General

Selbst Gandhi würde verstehen, warum Palästinenser zur Gewalt greifen

von Gideon Levy, übersetzt von Doris Pumphrey, Tlaxcala, 16. Oktober 2015.



Das
Unrecht kann noch viele Jahre weitergehen. Warum? Weil Israel stärker
ist als je zuvor und der Westen es wie einen tollwütigen Hund gewähren
lässt.
Durch den Dunst von Selbstgerechtigkeit, Medienpropaganda, Hetze,
Ablenkung, Gehirnwäsche und Opferrolle der letzten Tage, dringt die
einfache Frage mit voller Kraft wieder nach oben: Wer hat Recht?



Israel hat kein begründetes Argument mehr in seinem Arsenal, das ein
anständiger Mensch akzeptieren könnte. Selbst Mahatma Gandhi würde
verstehen warum Palästinenser zur Gewalt greifen. Selbst jene, die vor
Gewalt zurückschrecken, die sie für unmoralisch und zwecklos halten,
werden verstehen müssen, warum sie hin und wieder ausbricht. Die Frage
ist doch, warum bricht sie nicht viel öfter aus.

Von der Frage, wer damit begann, bis zur Frage, wer daran schuld ist,
wird der Finger zu Recht immer auf Israel zeigen – und nur auf Israel.
Nicht dass die Palästinenser ohne Schuld wären, aber Israel trägt die
Hauptschuld. Solange Israel sich dieser Schuld nicht entledigt, hat es
keine Grundlage irgendetwas von den Palästinensern zu fordern. Alles
andere ist verlogene Propaganda.

Die langjährige palästinensische Aktivistin Hanan Ashrawi schrieb vor kurzem: “Die
Palästinenser sind das einzige Volk auf Erden, das die Sicherheit der
Besatzer garantiert, während Israel das einzige Land ist, das Schutz
vor seinen Opfern fordert.”
Und wie können wir darauf antworten?

Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas fragte in einem Haaretz Interview: “Welche
Reaktion erwarten Sie denn von der palästinensischen Straße auf die
Verbrennung des Teenagers Mohammed Abu Khdeir*, das Abfackeln des Hauses
der Familie Dawabsheh*, die Aggressionen der Siedler und die
Beschädigung von Eigentum unter den Augen der Soldaten?”
Und was antworten wir darauf?

Zu den 100 Jahren der Enteignung und den 50 Jahren der Unterdrückung
müssen die letzten Jahre hinzugezählt werden, Jahre geprägt von
unerträglicher israelischer Arroganz, die jetzt wieder auf uns
zurückschlägt.

Es waren Jahre, in denen Israel dachte, es könne alles tun ohne einen
Preis dafür zu zahlen. Israel dachte, sein Verteidigungsminister könne
sich damit brüsten, dass er die Mörder der Dawabshehs kenne, sie aber
nicht verhafte – und die Palästinenser würden sich zurückhalten. Es
dachte, Soldaten könnten fast jede Woche einen kleinen Jungen oder
Teenager umbringen – und die Palästinenser würden stillhalten.

Es dachte, militärische und politische Führer könnten diese
Verbrechen stützen und niemand würde strafrechtlich verfolgt werden. Es
dachte, Häuser könnten abgerissen und Hirten vertrieben werden – und
die Palästinenser würden es demütig hinnehmen. Es dachte, der
Siedlermob könnte Schäden anrichten, Brände legen, und so tun als
gehöre ihm das Eigentum der Palästinenser – und die Palästinenser
würden es gebeugten Hauptes ertragen.

Israel dachte, seine Soldaten könnten jede Nacht palästinensische
Häuser stürmen und die Bewohner terrorisieren, demütigen und verhaften.
Es dachte, Hunderte könnten ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden;
der Shin Bet Sicherheitsdienst könnte Verdächtigte wieder mit Methoden
foltern, die direkt aus der Hölle kommen; Hungerstreikende und
befreite Gefangene oft grundlos wieder verhaften.

Israel dachte, es könnte alle zwei oder drei Jahre Gaza zerstören –
und Gaza würde sich ergeben und die Westbank ruhig bleiben; die
israelische Öffentlichkeit würde im besten Fall jubelnd applaudieren, im
schlimmsten noch mehr palästinensisches Blut fordern, mit einer Gier,
die schwer zu verstehen ist – und die Palästinenser würden ihnen
vergeben.

Dies könnte noch viele Jahre so weitergehen. Warum? Weil Israel
stärker ist als je zuvor, der Westen teilnahmslos zusieht und Israel wie
nie zuvor wie einen tollwütigen Hund gewähren lässt. Währenddessen
sind die Palästinenser schwach, entzweit, isoliert und bluten wie nie
zuvor seit der Nakba.

Dies könnte so weitergehen, weil Israel es kann – und die Leute es so
wollen. Niemand wird versuchen dies aufzuhalten, niemand außer der
internationalen öffentlichen Meinung, die Israel als ‘Hass auf Juden’
abtut.

Und wir haben kein Wort gesagt über die Besatzung selbst und die
Unfähigkeit sie zu beenden. Wir sind müde. Kein Wort über das Unrecht
von 1948, das damals hätte beendet werden müssen, um nicht mit noch mehr
Gewalt 1967 fortgesetzt zu werden –ohne ein Ende in Sicht. Kein Wort
zum Völkerrecht, zum Naturrecht und zur Moral, die all dem widerspricht.

Das ist der Hintergrund – wenn junge Leute Siedler töten, Brandbomben
auf Soldaten werfen und Steine auf Israelis. Man braucht schon ein
hohes Maß an Abgestumpftheit, Ignoranz, Nationalismus und Arroganz –
oder alles gleichzeitig – um dies zu ignorieren.