „barbarischen“ Muslime Palästinas.[3]


Abgesehen davon, daß dieser verbrecherische Irrsinn einen tiefen
Einblick in die Geistesverfassung Netanjahus und seiner Zuhörer gewährt,
abgesehen davon, daß Netanahu dies alles nicht allein erfunden hat,
sondern Ansichten wiedergibt, wie man sie auch im Wissenschaftsdiskurs
Israels immer wieder antrifft (s.u. Anm. 4): es ist offenkundig, daß
Netanjahu damit das Andenken von sechs Millionen Opfern der Sho’ah,
sechs Millionen Opfern des deutschen Nazifaschismus, bedenkenlos seinem
Kalkül eines nahtlosen Schulterschlusses mit dem Imperialismus,
ausdrücklich besonders auch des deutschen, opfert, um die sich
gegenwärtig zuspitzende Krise zu bewältigen. Ein weiteres Kalkül dürfte
auch das Schließen der rechten, neozionistischen[4]
Wagenburg durch das Ausschließen des „äußeren Feindes“ Palästina sein,
der gegen jede historische Wahrheit mit dem singulären Verbrechen der
Sho’ah belastet und damit symbolisch gleichsam aus der Menschheit
ausgestoßen werden soll. Und hier hat seine neueste Interpretation
natürlich eine besonders hohe Anschlussrationalität mit der oben
skizzierten Gründungslegende der BRD und ihrer aktuellen
Staatsräson-Variante. Beide stimmen geschichtsrevisionistisch darin
überein, heute den Mantel rücksichtsvollen Relativierens über die Täter
der Sho’ah zu breiten, wobei es Netanjahu überlassen blieb, die schrille
Behauptung aufzustellen: nicht das deutsche Monoplkapital, nicht der
deutsche Faschismus, nicht Hitler, Himmler, Heydrich, Eichmann – der
Mufti war‘s!
 
Eine sich nahtlos in dieses Szenario einfügende Fußnote zu dieser
Vereinigung der Nachfahren von TäterInnen und Opfern zu Lasten der
historischen Realität und zu Lasten Palästinas sind jene sogenannten
“Antideutschen” und ihre aktuellen postantideutschen Ausläufer, die bis
heute reflexartig „den Mufti“ als Beleg für das Verdikt des Tragens der
Kuffiye bis hin zur völligen Entsolidarisierung mit den Kämpfen des
palästinensischen Volks um Selbstbestimmung bemühen. Bezeichnend, daß
der Antikommunismus, also der zweite Hauptanteil der “deutschen
Staatsräson”, im “antideutschen” Bewußtsein ebenfalls eine entscheidende
Rolle spielt.


Als Antifaschist*innen sind wir
verpflichtet, den Entlastungsbehauptungen der deutschen wie der
israelischen Regierung und ihrer Nachbeter in diesem Zusammenhang
entgegenzutreten. Das ist ein Grund, weshalb wir als AntifaschistInnen
an dieser Kundgebung teilnehmen. Jeder Antifaschismus muß sich gegen den
Mißbrauch wenden, mit dem sich Herrschende, ihre „antideutschen“
Anhängsel und andere immer wieder scheinbar “antifaschistischer”
Argumente bedienen, um ihre Kriege, ihre Unterdrückungsapparate, ihre
rassistischen Ausfälle, oder ihre öffentliche Parteinahme dafür zu
rechtfertigen, egal ob sie Benjamin Netanjahu, Joschka Fischer, Rudolf
Scharping, oder, wie jüngst an diesem Ort hier, Heidi Mund heißen, deren
antiislamische, migrant*innen- und flüchtlingsfeindliche Haßpredigten
dadurch gegen den berechtigten Vorwurf des Rassismus immunisiert werden
sollten, daß sie neben der Deutschlandflagge stets eine Flagge Israels
trug. Einer der Teilnehmer ihrer Kundgebungen war des öfteren der
hessische NPD-Landesvorsitzende, ein anderer ein Israeli, Avituv Rotem,
der in einem Redebeitrag, direkt neben dem NPD-Funktionär stehend,
antifaschistische GegendemonstrantInnen beschimpfte, sich als stolzen
Israeli bezeichnete und die Anwesenden dazu aufrief, ihrerseits stolze
Deutsche zu sein. Beide, den knackerechten israelischen Redner wie den
NPD-Neonazi, schien das für den Moment überhaupt nicht zu stören:
gemeinsam gegen “den Islam”!


Die Logik der Besatzung ist: sie bindet
Besatzer und Unterdrückte unauflöslich als Feinde aneinander. Bertolt
Brecht hat das im Bild von der hölzernen Badebürste dargestellt: jemand,
der versucht, in der Wanne sitzend eine hölzerne Badebürste unter
Wasser zu halten, muß die Bewegungsfreiheit seiner Hand dafür geben, sie
unter Wasser zu halten. Sobald er sie losläßt kommt das Holz von selber
wieder an die Oberfläche.
Wer andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein. Obwohl also das
Ende der Besatzung eigentlich im Interesse beider Seiten liegt, hat auch
im Palästina-Israel-Konflikt die Seite der Unterdrückten das
dringendere, heftigere, überlebensnotwendige Motiv zu ihrer Überwindung.
Das sehen bekanntlich auch nicht wenige jüdische Israelis so –
schlimmstenfalls werden sie dann ebenso unterdrückt. Denn die
Unterdrückten sind nicht ethnisch oder gar religiös definierbar. Es geht
nicht um “Juden” gegen “Muslime” (jW, 24.10.2015).
Unvergessen bleibt für uns, die wir jetzt hier stehen, mit welchen
Methoden jüdische Israelis noch im vergangenen Jahr in Israel attackiert
wurden, weil sie sich öffentlich gegen den erneuten Gazakrieg
aussprachen.


Wer das Ende der Feindschaft, der Kriege
im Nahen Osten will, muß darum für das Ende der Besatzung kämpfen,
offen dafür eintreten. Für uns hier in der BRD heißt das, den falschen
propagandistischen Behauptungen entgegen zu treten, die von den
Herrschenden, weiten Teilen der Medien über diesen Konflikt verbreitet
werden. Das heißt ebenso, das sofortige Ende deutscher Waffenlieferungen
an Israel und an die reaktionären arabischen Regime wie das von Katar
sowie an die Türkei zu fordern.


Für die, die auch im Umfeld unserer
heutigen Kundgebung als erstes von uns fordern, uns von Gewalt zu
distanzieren – womit sie in aller Regel einseitig die Gegengewalt
kämpfender PalästinenserInnen meinen – haben wir eine Botschaft: niemand
hat das Recht, aus der Sicht der Besatzer und ihrer Freunde oder aus
der bequemen Perspektive scheinbar Unbeteiligter den Unterdrückten
vorzuschreiben, mit welchen Mitteln sie sich gegen Unterdrückung und
Besatzung zur Wehr setzen. Wenn uns heute gesagt wird, wir sollten uns,
wenn wir unsere Solidarität mit Palästina zum Ausdruck bringen, zuerst
einmal von den aktuellen verzweifelten Gewaltaktionen palästinensischer
Jugendlicher distanzieren, dann sagen wir: wenn Ihr einen Angriff mit
einem Messer „Terror“ nennt, was ist dann das Bombardieren von Gaza, das
Durchpflügen ganzer Stadtviertel mit Merkava-Panzern, ja sogar das
Drohen mit dem Einsatz von Nuklarwaffen, wofür die Regierung der BRD dem
Staat Israel gerade U-Boote als schwimmende Abschußrampen geschenkt
hat?


Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den
Völkern, Staaten oder Religionen, sondern zwischen oben und unten. Wir
stehen heute und hier genau richtig: für die Solidarität aller
Unterdrückten untereinander, für internationale Solidarität, für die
Solidarität mit Palästina!


Anmerkungen:

[1]
Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland /
Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hg.),
Braunbuch Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik. Staat,
Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft; Berlin/DDR 1965;
Internetveröffentlichung der dritten Auflage:https://web.archive.org/web/20101119233343/http://braunbuch.de/index.shtml.


[2] Vgl. dazu aktuell einen Artikel der regierungsfinazierten Bundeszentrale für Politische Bildung, Januar 2015



[4]
Vgl. zu den historischen Zusammenhängen aus heutiger Sicht sowie
zusammenfasssend und differenzierend zur Unterscheidung von Zionismus,
Postzionismus und Neozionismus Gilbert Achcar, Der nützliche Großmufti
von Jerusalem, in Le Monde Diplomatique, 14.5.2010 (PDF: Gilbert Achcar, Der nützliche Großmufti von Jerusalem).


Rede anläßlich einer Palästina-Kundgebung am 24. Oktober 2015 vor der Hauptwache in Frankfurt. Zuerst erschienen hier.